FORVM, No. 411/412
März
1988

Die Sonne südöstlich der Alpen

Die Slowenen — in Kärnten vom Staatsvertrag unwirksam geschützte Minderheit, politisch, ökonomisch und gesellschaftlich zum Schaden auch der Mehrheit niedergehalten — haben ihre „Sozialistische Republik Slowenien“, als zweitkleinste Teilrepublik Jugoslawiens nur gut doppelt so groß wie Kärnten, zur entwickeltsten Region der ganzen sozialistischen Welt gemacht. Unser Korrespondent aus Belgrad berichtet.

Eine oft gestellte Frage verklärt die Wahrheit mehr, als sie zu erklären: Ist Slowenien wegen des Sozialismus entwickelt oder trotzdem? Fest steht, daß sowohl Pro-Kopf-Einkommen als auch Bruttosozialprodukt eher an weniger entwickelte Regionen Westeuropas erinnert als an irgendeine bestehende „sozialistische Wirtschaft“. Schon aus diesem Grund entstehen in Slowenien Positionen und Aktivitäten, die darauf aufmerksam machen, daß das „slowenische Modell“ (wenn man es überhaupt so bezeichnen kann) eines der tauglichsten sozualistischen und demokratischen Modelle überhaupt darstellen könnte.

Einige Hinweise:

Die Parole vom „Pluralismus der sozialistischen Selbstverwaltungsinteressen“, geprägt vor zehn bis fünfzehn Jahren von Edvard Kardelj, Slowene und engster Mitarbeiter Titos, wurde und wird von einigen Seiten als sozialdemokratisch kritisiert und ist in den anderen Republiken noch kaum wirksam. In Slowenien ist sie in den letzten vier, fünf Jahren praktisch amtlich geworden. Tabuthemen für das restliche Jugoslawien haben hier Öffentlichkeit, vor allem, wenn sie unter dem Schirm der Massenorganisation „Sozialistischer Bund der Werktätigen“ (SSRNS) geäußert werden. Dinge wie Initiativen der „Grünen“ oder öffentliche Diskussionen mit führenden Politikern, in Slowenien gang und gäbe, sind in anderen Republiken verpönt und werden dort diskreditiert. Ein typisches Beispiel war die Forderung eines serbischen Parlamentariers nach scharfen Gesetzesmaßnahmen gegen die Redaktion der slowenischen Wochenschrift „Mladina“ (Herausgeber: Bund der sozialistischen Jugend Sloweniens). Die dort öfters geäußerten Forderungen nach dem Aufbau einer „zivilen Gesellschaft“ seien auf „Zersetzung der jugoslawischen Volksarmee“ gezielt. Die zuständigen slowenischen Instanzen sahen keinerlei Gründe für derartige Interventionen. Im Gegenteil. Seit einigen Jahren vor allem von alternativen (Jugend-)Gruppen vertreten, ist diese „zivile“, will heißen: antimilitaristische und soziale Idee jetzt öffentlich und von maßgebenden Stellen aufgenommen worden. Ende Dezember 1987 hat der Präsident des SSRNS, Joźe Smole, in einer Fernsehweihnachtsbotschaft (der zweiten in der Geschichte Jugoslawiens) als Ziel für alle Slowenen und Bewohner Sloweniens den „zivilen, demokratischen, sozialistischen und selbstverwalteten Rechtsstaat“ genannt. Adressat dürfte wohl nicht nur Slowenıen, sondern die ganze Föderation gewesen sein.

Damit gab Smole nicht nur der vorherrschenden Meinung in „seiner“ Republik Ausdruck, sondern auch den Hoffnungen in anderen Landesteilen, vor allem denen der besser informierten und vorurteilsfreien Jugoslawen, die in Slowenien Ansätze zur Verwirklichung der Ideen eines demokratischen Sozialismus sehen, wie ihn das Parteiprogramm des Bundes der Kommunisten schon vor zwanzig Jahren vorgesehen hat.

Die Frage ist, ob die Slowenen ihre Richtung beibehalten können, wenn sie weiterhin so isoliert bleiben: nicht im geografischen Sinn, sondern im Sinne einer Meinungs- und Bewußtseinsisolation, bedingt durch die enormen Unterschiede zwischen den diversen Landesteilen. In den unterentwickelten Regionen ist über eine Million Menschen ohne Arbeit, zumeist Jugendliche. Der Durchschnittslohn beträgt die Hälfte des slowenischen. Noch immer bestehen Sippenhaftung und Blutrache, es gibt Tausende von Analphabeten. In Slowenien ist das alles unbekannt. Es ist nicht übertrieben, von einer ideellen und mentalen Wand zwischen den Landesteilen zu sprechen, die — vor allem seit dem Ausbruch einer allgemeinen Krise in Jugoslawien — die Kommunikation verhindert und alte Vorurteile wieder aufkommen läßt.

So gelten die Slowenen als arbeitsam und tüchtig, sie dächten nur ans Arbeiten und Geldsparen, könnten das Leben nie wirklich genießen, außer samstags, wenn sie sich mit ihrem Cvicek betrinken. Sie seien ganz einfach germanisierte Slawen. Auf der anderen Seite hört man von den Slowenen, daß ım Süden nur Faulenzer, Trinker, Nichtarbeiter, Militaristen leben, die nur Ćevapćići essen, nach Knoblauch stinken und keine Ahnung von Kultur haben.

Im Norden träumen sie von Mitteleuropa und der guten alten Zeit der k. u. k. Monarchie, vom eigenen, geschlossenen Kulturraum, wo die Welt noch in Ordnung war. Die im Süden träumen von den blutigen Kriegen, Königsmorden und der „byzantinischen Lebensweise“ — das heißt von autoritärer Politik. Den Slowenen wird Separatismus vorgeworfen, wirtschaftliche Ausbeutung anderer Landesteile und vor allem der „Gastarbeiter“ aus Kroatien oder Bosnien, die in Slowenien Arbeit gefunden haben. Aber immer mehr hochqualifizierte Fachleute wandern gen Norden, wo sie unter besseren Arbeitsbedingungen zwei-, drei- oder mehrfach besser bezahlt werden als in ihrer südlichen Heimat.

Ein anderer Vorwurf gegen Slowenien ist ernster und von größerem politischem Gehalt: Slowenien sei die „egoistische Republik“, die nur ihre eigenen Ziele verfolgt und die Gesamtinteressen des Bundes und der weniger entwickelten Regionen nicht beachtet. Dieser Vorwurf wurde im Laufe der Diskussion über die fälligen Verfassungsänderungen immer stärker. Die Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt um den vergangenen Jahreswechsel, als Slowenien entschieden gegen den Bundeshaushaltsvorschlag der Regierung und den Sozialplan für 1988 stimmte.

Politische und wirtschaftliche Führer Sloweniens wenden sich entschieden gegen Staatsinterventionen im überholten dogmatischen Stil und vertreten die originär jugoslawischen Ideen der Selbstverwaltung auf ökonomischer und politischer Ebene. Sie sind gegen die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen, weil sie befürchten, daß diese einen neuen Zentralismus in allen Lebensbereichen nach sich ziehen, der praktisch die wesentlichen Inhalte der Verfassung von 1974 — Selbständigkeit der Republiken und ihre obligatorische Einstimmigkeit im Bundesparlament — außer Kraft setzen würde. Logische Folge wäre die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Republiken, und damit wären die ökonomischen und politischen Minderheiten von vornherein benachteiligt.

Schon jetzt sind ım gesellschaftlichen Überbau von Republik zu Republik viele Unterschiede sichtbar. Beispielsweise tritt Slowenien seit Jahren für die Abschaffung der Todesstrafe ein und initiierte mehrere dementsprechende Anträge. Da sich die anderen Republiken dem nicht anschlossen, unternahm man andere, praktische Schritte: Sloweniens Gerichte hörten auf, die Todesstrafe zu verhängen. Während in den letzten 15 Jahren in ganz Jugoslawien insgesamt 49 Todesstrafen ausgesprochen wurden, gab es in Slowenien keine einzige. — Es muß allerdings hinzugefügt werden, daß die meisten Todesurteile nicht vollstreckt, sondern in langjährige Haftstrafen umgewandelt werden.

Ähnlich verhält es sich mit den Gesinnungsdelikten. In einigen Republiken wird jedes diesbezügliche Vergehen schärfstens geahndet, während in Slowenien der entsprechende Paragraph fast überhaupt nicht zur Anwendung gelangt. So kommt es, daß mancher andersdenkende Intellektuelle aus anderen Landesteilen in Slowenien publizieren darf, was in seiner Heimatprovinz unmöglich wäre.

In Slowenien ermöglicht eine entwickelte kritische Öffentlichkeit, differenzierte Meinungen legal zu äußern. Regelmäßig werden Meinungsumfragen veröffentlicht, die einen interessanten Einblick in die Ideen der Slowenen ermöglichen. In der letzten Umfrage beispielsweise bejahten 64% der Befragten die Forderung, die jugoslawische Regierung sollte alle Dokumente über die Tätigkeit von Kurt Waldheim während des Krieges in Jugoslawien veröffentlichen, und eine junge Parlamentarierin aus Slowenien hat in der Bundesversammlung schon drei Anfragen in diesem Sinne an die Regierung gerichtet (bis jetzt ergebnislos). 57% der Bewohner Sloweniens — also einschließlich der Nichtslowenen — sind der Meinung, daß die akute Krise in Jugoslawien nicht nach dem Mehrheitsprinzip, sondern nur durch Diskussion und gemeinsames Handeln gelöst werden kann. Dies ist der entscheidende Punkt, an dem sich jetzt die Idee vom legitimen Pluralismus der Interessen im Sozialismus in der Praxis zu bestätigen hat.

In diesem Sinne schrieb die bekannte und sehr witzige Kolumnistin des Zagreber Nachrichtenmagazins „Danas“, Tanja Torbarina, sie fühle sich politisch als Slowenin; und diese neue Formulierung kann man in Belgrad oder Zagreb öfters hören.

Das „slowenische Experiment“ und die Heftigkeit der Reaktionen darauf, die manchmal irrational wirken und stark mit dogmatischen Prägungen zusammenhängen, zeigen, daß das jugoslawische Modell auf die Probe gestellt ist. Ganz anders als bei der Provinz Kosovo (s. FORVM, Heft 406-408) zeigt sich im Fall Sloweniens, welch vielseitige Möglichkeiten das Modell des Selbstverwaltungssozialismus bietet. Es zeigt sich nämlich, daß der Sozialismus nicht ohne Individuen zu erreichen ist. Die famosen „Massen“, „Nationen“, „Völker“ haben in der Geschichte schon ihr wahres Gesicht gezeigt: als kleine, auserlesene Gruppen im Namen großer Gesellschaften auftraten — und sie sehr bald niedertraten.

Sloweniens bewegte Geister nutzten den Rahmen jugoslawischer Gesetze und offizieller Programme voll aus: Sie brıngen Leben in die Paragraphen. Von den Grünen über Punker und Religiöse bis hin zu Homosexuellen sind selbst sogenannte Randgruppen an die Öffentlichkeit, also in die legale Sphäre gelangt.

Die Ausbreitung der „Sonne, die südöstlich der Alpen beginnt“ — so ein slowenischer Werbespruch für Touristen — auf ganz Jugoslawien ist die einzige hoffnungsvolle Perspektive für einen erfolgreichen und humanen Selbstverwaltungssozialismus des 21. Jahrhunderts.

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