FORVM, No. 129
September
1964

Die Revolution geht vielleicht weiter

Ich möchte dem Leser zwei Antworten auf Ihre Frage vorlegen und ihm dann bei seinen Überlegungen assistieren. „Was ist von Freud geblieben?“ — meine erste Antwort ist: die Freud-Relique, der Freud-Nachlaß. Er ist leicht zugänglich und ein williger Zeuge, der Beachtung verdient; er kann zwar dem Gutachter oder Richter des Freud-Jahrhunderts nichts Neues sagen, aber manches vom Alten ins Gedächtnis zurückbringen und so den Freud-Mythos verstehen helfen.

Meine zweite Antwort wäre: geblieben ist die Psychoanalyse als offensichtlicher Einfluß auf das Fühlen und Denken auch noch der Gegenwart; die Psychoanalyse als gesellschaftliche Institution, als Wissenschaft von der Seele sowie von Entwicklung und Aufbau der menschlichen Persönlichkeit; ein Ferment in der Entwicklung unseres Wissens vom Menschen und seinen Gruppenbildungen — ein Ferment, das noch kein Zeichen der Erschöpfung zeigt.

Suche nach dem Maß

Oder habe ich Ihre Frage gar nicht verstanden? Was ist mit ihr eigentlich gemeint? Ich kann nicht glauben, daß man erwartet, die Teilnehmer an dieser Umfrage sollten als Interessenten an einer Verlassenschaftsabhandlung fungieren. Wo finde ich das Maß, das messen kann, was von Freud geblieben ist? Wer hat das Maß geeicht, so daß sich niemand betrogen fühlt, wenn es zum Messen kommt? Wie soll man Überbleibsel messen? Nach Millimetern, nach Lichtjahren?

Ihre Frage ist doch rhetorisch gemeint! Ich weiß das, aber denkt auch Ihr Leser so? Wenn ja, warum dann die Frage in dieser Form?

In Sachen Psychoanalyse stelle ich mir Ihren Leser interessiert und wißbegierig vor, aber wohl auch reserviert, überlegen oder — der unwandelbaren psychischen Dynamik unterworfen — abwehrend, vielleicht sogar phobisch. Es fällt mir schwer, mich in eine Lage zu versetzen, in der ich den Leser mit Freud versöhnen und zugleich Freud ein gerechtes und informiertes Angedenken bewahren soll.

Ich suche nach einer Erklärung, kann sie aber nicht finden; sie soll zwei Tatsachen zu einer verschmelzen, nämlich: daß Freud seit fünfundzwanzig Jahren tot ist und daß er doch schon zu Lebzeiten Unsterblichkeit erlangt hat.

Wenn man die Frage „Was ist von Freud geblieben?“ beantworten will, so weiß man natürlich, daß die Antwort des Augenzeugen wie des Historikers zeitgebunden, begrenzt, unwissenschaftlich sein muß. Man kann nur zur Nachdenklichkeit anregen, man muß die vielen Lücken im Wissen stillschweigend hinnehmen; aber dann muß man sich eben fragen: Ist dies die Haltung, die der Leser von mir erwartet?

Man kann auch nur dann an Antworten denken, wenn man sich der persönlichen Teilnehmerschaft an der Freud-Revolution zumindest zeitweilig entzogen hat, sich aus der Erdbebenzone, die Freud verursacht hat (und die natürlich auch von Plünderern heimgesucht wird) entfernen, sich in Sicherheit bringen konnte und sich nun vor den Nachbeben geschützt fühlt. Man muß sich eine Freud-Immunität einreden, wenn man über Freud und nicht mit Freud über Psychoanalyse sprechen will; eine Immunität, die aber zu zerrinnen droht, wenn man am nächsten Morgen seinen Träumen (vorausgesetzt daß man sich ihrer erinnert) etwas Aufmerksamkeit schenkt.

Anderseits dürfen wir die Distanz zu Freud nicht zu groß werden lassen oder uns zu ernsthaft gegen ihn stellen; denn wer weiß, wann die Gene in uns zu wirken beginnen und nicht bloß durch harmlose Träume, sondern durch eine kleine oder gar große seelische Erkrankung uns von Freuds Dasein überzeugen. Möge der wenig informierte Leser davor geschützt sein oder es nicht merken, wenn es dazu käme.

Was immer wir vom Seelenleben wissen, die Zukunft wird uns sicherlich neue Gewißheiten bringen, und dann werden wir Freud der neuen Wahrheit näher finden, als wir es von ihm erwartet haben: denn er hat zu uns ja nicht so sehr vom „homo sapiens“ als — wie Ludwig Binswanger es gesagt hat — vom „homo naturalis“ gesprochen.

„Was ist von Freud geblieben?“ Vielleicht meinen wir damit nur die Reliquien, die uns an ihn erinnern. Benötigen wir sie als Symbole seiner vergangenen Existenz, als wahnhafte Repräsentation seines Fortlebens für die wenigen, die ihn gekannt haben, und die vielen, die ihn so gerne gekannt hätten?

Reliquie und Ferment

Es ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme, daß ein Mann der Wissenschaft und der Literatur ein so starkes Verlangen nach persönlicher Bekanntschaft, nach greifbarer, beruhigender und doch furchterregender Nähe zurückläßt. Ist denn das Maß dessen, was von Freud geblieben ist, die attische Vase, die seine Asche in Golders Green Crematorium bewahrt? Ist es die blaue Gedenkplaquette des London County Council an der letzten Wohnstätte Freuds? Die Büste im Arkadenhof der Wiener Universität — bedauerlicherweise noch immer nicht die des Bildhauers Nemo, für den Freud noch in Wien gesessen ist? Oder die Gedenktafel am Haus Berggasse 19? Sind es die käuflichen Reliquien: die Schmutzer-Radierung, die unzähligen Photoportraits, die in den Universitäten, Kliniken, Bibliotheken hängen? Haben nicht sehr viele von den Zehntausenden Nachdrucken seines literarischen Erbes Reliquienwert angenommen? Wer hat nicht wenigstens ein Bändchen Freud neben seinem Marx, Einstein, Sartre, Jung oder Eysenck eingezwängt in seinem Bücherkasten? Dazu kommt dann die Ernest Jones’sche Freud-Biographie (und die an Beliebtheit gewinnende Lionel-Trilling-Ausgabe dieser Biographie, die frei von „Metapsychologie“ ist, ohne merkbar das Mitwissen zu verringern). Sind nicht die aufschlußreichen und gewinnenden Briefe, die Freuds Sohn Ernst herausgibt, hier zu nennen? Und die durch eine gewaltige Korrespondenz sehr zahlreichen Briefmanuskripte, welche die Sammler anziehen und in Auktionen hohe Preise erzielen?

Ich muß nun zur zweiten Antwort zurückkommen und vom Freud der Gegenwart, von seinem Einfluß auf das Fühlen und Denken unserer Zeit sprechen, vom Freud der Intellektuellen, der Künstler und Denker, der Kranken und der Psychoanalytiker.

Kommunikation mit Freud, ich meine natürlich mit Hilfe seiner Schriften, führt früher oder später zur Selbstbespiegelung. Es kommt zur Wendung ins eigene Selbst. Daraus entwickelt sich Einsicht und das, was man aus Einsicht machen kann. Dies führt aber auch zur Abwendung vom eigenen Selbst, zu Widerstand, Flucht, Verneinung, wo nicht zu Affektausbrüchen. Ich bitte den Leser zu beachten, daß ich von Kommunikation mit Freud spreche, nicht etwa davon, man müsse ihm glauben oder von ihm überzeugt werden.

Wenn wir auf dem Umweg über die Künstler, Dramatiker, Schriftsteller mit Freud kommunizieren, sind wir geduldiger und nehmen die angebotene Selbstbespiegelung leichter; und das ist oft ein Vorteil. Ein Gleiches gilt von jenem Denken und Schrifttum, welches die „angewandte Freud-Psychologie“ zum Inhalt hat. Und wo liest man nicht „angewandte Freud-Psychologie“, wenn vom Menschen die Rede ist? Sogar das „Journal of Pastoral Psychology“ ist voll davon.

Vieles, was von Freud ins Fühlen und Denken — durch Enthemmung, Umformung und Neu-Erwerbung — eingegangen ist, mag transitorisch sein, der Verdrängung und dem Nachdrängen unterworfen; es mag in der faßbaren Freud-Tradition, dauernd oder vorübergehend, nicht mehr oder nicht mehr leicht vorfindbar sein. Vielleicht sind wir gerade jetzt Zeugen eines solchen Saturierungsphänomens? Vielleicht ist die Frage „Was ist von Freud geblieben?“ eine Frage der Besorgnis? Dann verstehen wir uns gut, aber wir brauchen deshalb nicht schwarzzusehen. Wir alle können an diesem Phänomen lernen. Man denke auch an die malignen Reaktionsbildungen, die von den Anfängen der Psychoanalyse bekannt sind; aber ich möchte hier nicht darauf eingehen. [*]

Schmerz als Antrieb

Ich weiß, daß ich bisher noch nicht ausdrücken konnte, was über die „Freud’schen Institutionen“ zu sagen wäre. Zwei Freud’sche Entdeckungen (nicht nur Annahmen oder Hypothesen) sind für die Psychoanalyse als Institution axiomatisch, nämlich: daß es ein Unbewußtes gibt, welches unter günstigen Bedingungen (erklärbar durch die Ich-Psychologie) vom Bewußtsein her erreichbar ist; und daß das „Triebleben“ erotische sowie aggressive Ziele hat. Es ist wohl unnötig, beizufügen, daß es auch andere wissenschaftliche Ausgangspunkte für Annäherungen an das Seelische gibt; alle Wissenschaften vom Menschen müssen irgendwann und irgendwo konvergieren.

Das Unbewußte und seine Leistungen sind Freuds Entdeckung. Künstler und Denker sind Freud vorangegangen und werden ihm folgen; nicht immer können sie in ihren Darstellungen jene Schönheit erreichen, die zum Beispiel die Verleiher des Frankfurter Goethepreises oder Thomas Mann an Freuds Darstellungen gerühmt haben.

Freud wäre niemals der Entdecker seines, unseres Unbewußten geworden, wenn ihn nichts dazu gedrängt hätte, etwas mit sich selbst zu erreichen; was ihn drängte, war Seelenschmerz und Neugierde. Er hat zuerst sein eigenes Leiden zum Objekt genommen; seinen Entdeckungen ist die Selbstanalyse vorausgegangen. Die Selbstanalyse hat ihn zur psychoanalytischen Methode geführt, und die Methode führte ihn zum menschlichen Leid, nicht nur zu den Lehrbuchleiden. Der Anteil Josef Breuers und der Patienten in den „Studien über Hysterie“ wird damit nicht verkleinert. Aber jene Selbstanalyse, die Freud von sich erzwungen hat, macht den Unterschied zwischen ihm und Breuer aus.

Aus der Konvergenz von menschlichen Leiden (Freud sprach auch vom „seelischen Elend der Massen“) und psychoanalytischer Methode ist die Psychoanalyse als Institution, als Beruf hervorgegangen, sind Organisationen, Journale, Lehrinstitute, Forschungsgemeinschaften, soziale, pädagogische, literarische Strömungen, Umwälzungen im ärztlichen Denken und vor allem die modernen Psychotherapien [**] hervorgegangen.

Die Couch, die Berufsroutine, der Jargon, den man uns so gerne vorhält — alles das ist die notwendige Implementierung der Freud’schen Methode, die das Leiden zwar nicht aus der Welt schaffen kann, aber als Herausforderung behandelt. Wahrscheinlich macht aber das Leiden, die Angst vor dem Leiden, die menschliche Katastrophenangst gar nicht den Eindruck, den ich mir erhofft habe; und dann, glaube ich, brauchen wir wirklich keinen Freud.

Vielleicht aber wird er doch recht behalten mit dem, was er in seiner Schrift „Zur Einführung des Narzißmus“ (1914) sagte: „Ein starker Egoismus schützt vor Erkrankung, aber endlich muß man beginnen zu lieben, um nicht krank zu werden, und muß erkranken, wenn man infolge von Versagung nicht lieben kann.“ Etwa nach dem Vorbild, wie sich Heine die Psychogenese der Weltschöpfung vorstellt:

Krankheit ist wohl der letzte Grund
Des ganzen Schöpferdrangs gewesen;
Erschaffend konnte ich genesen,
Erschaffend wurde ich gesund.

[*Zwei berüchtigte Beispiele in Alexander Mitscherlich: Sigmund Freud — Fragment einer großen Begegnung (Portraits zur deutsch-jüdischen Geistesgeschichte, Köln 1961).

[**Das Sprachrohr des jüngsten Versuches der Psychotherapie, womit auch wieder einmal die Freud’sche Methode ausgerottet werden soll, ist das „Journal of Behaviour Research and Therapy“. In „Encounter“, September 1964, glossiert die Londoner Kritikerin Kathleen Nott einige Entgleisungen unter dem Titel „Pavlov and his Bad Dog“.

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