FORVM, No. 148-149
April
1966

Die realistische Täuschung

Zehn Jahre ist es her, daß Erich Heller, damals noch Professor für deutsche Literatur in England, zuletzt im FORVM publizierte („Beim Aphorismus genommen. Ein imaginärer Dialog über Karl Kraus“, Heft III/30). Inzwischen ging Erich Heller nach Amerika; er unterrichtet derzeit an der Northwestern University in Evanston (Illinois) und veröffentlicht nach wie vor seine Essays in deutscher und englischer Sprache. Auch der nachstehende Aufsatz ist eine Übersetzung des Autors und entstammt seiner bei Random House, New York, erschienenen Essay-Sammlung „The Artist’s Journey into the Interior“. Die deutsche Ausgabe wird bei Suhrkamp, Frankfurt, unter dem Titel „Die Reise der Kunst ins Innere und andere Essays“ erscheinen.

Für Dante war der Kosmos der Göttlichen Komödie die wahrhaft wirkliche Welt. Cervantes wollte mit dem Don Quijote seine Leser, deren Sinn von den Ritterphantasmagorien ihrer Romanschreiber verwirrt war, wieder zur Vernunft der Wirklichkeit bringen. In den literarischen Debatten des deutschen achtzehnten Jahrhunderts wurde dem erwachenden poetischen Talent der Nation Shakespeare als höchstes Beispiel von realistischer Einsicht und natürlicher Spontaneität vorgehalten, Tugenden, welche die hochtrabenden Künstlichkeiten der französischen Klassik zuschanden machen sollten. Ein wenig später aber waren es gerade Cervantes und Shakespeare, diese „Realisten“, auf die sich die ersten deutschen Romantiker beriefen, als sie sich verschworen, die Befreiung der Imagination ins Werk zu setzen. Sie fanden in diesen zwei Dichtern die Quintessenz des Romantischen.

Goethe pries an Homer den Sinn fürs Wahre, Natürliche und Wirkliche. Ortega y Gasset tadelte an Goethe, daß er sich allzu gut darauf verstand, seiner wahren Wirklichkeit auszuweichen. Nietzsche war voll des Lobes für Goethe, weil er „inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters ein überzeugter Realist“ war.

Vieles ließe sich dieser Liste hinzufügen, nichts aber, was die Verworrenheit, die kaum krauser sein könnte, zu lösen imstande wäre. Ein Index aber der unterschiedlichen Verwendungen, welche die Kunst- und Literaturbetrachtung für das Wort „realistisch“ hat, würde die Annahme, daß zum Beispiel Balzacs Romane mehr „Wirklichkeit“ enthalten als Homers Epen, als zeitgebunden und ungewiß erweisen. Denn die wirre Menschengeschichte ist vornehmlich die Geschichte von miteinander im Streit liegenden Deutungen der Welt, die alle nach ihrer „Verwirklichung“ drängen, und das Ausmaß der Konfusion wird unendlich, wenn wir dazu auch noch die Geschichte der Literatur in Betracht ziehen. Schon auf dem vermeintlichen Festland der Erfahrung ist unser Begriff von der Wirklichkeit schwankend genug; wie muß ihm erst auf der hohen See der Imagination werden! Mit dem Maßstab des „Realen“ werden wir, so scheint es, wenig ausrichten, wenn wir ihn an die Dichtung anlegen, die, da sie doch stets schöner oder auch nicht so schöner Schein ist, der Wirklichkeit des Wirklichen entbehrt.

Oder ist dem am Ende nicht so? Oder ist es überhaupt sinnvoll, so von Wirklichkeit und Kunst zu reden? Und wenn nicht, sind wir dann gezwungen, alles, was jahrhundertelang Philosophie und Ästhetik über diese Frage sagen zu können glaubten, in den Wind zu schlagen, weil es ja doch nichts anderes beweist, als daß die Menschen ihr unmäßiges Verlangen nach „Sinn“ um jeden Preis zu befriedigen suchen, und sei es auch, indem sie Unsinn reden? Plato blieb offenbar von solchen Zweifeln unbehelligt. Für ihn war die Welt, die unseren Sinnen erscheint und die wir aus schlechter Gewohnheit für die „wirkliche“ halten, unwirklich genug. Sie war bloß eine in allem und jedem unvollkommene Nachahmung der vollkommenen Wirklichkeit, die den Ideen innewohnt: und indem die Werke der Dichter nur jene mangelhafte Nachahmung nachahmten, waren sie zweifach vom wahrhaft Wirklichen entfernt. Daher gebrach es der dichterischen Betätigung an geistiger Würde und sittlichem Ernst, und also täte das ideale Staatswesen gut daran, den betörenden Einflüsterungen der Poesie kein Gehör zu schenken und den Poeten kein Bürgerrecht.

Zwar begegnete Aristoteles dieser Aburteilung mit seiner Theorie von der sittlich reinigenden Wirkung der Tragödie; aber erst sehr viel später geschah es, daß einer für Kunst und Dichtung einen höheren Grad von „eigentlicher“ Realität in Anspruch nahm, als die sogenannte wirkliche Welt besaß. Diese überraschende Erhebung in den metaphysischen Adelsstand, die zu keiner anderen Zeit auf das Einverständnis des Geistes hätte hoffen können, widerfuhr den Erzeugnissen der menschlichen Phantasie im neunzehnten Jahrhundert. Schopenhauer war es, der Platos Verdammung der Dichtung in deren Apotheose verwandelte, und zwar erstaunlicherweise unter Berufung auf die Platonische Ideenlehre selbst. Das Zeitalter jedoch empfand dies keineswegs als einen philosophischen Willkürakt. Im Gegenteil, Schopenhauer vollzog in seinem Denken nur, was die Künstler und die Liebhaber der Künste mit stets wachsender Gewißheit als wahr empfanden: daß das Kunstwerk innigere Beziehungen zur Wahrheit unterhielt als die Welt, wie sie dem künstlerisch uneingeweihten Menschensinn erschien. Denn obgleich Plato recht hatte, die Welt, wie sie sich der gewöhnlichen Erfahrung darstellt, als ein primitives Bilderbuch der wahren Wirklichkeit zu betrachten — ein Bilderbuch zudem, das, wie Schopenhauer meinte, auf jeder Seite verunstaltet war von den groben Kritzeleien der von ihrem Eigenwillen hinters Licht geführten Kreatur —, so war Plato doch blind dafür, daß dem Werk des Künstlers, insofern es aus der begnadeten und reinen, aller Willenszwecke ledigen Anschauung floß, das authentische Siegel der Ideen aufgeprägt war, und also der Wahrheit, und also der allerhöchsten Realität. Und das Erzeugnis der Kunst war um so größer und wahrer, je energischer es die billigen Verhüllungen und den eitlen Aufputz der Erscheinungen von sich wies, je weniger es sich von den Launen und Kaprizen des Willens stören ließ in seinem lauteren Umgang mit dem wahrhaft Wahren und wirklich Wirklichen. Mit anderen und doppelsinnigen Worten: das Kunstwerk kommt dem wirklichen Leben um so näher, je mehr es sich vom „wirklichen Leben“ in der Richtung auf das Ideenreich entfernt. Ein witziger Maler drückte einmal auf seine Art diese Schopenhauer’sche Auffassung der Kunst aus, als der reiche Bankier, den er gemalt hatte, von der Visage auf der Leinwand gekränkt meinte, sie sehe ihm nicht im geringsten ähnlich. „Sie sieht Ihnen ähnlicher als Sie sich selbst“, sagte der Maler.

Schopenhauers Philosophie der Kunst ist eine ästhetische Gnosis, eine säkularisierte Apokalypse: die Welt hat keinen Wert; nur was die Kunst schafft, ist gut. Das Leben ist kein Leben; was lebt, ist des Künstlers Werk. Musik ist Wirklichkeit, und die Poesie gibt wieder, was der auserwählte Mensch sah, dem es gelang, der Höhle zu entkommen und einen Augenblick im hellen Licht der ewigen Ideen zu stehen. Kein Wunder, daß solch eine prekäre Heilslehre zuerst mit einiger Ironie gepredigt wurde. Ehe noch Schopenhauer die Szene betrat, hatten die deutschen Romantiker ihre ironische Kirche gegründet. Auch sie schon wollten an die Poesie als die höchste Wirklichkeit glauben, doch gelang es ihnen nicht ganz, sich taub zu stellen gegen die Geräusche der im absoluten Sinn unwirklichen, aber leider so aufdringlich gegenwärtigen wirklichen Welt. Das Ergebnis war Ironie, die Sprechweise der zwiespältigen Treulosigkeit, welche dem romantischen Verhalten gegen die Poesie sowohl wie gegen die Wirklichkeit eignete. Diese frühen Romantiker pflegten die Ironie als die Mystik ihres schillernden Weder-noch-Glaubens. Wie alle Mystik scheint die romantische Ironie unsagbar abgründig, aber zum Unterschied von der Mystik der Gläubigen ist sie oft flach und geschwätzig. Denn der ironische Romantiker starrt mit dem Auge der Poesie auf die Welt und mit dem Auge der Welt auf die Poesie; und diesem Schielblick wird bald die Poesie und bald die Welt zu nichts.

Erheitert und doch auch wieder gequält von diesem Blindekuhspiel, das sie zwischen Wirklichkeit und Dichtung anstifteten, erfand einer von ihnen den Begriff der Universalpoesie. Es ist ein außerordentlicher Gedanke; und wie es außerordentlichen Gedanken manchmal zu ergehen pflegt, gedeiht er niemals zu voller Klarheit, sondern brütet nur angelegentlich über sich selbst oder sendet aphoristische Signale aus. Was diese zu verkünden scheinen, ist der Anbruch eines absoluten poetischen Imperialismus: die Poesie soll die Welt erobern, die Welt soll zu Poesie werden. Was immer das menschliche Gemeinwesen betreibt, sei es Religion, Politik oder Wissenschaft, muß nun vom poetischen Geist durchdrungen werden, seinem dramatischen Zugriff oder seinem leisen Einsickern gefügig sein, und zuletzt sich in ein Werk der Kunst verwandeln. Denn alles, was die Poesie zu tun versuchte, solange sie nur Poesie war, ist bereits getan. Jetzt sehnt sich die unendliche poetische Sehnsucht nach der Welt. Sie wird sich selbst die Treue halten und bleiben, was sie war: Poesie. Dennoch aber wird sie Wissenschaft sein, Psychologie, Politik, Erkenntnis und Macht; und Wissenschaft, Psychologie, Politik, Erkenntnis und Macht werden sein wie die Poesie. Die Welt wird der Leib der Dichtung sein, und die Dichtung der Geist der Welt. Das Heil der Welt sowohl wie der Dichtung liegt in dieser neuen Inkarnation. — Wahnsinn? Nun, dann hat er eben — freilich mit einer höchst „ironischen“ Akzentverschiebung — seine methodische Form in der Philosophie des jenes Zeitalters beherrschenden Philosophen gefunden: bei Hegel. Und die seine war gewiß eine Philosophie, die sehr wirkliche Folgen hatte.

Ja doch, Hegel war ein Romantiker. Er schrieb die systematische Theologie der neuen Inkarnation, auch wenn er das, was sich da „verwirklichte“, nicht gerade Poesie nannte, sondern Geist. Ja, er brüskierte seine romantischen Mitbürger und Mitbeflissenen sogar aufs schlimmste, indem er von der Kunst wie von einer Botschaft des absoluten Geistes sprach, deren Personal längst abberufen war; und die bevorstehende Selbstverwirklichung des Weltgeistes würde überwältigend klar machen, daß es mit der Kunst zu Ende sei. Dann werden alle sehen, daß längst schon das dichterische Vermögen nichts war als ein atavistisches Überbleibsel aus der Epoche des noch unvollkommenen Bewußtseins, als die Menschen sich noch auf die Phantasie verlassen mußten, um eines Schimmers von Wahrheit habhaft zu werden, und auf in zitternder Ehrfurcht erschaute Symbole, auf daß diese zwischen der menschlichen Unwissenheit und dem wirklich Seienden ein wenig vermittelten. Was aber sollte das alles jetzt, da doch der Weltgeist sich anschickte, einer endlich erleuchteten Menschheit zu gestatten, die Erhellung des Mysteriums zu feiern? Das ist das letzte Kapitel in der Geschichte der romantischen Ironie: wie Hegel da alles romantische Philosophieren abschließt und mit diesem Exzeß von „Vernunft“ übersteigt, nicht ohne die Imperialisten der Poesie — man lese seine begeisterte Polemik gegen Friedrich Schlegel — der künstlerischen und intellektuellen Unverantwortlichkeit zu zeihen. Trotzdem besteht eine engere Verwandtschaft zwischen Hegels universellem Weltgeist und der romantischen Universalpoesie, als die berüchtigte Feindschaft zwischen „Vernunft“ und „Imagination“ zuzulassen scheint. Denn sowohl bei den frühen Romantikern wie bei Hegel ist es der menschliche Geist, der seinen totalen Anspruch auf die Welt erhebt, einen Anspruch, in welchem Revolution und Eschatologie sich aufs beunruhigendste vermengen. Die ganze Welt soll Imagination und Poesie werden, sagen die Romantiker; und Hegel sagt: die ganze Welt soll Vernunft sein. Jedoch haben die Poesie, welche die Romantiker meinen, und das rationale Bewußtsein, nach welchem Hegel der Sinn steht, vieles gemeinsam: vor allem das ehrgeizige Trachten des Menschengeistes, Herr zu werden über die Wirklichkeit, ja deren Platz zu usurpieren. Diese geistige Situation spiegelt sich in den zwei Realismen, welche seit damals die europäische Literatur beherrschten.

Die zwei Realismen: der eine ist, wie es sich von selbst versteht, der Realismus des Romans im neunzehnten Jahrhundert, der ja auch von allen Leitfäden der Literaturgeschichte „realistisch“ genannt wird. Hat er es aber auf die Darstellung der menschlichen Realität abgesehen, so teilt er diese Absicht mit allen großen Dichtungen aller Zeiten. Das Wort „Realismus“ verrät nur den wissenschaftlichen Aberglauben einer Epoche, die sich damit schmeichelte, den Schlüssel zur „Wirklichkeit“ zu besitzen. In Wirklichkeit aber ergeht es dem realistischen Schriftsteller nicht anders als irgendeinem anderen Dichter irgendeiner anderen Zeit: er ist von gewissen Aspekten der Realität fasziniert und muß sich, ob er nun will oder nicht, dem Diktat seiner Faszination unterwerfen, indem er den ausgewählten Stoff, den diese ihm gebieterisch in die Hände und in den Geist spielt, zu ästhetisch befriedigender Form ordnet. Denn der menschliche Geist, der seiner Natur nach alles wissen will, bemächtigt sich zu seinem Leidwesen doch stets nur einer Erkenntnis, indem er auf zahllose andere verzichtet; und wie groß auch unser Verlangen nach Wissen sein mag, so zahlen wir doch immer für die vermeintliche Klarheit unseres Verständnisses in einer Sphäre mit der Dumpfheit unserer Sensibilität in hundert anderen. „Der Realismus in der Kunst“, sagte Nietzsche, „ist eine Täuschung“, indem er sich an die „realistischen“ Schriftsteller seiner Zeit wandte: „Jede gute Kunst hat gewähnt, realistisch zu sein!“ Und indem er die jeweilige künstlerische Vision einem besonderen Glücksempfinden gleichsetzte, fragte er: „Was gibt denn der sogenannte Realismus der jetzigen Künstler über das Glück unserer Zeit zu verstehen?“ Und antwortete, daß man wohl glauben müsse, „das jetzige, uns eigene Glück liege ... nicht also in der Realität, sondern im Wissen um die Realität“. „So sehr hat die Wirkung der Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, daß die Künstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen ‚Seligkeiten‘ an sich geworden sind!“

Dies bezeichnet mit großer Genauigkeit die vornehmlichste Eigenschaft des literarischen Realismus im neunzehnten Jahrhundert. Denn die „realistische“ Manier der großen realistischen Romane ist keineswegs neu. Von Petronius bis ins englische achtzehnte Jahrhundert ließen es sich sehr viele Schriftsteller angelegen sein, das Leben so zu zeigen, wie es von Leuten im unheroischen und undramatischen Flachland der Welt gelebt, genossen und verspielt wird. Neu ist nur die ganz besondere Leidenschaft, von der die Bücher, die Stendhal, Balzac, Flaubert, Dostojewskij und Tolstoj schrieben, heimgesucht sind. Es ist die Leidenschaft des Verstehens, das Verlangen nach rationaler Besitzergreifung der beobachteten Welt, der Drang der Vernunft, das Geheimnis zu enteignen. Wie unsäglich langweilig wären doch Balzacs Beschreibungen, wären sie nicht durchglüht von dem Eifer eines Geistes, der die also beschriebenen Dinge seiner Macht gefügig zu machen begehrt; wie vulgär wären Stendhals melodramatische Erfindungen, hätten sie es bloß darauf abgesehen, die Gefühle mächtig zu bewegen, ohne sie zugleich der Aufsicht einer ironisch-analytischen Intelligenz zu unterstellen, deren scharfes Auge ihnen auf den Grund sieht. Und Dostojewskijs Genie ist aufs engste dem Geist des Detektivromans verwandt, nur daß freilich das Licht, bei dem der Dichter fahndet, zugleich das Feuer ist, das ihn verzehrt. Auch ist es kein Zufall, daß Tolstoj, der gewiß kein Hegelianer war, wiederholt beteuerte: die Vernunft, sie ist das Gute, fast als wäre er Hegel selbst. Und die scheinbare Ruhe und Ausgeglichenheit von Tolstojs Prosa ist dennoch belebt vom Enthusiasmus des rationalen Begreifens, und auch vor seiner Bekehrung schon beschienen von dem dunklen Glanz des Gesichts, dem sich die Eitelkeit aller menschlichen Dinge offenbart hat. Es mag wohl sein, daß diese Vision sich mit Notwendigkeit einstellt, sobald die totale Erforschung des Menschen durch den Menschen an ihr Ziel gelangt. Denn der „realistische“ Sinn für die Realität, der so viele Geister des neunzehnten Jahrhunderts beherrschte, war von solcher Art, daß er sie nur deshalb zur rationalen Eroberung der Menschenwelt anzuhalten schien, um ihnen die Sinnlosigkeit des Daseins zu demonstrieren. Daher kommt es, daß die dominante Stimmung der realistischen Literatur pessimistisch ist, bestenfalls jener pessimistische Humor, der eine ihrer freundlichsten Gaben ist, und in schlimmen Fällen Ekel und Ennui. In ihrem Pessimismus sah Nietzsche das sichere Zeichen dafür, daß ein nihilistisches Zeitalter angebrochen war. Es scheint, daß die großen Romanciers des neunzehnten Jahrhunderts ihm das Material für das erste Kapitel seines Buches über den europäischen Nihilismus geliefert hätten, des Buches, das zu schreiben er beabsichtigte und niemals schrieb. Darin hätte er, wie eine postume Notiz anzunehmen gestattet, zu zeigen versucht, wie sich „zwischen 1830 und 1850 ... der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts“ verwandelt hat. Nach Nietzsches fragmentarischen Beobachtungen zu schließen, wäre für ihn vor allem Flaubert der große „Verwandler“ gewesen; und Flauberts Werk bezeichnet denn auch den Ort, wo der Strom der Romantik sich mit dem Strom des Realismus vereinigt.

Flaubert bringt die Verschwörung des Realismus unverhohlen an den Tag. Die „Realität“ zu beschreiben, widerzuspiegeln, oder künstlerisch darzustellen? Mag sein; aber dies ist nur die unschuldige Miene, welche der „realistische“ Dichter aufsetzt. In seinem Herzen lebt der Haß gegen die Wirklichkeit und die Gier, sie zu überwältigen. Ja, sogar die „Realität“ der Person, die schreibt, wird bloß als ein sinnloses Hindernis empfunden, das dem endgültigen Triumph von Vernunft und Kunst im Wege steht. Wenn es nur gelänge, das Ich ganz aufs Sehen, Verstehen und Schreiben zu reduzieren; wenn sich der Gegenstand nur ganz in Worte auflösen ließe! Realität? Nein, Einsicht und Stil müßten diese zunichte machen! Immer wieder war Flaubert verstört von dem ungehörigen Widerstand, welchen die Wirklichkeit diesem Unterfangen entgegensetzte, obgleich es auch eine Zeit gab, da er dem bescheideneren Glauben anhing, es käme alles nur auf die rationale Durchdringung der realen Welt an. „Die zwei Musen der modernen Epoche“, sagte er dann, „sind Geschichte und Wissenschaft“, und ließ sich realistisch von ihnen inspirieren. Dies war der Fall, ehe er seine Sentimentale Erziehung schrieb. Als er aber den Roman beendet hatte, tat er ihn — in einer Laune, die derjenigen Tolstojs nach seiner Bekehrung nicht unähnlich war — als „ein Konglomerat von Analysen und mediokrem Klatsch“ ab; „denn das Schöne“, fügte er hinzu, „ist mit dem modernen Leben nicht vereinbar, und das war das letzte Mal, daß ich mich mit diesem einließ. Ich habe genug davon!“ Das Fleisch der Realität war doch zu fest, als daß es sich von der ästhetischen Glut schmelzen ließ. Selbst der reinste Stil vermochte es nicht, den „Realismus“ vor der Ansteckung zu bewahren, die er sich im Umgang mit der korrupten Wirklichkeit zuzog; und sogar die raffiniertesten Künste des Stilisten gewährten keine Sicherheit gegen die Verachtung — die Selbstverachtung? —, mit der Flaubert zuletzt seine „Helden“ Bouvard und Pecuchet bedachte, da sie mit pedantischem Ordnungssinn gegen das Chaos der „wirklichen“ Welt zu Felde ziehen. Vielleicht wäre der unbefleckte Sieg über die Realität nur zu erringen, wenn sich der Wunsch erfüllen ließe, den Flaubert einmal äußerte: nämlich „ein Buch zu schreiben, das von überhaupt nichts handelte, ein Buch, das nicht die geringste Beziehung zur äußeren Welt hätte und ganz und gar nur durch die innere Kraft seines Stils zusammengehalten würde“.

Damit aber wäre es mit dem Realismus zu Ende, zumindest mit dem einen Realismus, der in der Literaturgeschichte diesen Namen führt. Jedoch deutet Flaubert da auf den anderen Realismus hin, der sich der Strategie sowohl von Hegels „absoluter Kunst“ wie auch von Schlegels „Universalpoesie“ bedienen sollte. Dieser andere „Realismus“ unterhält gewiß keine Beziehung mehr zur äußeren Welt und lebt ganz aus dem Inneren der Kunst. Er hatte seinen Anfang in der Romantik, führte über Baudelaire, Mallarmé und Rimbaud zu Valéry, und gipfelte in Rilkes Duineser Elegien und Sonetten an Orpheus. Immer geringer wurde die Wirklichkeit des Außen, und zuletzt gab es nichts Wirkliches als die Welt der menschlichen Innerlichkeit. Sie nahm sichtbare Gestalt an in der reinen Unbedingtheit des Gedichts: „Gesang ist Dasein“. Hamlets Seele hatte endlich den faulen Staat überwunden. Was im Inneren ist, ist nicht mehr über jeden Schein. Es ist mit Augen zu sehen und mit Ohren zu hören, und ist ein Werk der Kunst. Die schöpferische Phantasie ist das einzige Reale. Die Welt ist tot. Der Rest ist Poesie, oder auch eine neue Art von poetischer Prosa, die Prosa von Ulysses, Finnegan’s Wake oder dem Tod des Vergil.

Weder die Wirklichkeit noch die Literatur, weder die Welt noch das Wort hat sich bisher von dieser höchst sonderbaren Anstrengung erholt. Denn nichts erschöpft den Geist mehr als das Bemühen, Illusionen als wahr zu erweisen. Nach diesen extremen Leistungen der Kunst ziemt es uns, in unseren ästhetischen Erwartungen realistisch bescheiden zu sein. Die Ökonomie des Lebens kann sich nicht auf immer die teure Haushaltung von so vielen Schöpfern leisten, die bestrebt sind, die Schöpfung selber zu übertrumpfen.

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