FORVM, No. 249/250
September
1974

Die Weltrevolution war ein Irrtum

25 Jahre linke Publizistik — ein Rechenschaftsbericht

„In Wirklichkeit“, schrieb Lenin Anfang 1920, „hatten sich alle alten Formen der sozialistischen Bewegung mit neuem Inhalt gefüllt, vor die Zahlen trat deshalb ein neues Vorzeichen: das ‚Minus‘; unsere Neunmalweisen aber fuhren (und fahren) hartnäckig fort, sich selbst und anderen einzureden, daß ‚minus drei‘ größer sei als ‚minus zwei‘.“

Lenin: Der „linke Radikalismus“, eine Kinderkrankheit im Kommunismus. Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Band 2, Moskau 1947, S. 746

1 Illusionen der vierziger Jahre

Nach dem Zweiten Weltkrieg geschah etwas ähnliches. Die alten Formen hatten sich mit neuem Inhalt gefüllt, und in etlichen Fällen hat der neue Inhalt sich passende neue Formen geschaffen. Aber die Neunmalklugen waren zu blind, zu doktrinär oder zu dumm, es zu bemerken.

Wenn wir auf den fünfundzwanzigjährigen Bestand des Monthly Review zurückblicken (das erste Heft erschien im Mai 1949), fällt uns auf, wie lange wir selbst an dem neunmalweisen Schema festgehalten haben. Es wäre zu langwierig, an Hand einzelner Texte genau zu untersuchen, wie die in der ersten Zeit von Monthly Review vertretenen Auffassungen beschaffen waren und wie sie sich später änderten, manche allmählich, andere ganz plötzlich. Aber einige der wichtigeren Wandlungen sollen hier interpretiert werden.

In der konventionellen marxistischen Auffassung zerfiel die Welt, welche aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war, in drei Teile, die sich klar unterschieden:

  1. eine Handvoll hochentwickelter kapitalistischer Länder;
  2. eine große Anzahl vorkapitalistischer (zumeist feudaler) Kolonien, Halbkolonien und von den entwickelten (imperialistischen) Mächten abhängiger Gebiete;
  3. ein Block sozialistischer Länder unter der Führung der UdSSR, der die Länder Osteuropas umfaßte und dem sich bald darauf China und die befreiten Teile Vietnams und Koreas anschlossen.

Die historische Periode, die damals begann, erschien also durch gewisse große, irreversible Tendenzen gekennzeichnet. Die kapitalistischen Länder, so meinte man, würden durch wiederholte Krisen von wachsender Tiefe erschüttert werden, was eine Radikalisierung der Arbeiterklasse zur Folge haben müßte. Die vorkapitalistischen Länder würden Schauplatz bürgerlicher Revolutionen sein — unterstützt und in manchen Fällen sogar geführt von der Arbeiterklasse; danach würden sie den gleichen Weg gehen wie die älteren kapitalistischen Länder. Die sozialistischen Länder, befreit von den Widersprüchen des Kapitalismus, würden ihre Produktion, ihre Produktivität und damit ihren Lebensstandard in Siebenmeilenschritten steigern und die höchstentwickelten kapitalistischen Länder einholen und sogar überholen. Angesichts des verfallenden Kapitalismus und des aufblühenden Sozialismus würden die Arbeiter in aller Welt in wachsendem Maß erkennen, wo ihre wahren Interessen liegen, was zu einer stetigen Zunahme der sozialistischen Bewegungen in allen Ländern führen würde. Erfolgreiche sozialistische Revolutionen würden häufiger werden, der sozialistische Block würde sich ausdehnen. Da die Länder des sozialistischen Blocks die Klassen aufgehoben hatten oder im Begriff standen, sie aufzuheben, würden sie frei sein von widerstreitenden nationalen Interessen und sich zu immer engerer wirtschaftlicher Kooperation zusammentun und sich schließlich auch politisch vereinigen. Diese historische Periode würde daher mit der Entstehung eines sozialistischen Weltstaates enden. Danach würde die Periode des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus im Weltmaßstab kommen.

2 Sowjet-Lager stagniert

So sind die Dinge in den vergangenen 25 Jahren natürlich nicht gelaufen. In den entwickelten kapitalistischen Ländern waren die wirtschaftlichen Rückschläge relativ mild. Soweit man von einer Radikalisierung in der Arbeiterklasse sprechen kann, bezieht sie sich zumeist auf die jüngeren Arbeiter, denen es, rein ökonomisch gesehen, wesentlich besser geht als ihren Eltern. Die sozialdemokratischen Parteien behaupten in den meisten Fällen nicht einmal mehr, für den Sozialismus zu sein; und kommunistische Parteien, die einst mit revolutionärer Zielsetzung gegründet wurden, sind unverhüllt reformistisch geworden.

In dem Teil der Erde, den man heute die dritte Welt nennt, gab es keine bürgerlichen Revolutionen, und keines dieser Länder folgte dem Entwicklungsweg der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten (Japan war das letzte Land, das diesen Weg ging). Die formale Unabhängigkeit hat sich im allgemeinen als eine Scheinunabhängigkeit erwiesen. Was den sozialistischen Block betrifft, ist nach China, Nordvietnam und Nordkorea nur noch Kuba hinzugekommen; der Block selbst hat sich keineswegs ökonomisch oder gar politisch vereinigt, sondern ist zerfallen, wobei seine beiden größten Staaten, die Sowjetunion und China, einander in offener Feindschaft gegenüberstehen. Und schließlich hat die Vorstellung eines ökonomischen Wettbewerbs in bezug auf Produktion und Lebensstandard zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Welt nur geringe Entsprechung in der Wirklichkeit gefunden; auf beiden Seiten war die Entwicklung, sowohl innerhalb der einzelnen Länder als auch zwischen ihnen, sehr ungleichmäßig, und die Errechnung von Durchschnittsziffern wäre ohne jede Aussagekraft.

Offenkundig war mit der konventionellen marxistischen Auffassung von vor 25 Jahren etwas grundsätzlich nicht in Ordnung; aber keineswegs alle deklarierten Marxisten haben diese Schlußfolgerung aus den Erfahrungen der abgelaufenen Periode gezogen. Faktisch vertreten die sowjetische KP und ihre Sympathisanten in anderen Ländern heute in allen wesentlichen Punkten noch dieselben Auffassungen wie 1949 (oder sogar noch früher). Die Arbeiter in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern werden nicht bloß potentiell, sondern faktisch als revolutionäre Kraft angesehen. Der Reformismus ihrer Parteien widerspricht dem nicht, da es nach den (in der Chruschtschow-Ära kanonisierten) Doktrinen von der friedlichen Koexistenz und vom friedlichen Übergang zum Sozialismus möglich ist, reformistisch und revolutionär zugleich zu sein. Das Ausbleiben bürgerlicher Revolutionen und einer „normalen“ kapitalistischen Entwicklung in der dritten Welt wird nicht zur Kenntnis genommen bzw. bestritten; die Entkolonisierung wird als echte Revolution hingestellt, und die sowjetisch orientierten Ideologen verleihen ebenso wie die amerikanisch orientierten den Ländern der dritten Welt den Ehrentitel „Entwicklungsländer“.

Wenn es so wenig Neubeitritte zum sozialistischen Block gegeben hat — in den letzten fünfzehn Jahren überhaupt keine mehr —, so bedeute dies nur, daß die Geschichte nun langsamer voranschreitet. Was den sozialistischen Block betrifft, so sei er nicht wirklich zerfallen, vielmehr seien die Chinesen unter der Führung Mao Tse-tungs zeitweilig von ihm desertiert; doch das werde kaum von Dauer sein: nach Maos Tod würden die Chinesen zur Herde zurückkehren, und der sozialistische Block werde unter der weisen und festen Führung der Sowjetunion, genauer gesagt, der KPdSU, stärker und einheitlicher denn je vorwärtsschreiten. Inzwischen hätten die Sowjetunion und ihre treuen Verbündeten sowohl relativ als auch absolut Boden gewonnen und bereits eine Postition der Stärke erreicht, von der aus sie die „Entspannung“ gegenüber den entwickelten kapitalistischen Ländern betreiben können, die es ihnen erlaubt, auf dem Gebiet des Handels und der Investitionen vorteilhafte Geschäfte zu machen, was den Endsieg des sozialistischen Lagers beschleunigen werde.

Natürlich können nicht alle Marxisten diese Lesart schlucken. Vielen, auch uns, erscheint diese Art „Erklärung“ für die offenkundige Diskrepanz zwischen Theorie und Realität mehr und mehr als reine Ideologie im schlechtesten Wortsinn. Immer deutlicher hat sich gezeigt, daß es nicht darauf ankommt, die Wirklichkeit so darzustellen, daß sie zur Theorie paßt, sondern darauf, die Theorie so umzuformen, daß sie dazu geignet ist, die Wirklichkeit zu erklären und zu verändern. Diese Erkenntnis hat den Anstoß zu einer veritablen Renaissance des Marxismus gegeben.

3 Mao: Nicht auf Kosten der Bauern

Diese Renaissance hat viele Quellen, von denen manche evident, manche weniger evident und einige wahrscheinlich bisher unbekannt oder unerkannt sind. An die Spitze der Liste muß man die chinesische Revolution stellen, obwohl deren Bedeutung erst ungefähr zehn Jahre nach der Machtergreifung weithin in vollem Maß gewürdigt worden ist. Die Ursache für diese Verzögerung lag zum erheblichen Teil darin, daß die Chinesen selbst stark von sowjetischen Vorstellungen und Praktiken beeinflußt waren und lange Zeit wichtige Aspekte des sowjetischen „Modells“ kopierten. Außerdem wurde in den ersten Jahren der Volksrepublik die militärische und wirtschaftliche Hilfe der Sowjetunion sehr hoch bewertet. Die Chinesen waren deshalb bemüht, das Bestehen von Differenzen zwischen ihnen und den Russen nicht zu betonen oder auch nur zuzugeben, und die meisten Marxisten erkannten erst nach dem offenen Bruch, der der Abberufung der sowjetischen Techniker im Jahre 1960 folgte, die wahre Situation.

Nichtsdestoweniger ist es zumindest im Rückblick klar, daß die Maoistischen Methoden im wirtschaftlichen wie im politischen Bereich sich in entscheidenden Punkten von den in der Sowjetunion seit Ende der zwanziger Jahre praktizierten radikal unterscheiden. Insbesondere glaubte Mao nie an die Notwendigkeit einer Periode „primärer sozialistischer Akkumulation“ auf Kosten der Bauernschaft, während in der Sowjetunion alle Fraktionen nach Lenins Tod davon überzeugt waren (ihre Differenzen bezogen sich mehr auf Tempo und Methoden als auf die Sache selbst) — ein Umstand, der in der UdSSR zu dem verhängnisvollen Gegensatz zwischen Arbeitern und Bauern, zwischen Stadt und Land geführt hat. In China hingegen wurde das Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern strikt eingehalten, und die chinesische Wirtschaft vermochte die ganze Zeit „auf zwei Beinen“ voranzuschreiten. Unter diesen Bedingungen bestand weder die Notwendigkeit noch die Versuchung, Repression gegen breite Volksmassen zu üben; die einzigen, die unterdrückt werden mußten, waren die Konterrevolutionäre, die nur einen winzigen Bruchteil der chinesischen Bevölkerung darstellten.

Sobald der chinesisch-sowjetische Konflikt allgemein bekannt und zum Diskussionsgegenstand geworden war, änderte sich das ganze Bild. Es war, als wäre plötzlich ein Damm geborsten. Viel Altehrwürdiges und für selbstverständlich Gehaltenes wurde hinweggeschwemmt. Alles war in Frage gestellt, nicht nur die Probleme, um die der Streit zwischen Chinesen und Russen sich drehte. Die Renaissance des Marxismus hatte begonnen.

Inzwischen begannen auch andere Erneuerungsströme zu fließen. Die maßgeblichen marxistischen Theoretiker der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg waren mit wenigen Ausnahmen Europäer, oder zumindest waren sie in Europa ausgebildet worden. Nicht direkt im Gegensatz zu Marx, aber auch keineswegs in seinem Sinn, sahen sie in der Geschichte der übrigen Welt eine bloße Wiederholung der europäischen Geschichte. Sobald der Kapitalismus den Feudalismus oder eine andere vorkapitalistische Formation verdrängt hätte — meinten sie —, würde er unvermeidlich seinem inneren Wesen gemäß expandieren, eine Bourgeoisie und ein Proletariat hervorbringen, erst zur bürgerlichen und dann zur proletarischen Revolution führen. Aus dieser Auffassung ergaben sich gewisse strategische und taktische Imperative, die Teil der konventionellen marxistischen Lehre in den kolonialen und abhängigen Ländern wurden (die Dritte Internationale spielte in diesem Indoktrinierungsprozeß eine wichtige Rolle).

Das Pech war, daß es nicht so gekommen ist. Auch hier war China ein Schlüssel. Das Bündnis zwischen Kuomintang und Kommunisten, das die nationale Befreiung und eine Periode kapitalistischer Entwicklung ermöglichen sollte, führte nur zu der katastrophalen Niederlage von 1927 und zur neuerlichen Unterwerfung Chinas unter die Herrschaft des Auslandskapitals. Die andere Seite der Medaille waren jedoch der Rückzug der Kommunisten in die bäuerlichen Gebiete, der Aufstieg Maos und die Formulierung eines neuen Kurses mit der Bauernschaft als Basis, der Arbeiterschaft als der führenden Kraft und einzelnen Gruppen des Bürgertums in untergeordneten Rollen. Der Umstand, daß dieser Kurs über einen langen, qualvollen Weg zum Sieg von 1949 führte, war an sich eine ständige Herausforderung für die alten Vorstellungen.

Aber nicht nur in China stellte die traditionelle Auffassung keine brauchbare politische Richtlinie dar. In einem Fall nach dem anderen, von Indien angefangen, weigerte sich die nationale Bourgeoisie, ihre angebliche revolutionäre Pflicht zu tun, und machte sich statt dessen faktisch zum Verbündeten und Agenten der imperialistischen Herrschaft. Angesichts dieser Tatsache begannen einzelne Marxisten, vor allem solche in der dritten Welt selbst, die absolute Notwendigkeit einer Neuerforschung des gesamten Problems der Geschichte des Weltkapitalismus, der Rolle der Kolonien und abhängigen Gebiete und der Erfordernisse einer erfolgreichen Befreiungsstrategie zu erkennen. Daraus ergab sich eine Fülle schöpferischer Arbeiten rund um die doppelte Dialektik von Zentrum und Peripherie, von Entwicklung und Unterentwicklung, die zu dem unausweichlichen Schluß führten, daß die Tage der bürgerlichen Revolution vorbei sind und daß in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nur eine Arbeiter-und-Bauern-Revolution den Völkern der dritten Welt wahre Befreiung bringen kann — ein Schluß, der positiv von der kubanischen Revolution und negativ von der langen Reihe fehlgeschlagener Revolutionen in den letzten zwei Jahrzehnten bestätigt wurde.

4 Rückständiger Westmarxismus

Ein anderer Aspekt der Renaissance des Marxismus betrifft die politische Ökonomie der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder. Nicht nur waren die Krisen der letzten 25 Jahre, an früheren Maßstäben gemessen, relativ mild, sondern es sind auch wichtige Veränderungen in Struktur und Funktionsweise des Kapitalismus eingetreten: Beherrschung der Wirtschaft durch eine Handvoll Riesenkonzerne, die in vielen Industriezweigen und in vielen Ländern tätig sind (Mischkonzerne und Multinationale), enorm verstärkte Rolle des Staates als Lieferant von Dienstleistungen und zumindest teilweiser Regulator der Wirtschaftstätigkeit, zunehmend aggressiver und ausbeuterischer Imperialismus jener Staaten, die stark genug sind, eine solche Politik zu machen, Vergeudung menschlicher und natürlicher Ressourcen nicht nur für Kriegsrüstung und Kriegsabenteuer, sondern auch für zunehmend irrationale und unwirtschaftliche Formen der Reklame und des Konsums — all das führt zu einer entfremdeten und enthumanisierten Kultur, die in unversöhnlichem Konflikt mit einer normalen, gesunden menschlichen Daseinsweise zu stehen scheint.

Narürlich ist keine dieser Entwicklungen über Nacht eingetreten, und die Marxisten waren unter den ersten, die sie erkannten und darauf hinwiesen. Obwohl es auf der Hand lag, daß diese Trends im Spätkapitalismus mit dem Wachstum der Monopole zusammenhängen, hat die marxistische Ökonomie sich mehr auf empirischer als auf theoretischer Grundlage mit ihnen auseinandergesetzt und es nicht verstanden, sie auf dialektisch-organische Weise mit dem ihnen zugrunde liegenden Prozeß der Kapitalakkumulation als treibender Kraft des ganzen Systems und Quelle seiner sich vermehrenden Widersprüche zu verbinden. Angefangen von Maturity and Stagnation in American Capitalism (1952) des Österreichers Josef Steindl, begannen einige marxistische Ökonomen, sich mit diesem Problemkomplex zu befassen. Doch die daraus resultierende Literatur war nicht besonders imposant, weder quantitativ noch qualitativ; ein augenfälliger Mangel ist bis jetzt das Fehlen ernsthafter Untersuchungen über die Auswirkungen von Technologie und Konzernorganisation im monopolistischen Stadium des Kapitalismus auf den Arbeitsprozeß und die Arbeiterklasse — Themen, die bei Marx natürlich im Mittelpunkt stehen. Woher das kommt, ist nicht leicht zu erklären, doch kann man die Hypothese wagen, daß die relative Rückständigkeit der marxistischen Analyse des Monopolkapitalismus (außer in dessen internationalen Auswirkungen, über die Lenin schon vor langer Zeit Entscheidendes gesagt hat) zumindest teilweise eine Folge des bisherigen Fehlens ernsthafter revolutionärer Bewegungen und Aktivitäten in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ist. Der Marxismus setzt eine enge Verbindung zwischen revolutionärer Theorie und revolutionärer Praxis voraus; wo eine von beiden fehlt, ist die andere zumindest schwer behindert.

Wir sprachen von einer Renaissance des Marxismus — der Ausdruck konnte mit gleichem Recht auf die Entwicklung angewandt werden, die sich unter dem Einfluß Lenins und der Bolschewiki im Ersten Weltkrieg und zur Zeit der Oktoberrevolution vollzog. Die verschiedenen Formen von „Revisionismus“, die in der Periode der Zweiten Internationale entstanden, liefen mehr auf eine Negierung als auf eine Revision des Marxismus hinaus. Die einzige Möglichkeit, sie zu bekämpfen, war die Wiederbelebung des authentischen Marxismus, und dies besorgte Lenin sowohl in der Praxis als auch in der Theorie (namentlich in „Staat und Revolution“, wo absolut zentrale Lehren von Marx vor unglaublichen Entstellungen gerettet wurden).

5 Chinesische Renaissance

In der jüngsten Renaissance mußte diese Rettungsoperation leider zur Gänze noch einmal vollbracht werden, was durch die kraftvolle Polemik der Chinesen mit der auf Moskau orientierten kommunistischen Bewegung Anfang der sechziger Jahre geschah (die ausführlichste Präsentation des chinesischen Standpunkts gegen den neuen Revisionismus gab der Artikel „Noch einmal über die Meinungsverschiedenheiten zwischen Genossen Togliatti und uns — Einige wichtige Probleme des Leninismus in der Gegenwart“, in Hongki, 4. März 1963, auch in Buchform erschienen im Fremdsprachenverlag, Peking). Diesmal aber reichte die Renaissance des Marxismus viel tiefer. Theorie und Praxis gingen Hand in Hand, besonders während der Großen Proletarischen Kulturrevolution, und die Chinesen entwickelten eine Kritik der UdSSR, ihrer historischen Laufbahn und ihres gegenwärtigen Kurses, die weit über alles hinausging, was in den Polemiken der früheren Jahre gesagt oder auch nur angedeutet worden war. Als innerer Hauptfeind und Zielscheibe der Kulturrevolution wurden jene festgestellt, die den kapitalistischen Weg einschlugen, und der kapitalistische Weg war jener, den die Russen bereits beschritten hatten. Daraus ergaben sich logisch nicht nur die innenpolitischen Aufgaben der Kulturrevolution, sondern auch die Brandmarkung der UdSSR als sozialimperialistische Supermacht und gefährlichster Feind Chinas und der chinesischen Revolution.

Es ist wichtig, zu verstehen, in welchem Sinn dies eine Vertiefung der Renaissance des Marxismus bedeutete. Indem die Chinesen das sowjetische Modell ablehnten, mußten sie notwendigerweise eine andere Richtung einschlagen. Die Formel, die diesen teils neuen, teils neue Prioritäten setzenden Kurs am besten zusammenfaßt, lautet: „Der Politik das Kommando geben“, im Gegensatz zur kapitalistischen und sowjetischen Praxis, der Wirtschaft das Kommando zu überlassen. Es ist hier nicht der Ort, die Bedeutung dieser Formel im einzelnen zu analysieren, wir wollen nur sagen, daß ihr innerster Kern der Egalitarismus im weitesten und tiefsten Wortsinn ist, das heißt der Abbau und die allmähliche Aufhebung nicht nur aller Einkommensunterschiede, sondern auch aller Unterschiede in Wissen, Macht und Privilegien sowie alles dessen, was die Menschen trennt und gegeneinander stellt, sei es als Gruppen oder als einzelne, und es ihnen unmöglich macht, in Eintracht und Glück miteinander zu leben. [*]

Es ist jedoch offenkundig, daß eben dies der Kern von Marx’ Denken über Sozialismus und Kommunismus ist. Er verstand diese neuen und höheren Gesellschaftsformen nie bloß als solche, die mehr Güter und Dienstleistungen produzieren: seiner Auffassung nach sollten sie vor allem menschlicher und gerechter sein und allen Menschen ein besseres Leben bieten. Die Chinesen erneuerten und verwirklichten also Marxsche Ideen, die in der Sowjetunion schon seit langem verworfen und sogar als kleinbürgerliche Sentimentalitäten verunglimpft worden waren.

Wenn Lenin mit der NÖP im Jahre 1921 der Wirtschaft das Kommando gab, so war das für ihn eine traurige Notwendigkeit, ein bedauerliches Abgehen von Marxschen Prinzipien, das sobald wie möglich wieder rückgängig gemacht werden sollte. Aber für Stalin war die bloße Idee der Gleichheit Anathema: auf dem XVII. Parteitag der KPdSU bezeichnete er die Nivellierung von Löhnen und Gehältern als „reaktionäre, kleinbürgerliche Absurdität, würdig einer primitiven Asketensekte, aber nicht einer auf marxistischen Grundlagen organisierten sozialistischen Gesellschaft“.

Weder Stalin noch seine Nachfolger haben später die Melodie gewechselt: für sie war und ist das Kommando der Wirtschaft das wahre Wesen des Marxismus. Und darum sagen wir, daß die Chinesen mit dem neuen Kurs, den sie während und nach der Kulturrevolution einschlugen, die Renaissance des Marxismus vertieft haben. Das soll aber nicht heißen, daß die Chinesen selbst keine Fehler gemacht haben. Insbesondere scheint uns, daß ihre Analyse der Entwicklung in der Sowjetunion und des dort bestehenden Gesellschaftssystems viel zu wünschen übrig läßt. Ihnen zufolge war die Oktoberrevolution eine sozialistische Revolution, die die Diktatur des Proletariats errichtete. Unter der Führung Lenins und nach ihm Stalins bewegte sich das Land auf den Sozialismus zu. Nach Stalins Tod jedoch schlichen sich jene, die den kapitalistischen Weg wollten, in die Führung der Partei und des Staates ein, kehrten den Kurs um und stellten den Kapitalismus wieder her. Die gleiche Gefahr drohte (und droht noch immer) in China. Erst waren es Liu Schaotschi und seine Anhänger, dann Lin Piao, und zweifellos wird es in Zukunft noch andere geben.

Die eigentliche Schwäche dieser Theorie (und anderer, ähnlicher) ist nicht so sehr, daß sie falsch wäre, als daß sie nichts erklärt. Woher kommen jene, die den kapitalistischen Weg gehen wollen? Wen repräsentieren sie — außer sich selbst? Was gibt ihnen die Macht, eine anscheinend solide Diktatur des Proletariats zu untergraben? Erst wenn wir solche Fragen stellen, verlassen wir das Reich der Bösewichte, ihrer Komplotte, Verschwörungen, und betreten das Reich der ernsthaften historischen Analyse.

6 Kapitalismus ohne Kapitalisten

Wir zweifeln nicht daran, daß Mao und andere Leute in der chinesischen Führung durchaus imstande wären, die sowjetische Entwicklung von einem konsequent marxistischen Standpunkt aus zu analysieren; ja, eine solche Analyse könnte im wesentlichen aus einer genügend sorgfältigen und detaillierten Prüfung ihrer Erklärungen während der ganzen Periode ihrer Verbindung mit der Sowjetunion und deren Führern rekonstruiert werden. Doch haben sie aus politischen Gründen, über die wir nur mutmaßen können, eine solche Analyse nie ausdrücklich gemacht, und was sie zum Gegenstand geäußert haben, ist keine große Hilfe für jene, die sich vielleicht selbst dieser Mühe unterziehen möchten.

Natürlich gibt es außer den offiziellen sowjetischen und chinesischen Versionen noch andere Theorien über die sowjetische Geschichte und die sowjetische Gesellschaft, darunter auch einige von Marxisten. Die älteste und bestbekannte ist wohl die trotzkistische Theorie, derzufolge die Sowjetunion nach wie vor ein Arbeiterstaat ist (weil es kein Privateigentum an Produktionsmitteln gibt), aber seit Stalins Machtübernahme nicht mehr unter der unmittelbaren Herrschaft des Proletariats steht. Sie sei vielmehr ein degenerierter Arbeiterstaat, der von einer Bürokratie regiert wird.

Es gibt eine Reihe staatskapitalistischer Theorien, von denen die am sorgfältigsten durchdachte besagt, daß die bolschewistische Revolution wegen der Rückständigkeit des zaristischen Rußland zwangsläufig eine bürgerliche Revolution war und daß die KPdSU, unabhängig von ihren Absichten, von Anfang an notwendigerweise einen kapitalistischen Staat regiert hat.

Schließlich gibt es eine — ebenfalls in mehreren Versionen existierende — Theorie, die in der Beurteilung der ersten Phase der sowjetischen Entwicklung (bis zu Lenins Tod) der offiziellen sowjetischen und der trotzkistischen Theorie nahesteht, aber von beiden (und auch von der offiziellen chinesischen Theorie) in der Einschätzung des Wesens der Stalinperiode abweicht. Nach dieser Auffassung verhärtete sich die bürokratisch-technokratische Schicht (zum Großteil eine Hinterlassenschaft der alten Ordnung), die das Land im Namen der Kommunistischen Partei regierte, allmählich zu einer richtigen herrschenden Klasse (von Charles Bettelheim „Staatsbourgeoisie“ genannt), welche die Arbeiter ausbeutet und über das Mehrprodukt in ihrem eigenen Interesse statt in dem der Arbeiter verfügt. Daher die Beibehaltung der hierarchischen Arbeitsteilung und der in den Jahrhunderten kapitalistischer Herrschaft entwickelten Organisations- und Verwaltungsmethoden, die Entpolitisierung der Massen, die Notwendigkeit der Repression und andere wohlbekannte Züge der sowjetischen Gesellschaft, die mit einem sozialistischen oder Arbeiterstaat in jedem Sinn unvereinbar sind.

Die Sowjetunion und die anderen osteuropäischen Länder sind daher Beispiele für das, was Samir Amin „Kapitalismus ohne Kapitalisten“ nennt, eine historisch neue Gesellschaftsformation, die noch gründlich wissenschaftlich erforscht werden muß.

Wie die Leser der Monthly Review wissen, neigen wir zu dieser letztgenannten Auffassung. Aber wir betrachten die Frage nicht als endgültig beantwortet. Und selbst wenn die Theorie vom „Kapitalismus ohne Kapitalisten“ sich als prinzipiell richtig erweisen sollte, bleibt noch ein weiter Weg bis zur Klärung der „Bewegungsgesetze“ dieser Gesellschaft. Das sind keine akademischen Fragen — das heißt solche, bei denen es keinen Unterschied macht, wie die Antwort lautet —, sondern Fragen von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der gegenwärtigen historischen Epoche. Ohne richtige Antworten auf diese Fragen müssen unsere Betrachtungen und Erwägungen über die Vorgänge in der Welt ein Tappen im Dunkeln bleiben. Daraus folgt, daß die Marxisten, wo immer sie leben, verpflichtet sind, diesen Fragen ernsthafte Aufmerksamkeit zu schenken, sie in wissenschaftlichem Geist zu studieren und zu erörtern und alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um zu brauchbaren Antworten zu gelangen.

7 Revolutionäre Parteigründung?

Noch ein Wort zum Abschluß. Monthly Review wurde als unabhängige sozialistische Zeitschrift gegründet, mit gleicher Betonung auf beiden Adjektiven. Die Gründer, im Bewußtsein der ungeheuren Menge von Erziehungsarbeit, die zur Förderung der Sache des Sozialismus noch geleistet werden muß, waren überzeugt, daß unter den damals in den USA herrschenden Verhältnissen die Wahrung der Unabhängigkeit von jeder politischen Partei oder Gruppierung für den Fortschritt des marxistischen Denkens überaus wichtig war. Rückblickend sind wir mehr denn je von der Richtigkeit dieser Entscheidung überzeugt. Die Erfahrungen mit Monthly Review haben bewiesen, daß man der Sache des Sozialismus treu bleiben und dennoch aktive kritische Analyse betreiben kann, unbehindert von den Anforderungen einer starren Orthodoxie. Doch muß man einsehen, daß diese Unabhängigkeit auch ihre Nachteile hat, da sie ein Abseitsstehen vom Prozeß politischer Mobilisierung und Aktion begünstigt. Wichtiger vielleicht als Fehler in der Analyse, die unsere Zeitschrift in der Vergangenheit gemacht hat, war das Fehlen eines Beitrages zur Schaffung einer Organisation, die geeignet gewesen wäre, die spontanen Energien der Revolten und Bewegungen in den sechziger Jahren zusammenzufassen.

Gewiß sehen wir unsere Aufgabe nicht darin, eine solche Organisation ins Leben zu rufen. Doch ebenso wie andere Sozialisten und Antiimperialisten empfinden wir akut die Notwendigkeit einer solchen Organisation, da uns klar ist, daß der Fortschritt der revolutionären Theorie lahm bleiben wird, solange diese nicht mit revolutionärer Praxis verbunden ist. Wir wissen nicht, wie wir in dieser Hinsicht vorgehen sollen, insbesondere angesichts der Fülle von Sekten der Linken und der geringen Bereitwilligkeit einer vermutlich sehr großen Zahl unorganisierter Sozialisten, organisatorische Verantwortung zu übernehmen. Diesbezüglich sind wir uns der Mängel unserer bisherigen Bemühungen schmerzlich bewußt, und wir wissen, daß wir und unsere Mitarbeiter es künftighin besser machen müssen.

Neubeginn des Marxismus

Die Herausgeber der New Yorker Zeitschrift Monthly Review geben sich anläßlich des 25jährigen Erscheinens in der Jubiläumsnummer (Juni 1974) Rechenschaft über den zurückgelegten Weg — das heißt, über viele verlorene Illusionen, aber auch über Renaissance und Neubeginn des Marxismus in den letzten Jahren. An der Wacherhaltung marxistischen Denkens in der dunklen Zeit des kalten Krieges hatten Sweezy und seine Mitarbeiter keinen kleinen Anteil.

Wir drucken diesen politischen Bekenntnisartikel nicht nur als Ergänzung zu den theoretischen von Dutschke und Baptista, sondern auch deshalb, weil in der Nummer 250 des NEUEN FORVMS damit der hierorts erreichte Standpunkt ausgedrückt wird — soweit man bei einem derart „polyphonen“ linken Organ überhaupt von einem gemeinsamen Standpunkt der Mitarbeiter sprechen kann. Eine Rückschau auf alle 250 Nummern des FORVMS müßte allerdings größere Kurven konstatieren als bei Monthly Review ...

M. S.

[*Die vielleicht klarste Darstellung davon, was dies ökonomisch bedeutet, findet sich in John Gurleys Artikel „Capitalist and Maoist Economic Development“, in gekürzter Form veröffentlicht in Monthly Review, Februar 1971.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)