Heft 6/2001
November
2001

Die Wut im Bauch — Surrealismus überall

Teil 3 — Es lebe die Langeweile, Es lebe die Leidenschaft

Alle triumphierenden Ideen sind zum Scheitern verurteilt. (André Breton)

voriger Teil: Die Wut im Bauch — Surrealismus überall

Politik der Ohrfeige

Im Sommer 1935 traf Ilja Ehrenburg, Schriftsteller und sowjetischer Doyen des sozialistischen Realismus, auf einer Straße in Paris eine Ohrfeige André Bretons. Die Aufregung Bretons hatte ihren Grund, nämlich folgende Ausführungen Ehrenburgs über die Surrealisten in seinem Buch Mit den Augen eines Schriftstellers aus der UDSSR: „Die Surrealisten wollen zwar von Hegel als auch von Marx als auch von der Revolution etwas wissen, doch was sie ablehnen, ist arbeiten. Sie haben so ihre Beschäftigungen. Zum Beispiel erforschen sie die Päderastie und die Träume […] Der eine von ihnen befleißigt sich, eine Erbschaft, der andere, die Mitgift seiner Frau durchzubringen […] Angefangen haben sie mit obszönen Wörtern. Die am wenigsten Gewitzten unter ihnen geben zu, daß ihr ganzes Programm darin besteht, Mädchen zu küssen. Die sich ein wenig auskennen, begreifen, daß man damit nicht sehr weit kommt. Frauen, das ist für sie Konformismus. Sie vertreten ein anderes Programm: Onanie, Päderastie, Fetischismus, Exhibitionismus und sogar Sodomie. Doch selbst mit so etwas läßt sich in Paris nur schwer jemand hinter dem Ofen hervorlocken. Also […] kommt Freud zu Hilfe […]“ (Es brennt! Pamphlete der Surrealisten, 1998, S. 100)

Als Folge für die dem sowjetischen Nationalromancier verpaßte rote Wange und den ihm eingejagten Schrecken, durfte Breton bei einem internationalen Kongreß „zur Rettung der Kultur“, welcher von einem der KP nahestehenden Schriftstellerverband organisiert worden war, nicht auftreten. Paul Eluard vertrat seinen Freund Breton und hielt dessen Rede Als die Surrealisten noch Recht hatten, ganz am Ende der Sitzung, um Mitternacht, als die Delegierten schon aufbrachen und die OrganisatorInnen darauf drängten, endlich aufzuhören, weil bald das Licht abzudrehen sei. Das Licht ging schließlich mit einer heftigen Kritik an Stalin, dem „allmächtigen Führer, unter dem dieses Regime regelrecht zur Negation dessen wird, was es sein sollte und was es einmal gewesen ist…“ (ebenda, S.117), aus. Die gemeinsame Reise von surrealistischer Bewegung und KP war mit einem Schlag und der Kritik an den beginnenden Moskauer Prozessen zu Ende. Eine Zeit lang fühlte sich André Breton von Trotsky angezogen, mit dem er in Mexiko auch einen gemeinsamen Text über die Autonomie der Kunst verfaßte, doch ziemlich bald näherte sich Breton seinen libertären (frz. für freiheitlichen) Ursprüngen und fand sich im schwarzen Spiegel des Anarchismus wieder, frei nach Léo Ferré: „Marx war ein Hippie“

Die einfachste surrealistische Tat …

Trotzdem sie André Breton verteilt hat, kann die Ohrfeige aus dem Jahr 1935 nicht als surrealistischer Akt der Gewalt gesehen werden, sie hatte nämlich ein Ziel: die Wange Ehrenburgs. Wenn Gewalt, dann ziellose, also sinnlose, nicht zu vollbringende. Nur so findet die Sinnlosigkeit von Gewalt an sich ihren Ausdruck, indem sie sich als sinnlos und ziellos einprägt, alles andere wäre reale und manifeste Gewalt.

Im Zweiten Surrealistischen Manifest von André Breton 1930 kann etwas nachgelesen werden, das in seiner Provokation genau das ausdrückt: „Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen.“ (Bürger, Peter. Ursprung des postmodernen Denkens. S. 26). Auf den ersten Blick und überflogen könnte ähnliches von einem Futuristen wie Marinetti oder sonst einem Faschisten geschrieben worden sein. Doch die Gewalt der Schwarz- und Braunhemden war nicht ziellos, wenn auch willkürlich, war nicht Ausdruck größter Verzweiflung, sondern Programm, um ein Ziel, um die Macht zu erreichen. Die absolute Revolte, die Bretons Satz ausspricht, richtet sich nicht gegen bestimmbare Mißstände der bürgerlichen Gesellschaft, sondern gegen das Leben an sich, gegen die „conditions dérisoires, ici-bas.“, die unzumutbaren Zustände hier unten. Der revolvige Satz bringt die existentielle Verzweiflung, die dunkle Seite des Begehrens und die daraus resultierende Todessehnsucht zum Ausdruck. Die blinde Gewalt, welche Breton beschreibt, ist jene eines verzweifelten Individuums, das seine Ausweglosigkeit entdeckt, die Ausweglosigkeit aus der bestimmenden Fremdbestimmung durch Ideen oder Andere zu entkommen. Die reale, gewollte Gewalt in der Gesellschaft, ist jene, die die Schrauben festigt, die besser locker bleiben sollten, denn erst durch diese Festigung taucht ein fester Wille mit einem noch festeren Ziel und vielen tragischen Folgen auf. Den Massenmord an anderen vollbrachten immer nur Menschen, die ihre Taten in Einklang mit irgendwelchen Zielen bringen konnten, wie einen Feind zu vernichten oder die Welt zu retten. Kein Surrealist wurde je Revolverheld, kein Surrealist wollte je Welt oder Leben retten … Es galt einfach, sich allen Zielen zu verweigern, die angestrebte Revolution als Verweigerung aller Ziele zu setzen. Nur das Individuum, mit sich selbst, ist einer solchen Weigerung fähig, wenn es nichts mehr tut, was außerhalb seiner eigenen Triebe, seines eigenen Willens steht, wenn es die eigene Verzweiflung in der Welt aus Poesie, Liebe und Freiheit austobt.

Aus der scheinbaren Unrealisierbarkeit einer gelebten Verweigerung, richteten Surrealisten, wie René Crevel, den Revolver höchstens gegen sich selbst. Crevel kündigte seine Tat als Notwendigkeit an, um endlich etwas zu tun, auf das nur er Einfluß hat, das nicht in Zusammenhang mit irgend etwas, irgendwem anderen und einer Akzeptanz steht. „Das Leben, welches ich akzeptiert habe, ist das schlimmste Argument gegen mich selbst.“

Liebe, Freiheit und Poesie — In Luis Buñuels Film: Das Goldene Zeitalter aus dem Jahr 1930, wird genau diese destabilisierende Kraft ausgetobter, zielloser Gefühle illustriert. Der Protagonist des Films ist aufs leidenschaftlichste in eine Frau vernarrt, die nicht minder leidenschaftlich für ihn empfindet. Jeder Moment, jeder Ort wird genützt, um sich dieser Leidenschaft hinzugeben. Nach Erregung öffentlichen Ärgernisses wird er verhaftet. Was die Polizisten nicht wissen, ist, daß er selbst Beamter mit speziellen Vollmachten ist. Nachdem er sich eine Zeit lang geduldig und gelangweilt durch die Stadt zerren läßt und auf jeder Seidenstrumpfwerbung seine Geleidenschaftete sieht, reißt er sich los und zeigt den verdutzten Polizisten seine Spezialausweise, die ihn immun vor jedem Zugriff anderer Beamten machen. Er ist wieder frei und sprengt gleich ein mondänes Fest. Danach beißen sich die zwei wiedergefundenen Liebenden glückselig Finger und Zehen ab. Die Revolte des Beamten, die ganz im Sinne der surrealistischen Revolte ist, drückt sich dadurch aus, daß er seinen sentimentalen und triebhaften Grundbedürfnissen, koste es, was es wolle, folgt. Inzwischen geht der Staat zugrunde, eine Revolution bricht aus, der Innenminister ruft mitten im Geküsse an und erschießt sich, nach einer Tirade voller Vorwürfe gegen den wild gewordenen Beamten noch während des Telephonats. Nichts ist wichtiger als die spontane und leidenschaftliche Liebe, schon gar kein Staat oder Gott oder sonst jemand außerhalb des Ichs. Mitten im ganzen Trara spielt ein Orchester den Liebestod aus Tristan und Isolde (dem Liebespaar, das nicht nur für eine spontane Leidenschaft alle sozialen Bindungen, Ritter- und Königinnenkarriere zerstört, sondern auch noch aus einem Mißverständnis heraus stirbt, den Liebestod eben). Spontane Liebe auch bei Buñuel: denn nachdem der Protagonist von dem Gespräch zu seiner Geliebten zurück kommt, brennt diese mit dem greisen Dirigenten des Wagner spielenden Orchesters durch, was natürlich den Wildgewordenen die wirklich fast wichtigste Erfahrung des Surrealismus vergegenwärtigt: die Verzweiflung.

Die Moral der Geschichte, des Surrealismus ist, mit Breton ausgedrückt: „Gänzlich unfähig, mich abzufinden mit dem mir zugefallenen Schicksal, in meinem Wertgefühl zutiefst verletzt durch den Mangel an Gerechtigkeit, den in meinen Augen die Erbsünde keinesfalls entschuldigt, hüte ich mich davor, mein Dasein den hienieden für jedes Dasein geltenden lächerlichen Existenzbedingungen anzupassen.“ Vor lauter Wut zündet der Verlassene Held Bunuels einen Weihnachtsbaum an und wirft ihn aus dem Fenster.

Der Film blieb nicht ohne Folgen — Gezielte und manifeste Gewalt und echte Revolver folgten einen Tag nach der Uraufführung, als Schlägertrupps der Patriotischen und der Antijüdischen Liga das Kino stürmten und es verwüsteten. Zwei Tage später war der Film verboten und bis in die 90er Jahre nicht zu sehen.

Die komplizierteste surrealistische Tat …

Die gleichen Schlägertrupps sollten bald ganz Europa regieren und mit einer Gewalt überziehen, die sich selbst als Ziel nahm. Mord und Totschlag sind unter den Nazis und ihren Kollaborateuren Gesetz und Religion gewesen. Louis Aragon fand in dieser Zeit, als Haß gepredigt und Gewalt, sowie das Gruppen- und Wir-Gefühl zelebriert wurde, Worte und Gedichte, die in Folge vielleicht am eindrucksvollsten Menschen (unter anderem mich) in ihrer Verweigerung prägten. In seinem Essay Kunst und Politik im totalitären Zeitalter — Einige Bemerkungen zu Aragon (Marcuse, Herbert. Nachgelassene Schriften. Kunst und Befreiung, 2000, S. 47-71), beschreibt Herbert Marcuse die von Aragon kreierte Gegenwelt. Anstatt als Resistancekämpfer, der er war, über seine Heldentaten und die seiner KameradInnen zu poetisieren, widmete Aragon ganze Gedichtbände seiner Frau Elsa. Einer heißt Elsa, ein anderer Die Hände Elsas, Die Augen Elsas … Indem Aragon das Schöne, nämlich Elsa und seine Liebe zu ihr darstellt, stellt er gleichzeitig die Zerstörung dieser Liebe und jeder ähnlichen Welt und jedes ähnlichen Gefühls durch die Realität, die damals Nationalsozialismus und Krieg hieß, dar. Als einzige Lösung überhaupt und immer war in Folge: diese Realität zerstören zu müssen, und zwar durch eine, durch die Gegen- und Eigenrealität. Haß durch Liebe, die Gewalt durch sanfte Zuneigung und das Wir-Gefühl durch die Leidenschaft für einen Menschen ersetzen, in ihrer Intimität war die Verweigerung, die Surrealität vollkommen. Und nicht nur im Gedicht, sondern im Leben, sei es noch so höllisch wie das während der Nazizeit, griff diese Intimität um sich. Das mag sich zwar sehr romantisch anhören, doch verweigert diese Haltung des Individuums konsequent jedes weitere Verwirklichen der Wirklichkeit in seinem Bereich. „Oh meine Liebe, oh meine Liebe, du allein bist für mich in dieser Stunde trauriger Abenddämmerung“ (Louis Aragon).

Wider die Anpassung

Doch zurück zu den Anfängen des Surrealismus und dem Punkt, als die Suche nach dem Gold der Zeit angefangen hat. Eine zentrale Bedingung der Gesellschaft und der mit ihr verbundenen Verzweiflung zu entkommen, ist die Langeweile. Erst diese ermöglicht nämlich aufzubrechen und im ziellosen Herumirren durch den Alltag, die Ereignisse, Objekte und Menschen zu finden, die das neue, das eigene Universum bilden. Die Langeweile ist die wundersame Flamme, die endlich Licht auf einen selbst, auf die Mitwelt wirft. Breton und Nadja ist langweilig, deswegen durchstreifen sie Paris, wo andere arbeiten und jahrelang nichts anderes als die gleiche Routine wiederholen. Es durchstreifen Feen und Männchen in Grün Städte und Passagen wie Kinder eine zu entdeckende Welt durchstreifen, hintergedankenlos, dem irgendwas entgegen. Cafés und Bahnhöfe sind Ausgangspunkte und Orte, wo sich die Eingeweihten finden, um ihre dekonstruktiven Spiele zu spielen: das automatische Schreiben und das Entwerfen Erlesener Leichname.

Das Basteln Erlesener Leichname war als Bruch mit dem kodifizierten Geist und den eingeprägten Assoziationen ins Leben gerufen worden. Durch dieses Basteln soll der innere Reichtum der SpielerInnen ermessen werden, indem das Unbewußte durch Methoden eines Gesellschaftsspieles fixiert wird. Mehrere Personen schieben sich nach und nach ein Blatt Papier zu und beschreiben oder bezeichnen es sukzessiv, ohne zu wissen, was der andere geschrieben oder gezeichnet hat. Beim Entfalten des Papiers entstehen Dialoge und Wesen ohne jeden Wirklichkeitsgehalt, bzw. mit einem neuen Wirklichkeitsgehalt, mit jenem ahnungslosen der Beteiligten. Der erste Satz des ersten Spieles lautete „Der erlesene Leichnam“, alle anderen Sätze, die auf diesen folgten und folgen sind Assoziationen aus der Unendlichkeit des Zufalls, sind universelle Sätze. Durch dieses und andere Spiele entwickelte sich in der Gruppe keine Identität oder kein Zwang zur Gemeinschaft, es entwickelte sich viel mehr eine kommunikative Reibfläche verschiedener Vasen, die sich gegenseitig auffüllten und entleerten, auffüllten und entleerten…

Das Automatische Schreiben war von ähnlicher Qualität und gleichzeitig die ursprünglichste Methode, das erste Spiel der Surrealisten, wenngleich auch nicht von ihnen erfunden, da es schon längst im Barock kursierende Salonunterhaltung gewesen war. Der eigenen Definition Bretons zufolge, ist Automatismus Synonym von Surrealismus. Unkritisches, unreflektiertes und hemmungsloses Niederschreiben von Wortfolgen soll das Aufzeichnen der Botschaften aus der eigenen Traum- und Wahnwelt ermöglichen. Daß dabei trotzdem die Gesetze der Syntax eingehalten werden, ist darauf zurückzuführen, daß Breton bestimmte, daß der Inhalt, die produzierten Bilder als Ausdruck des Automatismus zu erkennen seien, was bei einem wort- und satzzerstörenden Gestammel à la Dada nicht möglich gewesen wäre. Spiel und Ernst waren gleichgesetzt, Literatur wurde zur Lebenspraxis, zur Entdeckungsreise mit anderen und in diese, mit dem und in das verschüttetste Ich. Das automatische Schreiben soll die letzten Bindungen zur Realität, zum Geist lösen, soll die Hingabe an den Kurzschluß sein, der den Menschen von etwas Stärkerem als mensch selbst überwältigen läßt und aus der Realität schleudert. 10 Stunden pausenlos auf ein Blatt schreiben und das einige Wochen lang, wenn auch in einer unbedingt gemütlichen Atmosphäre, wie bretonisch empfohlen — Mensch ist dann ein anderer Mensch.

Eine gewollte, aber ganz andere, in den Stundenplan des Leben eingreifende Wirkung hatten diese Spiele allenfalls: sie waren jeder der Norm entsprechenden Tätigkeit fast zur Gänze entzogen, vor allem aber zeitintensiv. Somit wurden alle beteiligten Spieler durch ihr Verhalten nutzlose Mitglieder der Gesellschaft — Bravo! Dutzende Menschen schlossen sich selbst aus, schafften es, durch ihren eigenen Ausschluß den Beweis dafür zu erbringen, daß nicht nur das surrealistische Bewußtsein, sondern auch die surrealistische Tat die Gesellschaft auflöst.

Warum? — Darum!

Zum Schluß eine kurze Frage auf eine kurze Frage, nämlich auf jene, was diese Auseinandersetzung mit dem vor 80 Jahren manifestierten Surrealismus soll, geschehen eigentlich genug aktuelle Explosionen und schrieb doch Adorno nachvollziehbar nach dem Zweiten Weltkrieg: „Nach der europäischen Katastrophe sind die surrealistischen Schocks kraftlos geworden.“ (Adorno, T.W., Noten zur Literatur, 1981, S. 102). Doch wenn der Anfang des surrealistischen Abenteuers nicht das Erstaunen vor dem Reichtum der Erscheinungswelt, sondern ein Zustand der Niedergeschlagenheit war, ist dann die Voraussetzung für dieses Abenteuer nicht immer gegeben, kann dann nicht immer verstört und gestört werden, und zwar nicht im Sinne der Realität, sondern im Sinne der Hoffnung, des Traums und der Schamesröte provozierenden Gefühle?

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