Architecture & Science
Oktober
1995

Die Zukunft der Stadt

Wenn ich mir Gedanken über die Stadt mache, wenn ich sie zu beschreiben und deuten versuche, verfalle ich gewöhnlich in eine Reihe, ich hoffe entschuldbarer, semantischer Fehler. Ich vergesse gern, daß die Stadt sowohl eine soziologische als auch eine ökonomische Größe ist, daß sie ein technisches Artefakt ist, und manchmal leider auch ein technisches Stereotyp. Vermutlich gehöre ich zu jenen Unverbesserlichen, die sich bemühen, in der Stadt um jeden Preis eine besondere und selbständige Kulturform zu sehen.

Mein zweiter Fehler liegt darin, daß ich mich allzu sehr für die humane Substanz der Städte interessiere und sie deshalb oft hypostasiere, vermenschliche, personifiziere. Ich teile sie nach Physiognomien und Charakteren ein, gerade so wie Menschen. Ich versuche mir, die innere Kraft zu erklären, mit der sie Versuchungen widerstehen und Lebensdramen bewältigen. Ich beobachte sie in ihren kleinen und großen Freuden, liebe ihren Sinn für Humor, wenn sie ihn haben, und bin bereit, ihnen kleinere harmlose Verschrobenheiten nachzusehen. Vor allem aber interessiert mich ihr Selbstbewußtsein, ihr Gefühl der Kontinuität ... Denn ich fürchte mich vor Städten ohne Gedächtnis, so wie ich mich vor Menschen ohne Unterbewußtsein fürchte.

Nicht selten verfalle ich auch in einen dritten Fehler. Wenn ich „Stadt“ sage, oder präziser „europäischer Stadt“, denke ich in der Hauptsache an Städte, wie ich sie gesehen, sie bewundert und geliebt habe. Ich glaube, daß meine jüngeren Kollegen noch nicht spüren, welch gefährlich schnellem Wandel die Städte unterliegen. Ich erinnere mich an Athen, solange es noch, von der Akropolis herab gesehen, in der Einbildung des Betrachters in den Rahmen der antiken Stadt zu versammeln vermocht. Bei zwei-drei späteren Besuchen, in Abständen von mehreren Jahrzehnten, erlebte ich wahre Schocks: Athen wucherte und wucherte, ergoß sich über die Ränder seines tales wie aufkochende Milch über den Topfrand. In gleicher Weise bewahre ich zumindest in der Erinnerung je zwei Bolognas, Vicenzas, Paduas. Ich meine damit natürlich die gesamte urbane Körperlichkeit und ihre schrittweisen Transformationen, und nicht nur die altertümlichen Kerne ... Venedig bleibt zum Glück unversehrt, denn wir haben uns schon daran gewöhnt, beim Passieren seiner festländischen Vorstädte ein wenig die Augen zu schließen ... Und auch Paris und London will ich hier erwähnen, an die ich mich noch in ihrem traditionellen Status erinnere, wie sie etwa noch Oscar Wilde oder Hysmans gesehen haben. Also ohne die gleißenden architektonischen Riesenmonster, die vielleicht in einer öden Landschaften de Chiricos jemanden faszinieren konnten. Ich für meine Person bemühe mich jedenfalls täglich aufs neue und versuche unablässig, aus dem visuellen Archiv der Erinnerung die alten „Aufnahmen“ abzurugen, als wollte ich sie auf alle erdenkliche Weise bewahren.

Es wäre an dieser Stelle vielleicht angezeigt, auch an die Entwicklung der urbanistischen Disziplin in den verflossenen fünfzig Jahren zu erinnern. Das Wissen um die Möglichkeit des Fehlgehens und um die Metamorphosen der Auffassungen kann von wesentlichem Einfluß auf die Einschätzung der Glaubwürdigkeit heutiger Prognosen sein.

Als ich im Herbst 1940 als Studienanfänger die pompöse Aula der Belgrader Technischen Fakultät betrat, wurde in der Abteilung für Architektur ein kleiner, weniger wichtiger Gegenstand vorgetragen: „Dekoratives Projektieren und Stadtgestaltung“ (also so etwas wie Stadtbaukunst ... L’art urbain) ... Heute ist man in der Theorie, und auch in der Praxis, bei sehr komplizierten, oft esoterischen urbanologischen Abstraktionen angelangt, die sich allein mit Hilfe transdisziplinärer Analogiemodelle und Simulationstechniken verfolgen und untereinander in eine Ordnung bringen lassen.

Ich werde das kurze Intermezzo der bunten „Schnellschuß-Theorien und Theoretiker“ überspringen. — Denn wer könnte heute ohne Humor Überlegungen anstellen über Städte unter der Erde, unter dem Meer, über Städte, die in der Stratosphäre schweben, über Stadtmechanismen, die ungelenk durch die Welt geistern wie monströse Stahlkäfer! Wahre Miseren waren das, wie sie es auch heute noch sind, diesseits und nicht jenseits der unbeschwerten Phantasien im Stile eines Cyrano de Bergerac oder Jules Verne. Schon seit den ersten Nachkriegstagen waren die Urbanologen, bereit sich auf Spekulationen höherer Ordnung einzulassen, fast bis zur Phobie von der „Angst vor dem Verlust der Stadt“ erfüllt. Die Zerstörung der europäischen Städte waren allzu augenfällig, und die atomare Drohung, alles das könnte auch noch „vollendet“ werden — war ganz real.

Zugleich mit der Erneuerung der zerstörten europäischen Metropolen und kleineren Städte setzte noch eine andere Bedrohung ein: die Bevölkerungsimplosion. Selbst Praktiker vom Fach wurden angesichts dieser Gefahr von Abwehrtheorien heimgesucht. Die Reaktionen waren klar und eindeutig: niemals zu großen Städte, niemals europäische Megastädte. Ganz im Gegenteil: Dezentralisierung, Zerschlagung der großen Städte, usw.

Es liegt eine sanfte Ironie darin, daß diese radikalen Theorien, zumindest in Plänen, zuerst am harmlosen Beispiel Helsinkis erprobt wurden. So wurde etwas in der in der Phantasie disloziert, was die Natur selbst schon zergliedert und dem sie, für einige Generationen im voraus, eine durchaus solide ökologische Zukunft vorherbestimmt hatte. Aber gerade im Namen solcher Theorien bekamen London, Stockholm, und auch andere europäische Metropolen, ihre Nebenstädte, ihre Satellitenstädte. Ihr selbständiges Schicksal ließ sich noch bis in die frühen sechziger Jahre hinein verfolgen. Es ist indes Tatsache, daß sie nie zu echten Städten wurden, und daß ihre Ergänzungs- bzw. Satellitenfunktion rasch erlosch, im selben Maße, wie das Gewebe der Metropolen massiv wucherte.

Schon seit den frühen sechziger Jahren boten billige Energie und der Romantismus der Informatik neue, scheinbar glänzende Möglichkeit. Man stellte zum Teil phantasievolle Überlegungen über eine vernünftig kontrollierte Rezentralisierung des urbanen Lebens an. Ich erinnere mich meiner Moskauer Architektenfreunde, die uns die Idee plausibel zu machen versuchten, aus einem Zentrum, buchstäblich aus einem Moskauer Wolkenkratzer, die Realisierung aller urbanistischen General-, aber auch Detailpläne auf dem Territorium der Sowjetunion zu überwachen. Die Sache wäre nur halb so lächerlich gewesen, hätten sich nicht die anwesenden amerikanischen Kollegen mit nostalgischem Gutheißen dieser Informatik-Narretei angeschlossen.

Anfang der siebziger Jahre standen sich zwei ausgesprochene konträre Auffassungen gegenüber. Als erstes mehrten sich die Anzeichen einer Rehabilitierung, ja Apologie der supra-urbanen Systeme. In einigen urbanologischen Exaltationen begannen Vorstellungen von einem einzigartigen Netz miteinander verknüpfter Megastädte zu wuchern, das wie dünne Spinnweben fast alle bedeutenderen Städte dieser Welt vereinen sollte. Es war dies eine Idee ohne Idee, denn bald darauf lief der Prozeß des mechanischen Zusammenwachsen der Städte bereits von selbst ab: in den Vereinigten Staaten, an der Ost- und Westküste, und hier und da in milderer Form auch in Europa ... Die zukünftige Pan-Urbs erhielt einen euphonischen Namen — Ökumenopolis, aber die Pläne erinnerten unheilkündend an einen Polypen, der die Erdkugel unerbittlich von mehreren Seiten umschlingt. Es ist schwer zu sagen, was diese realisierbare Utopie dem Menschen mehr geboten hätte, als er im trüben Durchschnitt eines „Reiches der Stadt ohne Stadt“ bereits haben konnte. Und wie stolz auf sein geistiges Kind war erst der Vater von Ökumenopolis! Er ließ es zu, daß man ihn diskret mit Aristoteles verglich. In gewisser Weise ähnelte er ihm sogar: er wiederholte dessen methodische Fehler. Er glaubte, er könne aus den Welterfahrungen — für heutige Verhältnisse computermäßig gut untermauert — ein paar optimale Rezepte für eine mehr oder weniger erfolgreiche Korrektur des gegebenen Zustands gewinnen. Allerdings war die Grundvoraussetzung weit entfernt von aristotelischem Optimismus. Die Megalopolis, jetzt bereits Mega-Megalopolis, sollte unser definitives Schicksal sein, und wenn es nun einmal so war, galt es eben, sie zum Glücksfall einer heiligen Unvermeidbarkeit zu erklären.

Auf der Gegenseite befanden sich Anfangen der siebziger Jahre die Platonisten, die Öko-Aktivisten, die Verteidiger der Integrität der Natur und ihrer kosmischen Matrix. Ihre urbanologischen Ideen waren nicht gerade übertrieben klar. Kritisiert wurde die Stadt, die große Stadt, die Stadt im Zerfall, kritisiert wurde, um mich eines Ausspruches Platos zu bedienen, die „Schande der Stadt“, aber die Kritiker hinterließen nicht annähernd so viele konkrete Vorschläge, wie sie Platos naive Urbanologie hinterlassen hat. Ich meine aber doch, daß sie in allen weiteren Betrachtungen eine wertvolle Note weisen Argwohns hineingebracht haben.

In den frühen achtziger Jahren erlebten wir zudem eine Energie-Flaute. Dieses Desaster ging, zumindest auf der Ebene der Theorie, völlig unbeachtet vorüber. War es ein Zeichen der Ermüdung, der Resignation, ein Zeichen der Absage an gleich welche allumfassenden theoretischen Rezepte für die neuenstandene Situation? Oder vielleicht ein stilles, unmerkliches Sich-Abfinden mit der Idee, daß die Stadt im klassischen Wortsinn, allmählich aus unserem deutlichen Gesichtskreis entschwand und in die Welt der mythischen Schatten einging und somit ein theoretisches Umlenken des bisherigen Praxis ohnehin vergeblich erschien.

Die Stadt ... die Stadt in ihrer bisherigen Form wurde uns vor gar nicht so langer Zeit geschenkt. „Vor gar nicht so langer Zeit“, archäologisch gemessen sind es kaum fünf, sechs, sieben Millenien. Im Verhältnis zu den über eine Million Jahre menschlicher Evolution ist das eine sehr kurze Zeitspanne. Anders gesagt, der Mensch ist in biologischer Hinsicht noch immer viel eher ein prä-urbanes als ein tatsächlich urbanes Wesen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich, wenn er muß, auch in einer ganz neuen Umgebung zurechtfindet, die ihm (im Glücksfall) materiell alles bietet, was ihm die Stadt gegeben hat. Ich zweifle nicht, daß sich die undankbare menschliche Natur leichten Herzens von den emotionalen und mentalen Rahmen der heutigen Stadt, von den traditionellen Arsenalen des Denkens und Verhaltens, von den Symbolen und Archetypen verabschieden würde. Es ist nur nicht klar, ob das ein Schritt nach vorn oder zurück wäre.

Es scheint, daß wir allzu leicht den Begriff — oder nur das Wortspiel — „postindustrielle Zivilisation“ akzeptiert haben. Für dieses Akzeptieren gibt es auch gute Gründe: es gäbe eine präindustrielle, warum soll es nicht auch eine postindustrielle Zivilisation geben. Aber mit dem Attribut „posturban“ lassen sich die Dinge viel schwerer in eine Ordnung bringen. Das Schlagwort von der „posturbanen Zivilisation“ ist eine sehr zweifelhafte sprachlich-logische Konstruktion, denn vor den Städten hat es nichts gegeben, was dem heutigen Begriff der „Zivilisation“ vergleichbar wäre. Deshalb stellt sich berechtigterweise die Frage, ob man von einer Zivilisation im heutigen Wortsinn in einer noch völlig ungeklärten, trüben posturbanen Umgebung überhaupt sprechen kann.

Eine der futurologischen Spielerein, die gerade von einer solchen contradictio in adjecto ausgehen, heißt gewöhnlich „globales“ oder „elektronisches“ Dorf. Ich verwerfe die Vorstellung nicht, zumindest nicht im Bereich der phantastischen Theorie von einem inhaltvollen und produktiven Leben, zu dem die Stadt als unmittelbarer physischer Kommunikationsrahmen überhaupt nicht vonnöten ist. Aber eine globale, harmonische Organisation der Welt, sei sie urban oder posturban, setzt den globalen Menschen voraus. Wie es sicher ist, daß ein solches ideales Phantom niemals existieren kann, so schwer ist vorstellbar, daß die elektronische Zivilisation ohne Stadt planetarisch und allgemein human sein könnte. Und eine Handvoll zerstrittener Mega-Weltdörfer, bewaffnet mit furchterregenden technischen Innovationen und hohlköpfigen Fanatismen würde die Szenarien aller bisher bekannten Horrorfilme weit übertreffen.

Die Zeit weitreichender, vorgeblich visionärer Vorhersage ist vorbei. Übrig bleiben noch kleinere Vorhersagen für kürzere Fristen. Manchmal fallen diese schwerer als große Prophezeiungen, denn sie müssen in die tatsächlichen Entscheidungen einfließen und können wie Gebrauchsanweisungen mit ihrer scheinbaren Kargheit auch enttäuschen. Zum heutigen Zeitpunkt wäre es vielleicht am klügsten, vom Einfachsten auszugehen: das bewahren, was man besitzt und was als allgemeiner Wert noch Bestand hat. Und das sind zweifellos die traditionellen europäischen Städte. In der größten Zahl der Fälle sind sie dem Gespenst megalopolitanischer Hypertrophien vom außereuropäischen Typ glücklich entgangen. Von ihnen unterscheiden sie sich nicht nur nach der Größe des Anteils, dem Grad der Skrupulosität der Technik, die sich in das alltäglich Leben einmischt, sondern vor allem auch nach ihrem geistigen Gefüge und nach der intellektuellen Energie, die sie ausstrahlen. Ich will die glänzenden geistigen Zentren der Neuen Welt und die kulturelle Reichtümer vieler bewunderungswürdiger Städte des Nahen und Fernen Ostens keineswegs unterschätzen. Aber man braucht die Phänomene nicht ohne Notwendigkeit übereinanderzulegen, und man soll nicht vergleichen, was nicht zu vergleichen ist. Bleiben wir also bei Beispielen, die uns vor Augen sind.

Die europäische Stadt ist noch immer eine lebendige, aktive Kulturform. Selbst als physische Realität, als System von Artefakten, ist sie fest verankert in ihren sozusagen metaphorischen Widerlagern. Mit diesem ungewöhnlichen Ausdruck möchte ich versuchen, die komplizierten Systeme materieller und immateriellen Transmissionen zu erklären, die das Gedächtnis der Stadt hinreichend definieren und die erkennbaren Rahmen ihrer Persönlichkeit umreißen. Wenn wir uns nur daran erinnern, daß jede tiefere, intime Kommunikation zwischen Mensch und Milieu, Mensch und Stadt, Mensch und Mensch in der Stadt gerade auf der wortlosen Sprache der Symbole beruht.

Bei aller unerträglichen Flut an visueller Information leiden viele moderne Städte in der ganzen Welt an einem fast chronischen „symbologischen Mangel“ und sind letzten Endes doch um die Möglichkeit tieferer, verborgener Botschaften gebracht. Das ist aber gerade jener wertvolle Lesestoff, über den sich die Städte lesen, verstehen und deuten lassen. Die Stilarchitektur z.B. hat immer eine breite Skala der Selbstdarstellung geboten, sowohl dem Inhalt als auch der Art und Weise nach, verschieden jeweils für verschiedene Städte. Städte lassen sich, ganz gleich wie Menschen, psychologischen Analysen unterwerfen, und die ganze Fülle an Zierart und phantastischen Wesen, mit denen die Fassaden der vergangenen Jahrhunderte beladen sind, bildet ein hervorragendes Material für die Erforschung des kollektiven Bewußtseins, aber auch des kollektiven Unterbewußtseins. Da sollten sich die Architekten von heute keinen Irrtümern hingeben. Auch ihre scheinbar ornamentlose Architektur wird früher oder später eine geheime, dem Analysieren und Paraphrasieren unterworfene Psycho-Ornamentik an den Tag bringen, was ich an ihrer Stelle eher als Kompliment denn als Tadel auffassen würde.

Und wenn es schon so ist, wenn wir den inhärenten Symbolismus von Urbanismus und Architektur akzeptieren, wollen wir ihm zugestehen, daß er bewußt, rational, strukturell, eruditiv gefördert wird, von allem Anfang an, ab ovo!

Freilich, das bewußte Einbringen einer esoterischen Komponente in all das, was wir als Planung, Urbanismus, Architektur, design bezeichnen, darf bzw.dürfte nicht willkürlich sein und auf monentanen Einfällen basieren. Es handelt sich um eine Art tiefer, dramatischer Dokumentation, die jede Zeit von sich und ihren Städten zurückläßt. Und das ist gewiß nicht nur das Geschäft der Planer, Urbanisten und Architekten. Das ist das Geschäft aller, und hier hat jeder etwas beizusteuern und mitzuhelfen. Auch die Menschen der Literatur, und des Theaters, und des Films. Und dann das Fernsehen, diese teuflische Erfindung — so viel es zur Unifizierung und zur Auslöschung individueller urbaner Codes und zur Gleichschaltung von Städten und Städtebewohner beitragen kann, so groß, und noch größer, könnte sein Beitrag in der entgegengesetzten, der positiven Richtung sein. Lassen Sie uns nur bei dem bleiben, wie groß die Rolle des Bildschirms bei der Identifikation und Präsentation von urbanem Milieu ist. Der moderne Mensch erlebt seine Städte wenigstens auf zweierlei Weise. Entweder im direkten Kontakt oder aber als medial bearbeitet, medial durchsetzter Raum. Letztlich dringt die Fernsehkamera durch die Fassade und das Innere des Hauses ein, enthüllt das Intimleben der Stadt, fiktiv, dramatisiert, aber auch reportagehaft real. Alles das sind neue Möglichkeiten der Selbstdefinition, nur in unachtsamen oder skrupellosen Händen können sie sich in ein bösartiges Instrument der Depersonalisierung der Stadt und das urbanen Menschen verwandeln.

Es scheint durchaus angebracht, daran zu erinnern, daß die moderne Großstadt ein brüchiges Konstrukt und ein labiler Organismus ist. Es reicht aus, eine oder zwei regelmäßige technische Injektionen zu überspringen, daß ihr Metabolismus ins Wanken gerät, bis an den Rand einer Katastrophe. Die Beziehung Statd/Natur ist zum Großteil gestört, wenn man dasjenige noch als Natur bezeichnen kann, was im engeren und weiteren Umkreis die großen Städte umgibt. Soziale und kulturelle Schichtungen erschweren die zwischenmenschliche Kommunikation, manchmal bis zu buchstäblicher biblischer „Sprachverwirrung“. Und doch, Stadt ist Stadt, das Höchste und Wertvollste, was uns zur Verfügung gestellt ist, und gerade deshalb ist die schwerste Drohung diejenige, die die Stadt selbst in Frage stellt, die Stadt als Idee, die Idee als Bild, dieses System aus Metaphern und Tropen, das man, wie einst die Stadttore, durchschreiten muß, um wirklich in die Stadt zu gelangen.

Es scheint, daß diese meine Überlegungen gerade durch meinen Aufenthalt in Wien angeregt werden, einer Stadt voller bezaubernder architektonischer Allegorien und verborgener Botschaften. Die imposante Persönlichkeit dieser Stadt beruht gerade auf den sich kreuzenden Metaphernmatrizen des Raums und — in Symmetrie dazu — auf den übertragbaren Matrizen menschlicher Kommunikation. Diese Interaktion ist komplex und reich, genauso wie der Code der Korrelationsbegriffe Gedanken/Sprache oder umgekehrt, ganz gleich, Sprache/Gedanke.

Wenn ich dieses Lob der Stadt Wien formuliere, denke ich nicht nur an den traditionellen Statdkern. Ich habe das weitere Territorium der Stadt im Blick, das ich als ein Amalgam historisch gewordener, noch immer persönlich gekennzeichneter Städtchen und ehemaliger stadtnaher Dörfer verstehe. Das Porträt der Stadt (noch so eine handliche Hilfsmetapher) zerfällt wie in einem System von Spiegeln in eine Unzahl von Mini-Porträts ein und derselben Persönlichkeit. Die Charakterisierung wechseln mit jedem gemachten Schritt und bleiben doch, bis in kleinste Einzelheiten, dem Idealmuster des Ganzen treu ... Ich sehe in dieser Besonderheit eine Art von ästhetischem, genauer, stilistischem Demokratismus, aber darüber möchte ich lieber zu anderer Gelegenheit und ausführlicher sprechen.

Es scheint mir weiterhin so zu sein, daß gerade Wien jenes wahre geistige Umfeld darstellt, aus dem heraus man daran erinnern sollte, daß Persönlichkeit und Schicksal einer Stadt untrennbar miteinander verbunden sind. Städte mit vernachlässigter, vergessener Identität sind gewöhnlich Städte ohne Zukunft oder zumindest ohne eigene Zukunft.

Leider gibt es inden Ländern des mittleren Donauraums und des westlichen Balkans viele Städte, deren Persönlichkeit absichtlich erniedrigt und vernichtet wurden. Sollte die Kriegspest einmal aufhören und sollten diese Städte erneut wiederhergestellt werden, wird man sie dann wiedererkennen? Oder wird man sie, selbst wenn sie erneuert werden, in etwas verwandeln, was sie nicht gewesen sind, oder noch schlimmer — in etwas, was sie nicht sein wollten. Denn die Mörder der Städte haben mit unfehlbarer, fast bestialischer Intuition jede Stadt direkt in ihr vitales Zentrum getroffen; in ihr Gedächtnis, ihre Talismane des Selbstbewußtseins und der Identität.

Der Primitive hat genügend finstere Gründe, vor der Statd zurückzuscheuen, der Primitive fügt sich nicht in den urbanen Diskurs ein. Er kann sich nicht wohlfühlen vor Manuskripten, die er nicht lesen, geschweige denn verstehen kann. Solche Handschriften steckt er in Brand; er tut das figurativ, symbolisch, aber auch ganz real. Was für das geschriebene oder gesprochene urbane Wort gilt, gilt noch mehr für das Wort Stein — für die Stilformen, die Stilschriften. Und gerade diese Stilschriften, angefangen von den klassischen bis hin zu den modernsten, gewährleitsten den Raum der Erinnerungen, das metaphysische Feld der Eigentlichkeit.

Doch auch außerhalb der Zone des Grauens, außerhalb des Weichbildes der zerstörten und niedergebrannten Städte im weiteren mitteleuropäischen Raum Schwierigkeiten haben mit der Redefinierung ihrer Identität. Über sie ist eine andere Urgewalt hinweggerollt: die sowjetischen urbanistischen Modelle, unerträglich hart und einförmig, haben Teile der historisch entstandenen und individuell geformten Städte in Landschaften einer depressiv leeren und kalten Swedenborgschen Hölle verwandelt.

Die großen politischen Veränderungen, die sich im Südosten Europas ereignet haben, die Schaffung so vieler kleiner Staaten, werden in jedem Fall Einfluß auf die weitere Entwicklung der Städte in diesem Raum haben. Ihr Schicksal hängt in vielem davon ab, welcher Art diese Kleinstaaten sein werden — ob demokratisch, civistisch, offen, frei von ethnischen und antikosmopolitischen Vorurteilen ... oder ob sie sich eher in einen National-Autismus verschließen, in einem morbiden Romantismus, in einem falschen Paraphrasieren der Vergangenheit verlieren werden ... Wenn sie jedoch den Weg der Öffnung und des Aufeinanderzugehens wählen, dann braucht dieses System kleinerer, nicht gerade übertriebenen festummauerten Staaten im Prinzip gar nichts Häßliches zu sein. Die Gegliedertheit der Territorien würde, wenn nichts anderes, ein physisches Hindernis gegen das Auswuchern und Aufgehen der Städte in depersonalisierten, pseudourbanen Systemen bilden. Mehr noch, es könnte das eine attraktive Einleitung zu einem zukünftigen Europa der Städte sein, anstelle eines Europas von Großstaatnationen. Natürlich nur, insofern die urbanen Patriotismen in absehbarer Zeit die heute scheinbar unüberwindlichen Urgewalten des post- und neokommunistischen Nationalismus in den Griff bekommen.

Es gilt für einen Augenblick der guten Seiten des europäischen urbanologischen Modells des 18. Jahrhunderts zu erinnern: selbst kleinere Kleinstaaten besaßen — bei symbolischen Grenzen — reiche, kulturell übermächtige Städte, Minimetropolen. Daß so etwas tatsächlich gut funktionieren kann, zeigen auf ihre Weise die Memoiren des Giacomo Casanova: Die Bände seiner Erinnerungen sind viel eher ein Städtebrevier, eine Sammlung von Porträts großer und kleiner europäischer Hauptstädte, als daß sie eine Anthologie zweifelhafter Aventuren wären. Casanova, geborener Venezianer, französischer Schriftsteller, im Dienste deutscher, polnischer, tschechischer Duodezfürsten, war, neben allem sonstigen, auch ein überzeugter Pan-Europäer, und seine Erinnerungen sind geradezu der Beweis dafür, daß zu jenem Zeitpunkt das Europa der Städte wirklich existiert hat und daß es, nur scheinbar durch Dutzende oder Hunderte symbolischer Grenzen geteilt, ein einheitlicheres Europa war, als es das vielleicht im nächsten Jahrhundert sein wird; einheitlicher in jedem Fall, als es das heute ist ...

Vortrag gehalten am 1. Dezember 1994, beim Symposium „Metropole 2000“ des Stadtforums im AustriaCenter Wien. Aus dem Serbischen von Klaus Detlef Olof / © by Bogdan Bogdanovic.