FORVM, No. 462-464
Juli
1992

Drogen, Sucht, Beängstigung

Das Problem läßt sich nicht leugnen, noch einfach aus der Welt schaffen. Vielleicht läßt sich aber eine einigermaßen vernünftige Einstellung dazu gewinnen. Für mittel- und unmittelbar Betroffene.

Ich weiß nicht, ob ich der geeignete Referent für das Thema bin. Ich besitze zwar etwas Erfahrung mit drogenabhängigen jungen Menschen, aber doch nicht soviel, daß ich als Fachmann auf diesem Gebiet gelten könnte. Und dann noch:

In meiner Jugend hätte ich einen Vortrag über die Gefahren der Drogenabhängigkeit nur so aus dem Ärmel geschüttelt. Ich war damals Mitglied bei den Jugendgruppen des Blauen Kreuzes, und ich hätte jederzeit allen, die es hören wollten, erzählt, wieviel schöner doch ein Leben ohne Drogen ist, und denen, die es nicht hören wollten, erst recht. Ich machte bei Traubensaftaktionen mit, bei Sammlungen, sang erhebende Lieder. Natürlich ging’s dabei ums Trinken, andere Drogen kannten wir damals, in den Fünfzigerjahren, nur vom Hörensagen. Aber das Grundmuster war mir sehr klar: Ich wußte genau zu unterscheiden zwischen Süchtigen, Gefährdeten und Geretteten.

Unterdessen bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich habe erlebt, wie innerlich gefestigte Leute sehr viel Elend um sich verbreiten oder in sich haben können. Den Sicheren begann ich zu mißtrauen. Ich denke heute, die hätten in unserer Welt viel mehr Unheil angerichtet als die Unsicheren, Gefährdeten. Nehmen Sie deshalb das, was jetzt kommt, nicht als Weisheit. Nehmen Sie’s als Überlegungen von einem, der in diesen Dingen immer unsicherer wird und der versucht, trotz heißen Herzens kühlen Kopf zu bewahren. Sieben Punkte haben sich in unzähligen Gesprächen bei mir angesammelt:

1. Alkohol ist keine Droge, wohl aber Beuteltee. „Droge“ kommt von „trocken“, eine trockene Sache, und damit meinte man nicht derartige Vorträge, sondern beispielsweise Kräuter („tierische und pflanzliche Rohstoffe“, steht im Wörterbuch), die man trocknete, verarbeitete (auch chemisch) und anschließend als Gewürz, als Medizin oder als Genußmittel brauchte (siehe z.B. Duden Bd. 7). Also: Das Auto ist keine Droge, Schnaps ebenfalls nicht, Haschisch ist eine, Heroin auch, Tabak, Kaffee, Nelken und Salbei ebenfalls, Fernsehen ist keine, übermäßiges Arbeiten auch nicht, hingegen gefriergetrocknetes Serum, Moschus oder Chinarinde. Bei uns wird der Begriff „Droge“ anders gebraucht, ungenauer. Man bezeichnet damit alles, von dem man glaubt, daß es andern Leuten schadet. (Es gibt Haschischkonsumenten, welche Zigarettenrauchen als ungesund bezeichnen oder auf Gewohnheitstrinker herabschauen.)

Mit dem Wort „Sucht“ bezeichnete man Seuchen, schwere Krankheiten, Sünde, die „erotische Unbefriedigtheit der Frauen“, Faulheit, sittliche Verderbtheit, üble Gewohnheiten, und neben vielen ausländischen Süchten, der welschen (Grippe), neapolitanischen (Syphilis) undsoweiter, kannte man auch die „hänfene Sucht“, und das ist jetzt nicht, was Sie sich wahrscheinlich denken, so nannte man vielmehr den „Tod durch den Galgenstrick“. Wer das in Grimms Deutschem Wörterbuch so durchliest, dem fällt auf: Das Wort taucht immer dann auf, wenn etwas unheimlich ist, gefährlich, moralisch verwerflich — und wenn man dabei das Gefühl hat, es könnte einen selbst oder die eigenen Kinder ebenfalls treffen.

„Droge“ und „Sucht“ sind Angstmacher-Begriffe. Sie helfen nicht, etwas zu verstehen, man kann damit bloß Schubladen anschreiben. Angst spielt vermutlich überhaupt eine große Rolle: Angst vor dem ganzen „Drogenproblem“, aber auch Angst vor den Menschen, die man als „Süchtige“ bezeichnet, die man kaum versteht und zu denen man kaum Zugang findet. Und immer wieder auch Angst um diese Menschen.

Diese Angst ist auch meine Angst. Darum halte ich die, welche im Zusammenhang mit dem „Drogenproblem“ andere Schlüsse ziehen als ich und beispielsweise vom Staat ein härteres Durchgreifen fordern, nicht einfach als intolerante Hinterwäldler. Ich glaub’ ihnen ihre Angst. Aber ich glaube auch zu wissen, daß die Angst ein schlechter Berater ist.

2. Öffnen wir die Schublade mit der Aufschrift „Heroinsucht“: Es lassen sich zwei große Gruppen von Heroinabhängigen ausmachen. Da sind einmal die Fixer, die Schnupfer, die, welche ins Zittern kommen, wenn kein Stoff mehr da ist. Und dann ist da noch eine andere Gruppe: Polizisten, Richter, Sozialarbeiter, Bankiers, Methadonhersteller. Die sind noch gefährdeter als die Fixer, die geraten bereits ins Zittern, wenn Heroin legalisiert wird. Etwa zwanzig Prozent der Winterthurer Jugendstrafrechtsfälle sind Drogengeschichten (Mitteilung der zuständigen Jugendanwaltschaft). Dazu kommen nach Kriminalstatistik noch etwa zehn Prozent andere Straftatbestände, bei denen Drogen eine entscheidende Rolle spielen. Eine Legalisierung würde also bei rund dreißig Prozent der einschlägig befaßten Sozialarbeiter, Polizisten usw. Entzugserscheinungen hervorrufen. Zählt man zu dieser Gruppe noch die Politiker, welche sich mit dem Drogenproblem profilieren, oder all die Rechtschaffenen, die auf die Drogenabhängigen herunterschauen und so mit wenig Aufwand zu einem guten Selbstwertgefühl kommen (um von den windigen Figuren, die im Büro sitzen und am Handel verdienen, zu schweigen), so ist diese zweite Gruppe riesengroß, viel größer als die erste.

3. Jeder Hühnerhof hat eine Hackordnung und zuunterst ein verschupftes Huhn. Wir Menschen sind da nicht viel anders (siehe Dürkheim 1981 oder höre Puls 1992). Die Hühnerhof-„Gesellschaft“ hat in unsern Breiten eigenartigerweise immer etwa drei bis fünf Prozent verschupfte Hühner: Soviele Schüler sitzen in Sonderschulen, soviele Erwachsene sind wegen gröberen Delikten (auch wegen Drogengeschichten) rechtskräftig verurteilt. Diese drei bis fünf Prozent sind offenbar notwendig, damit’s noch auffällt, damit zum Beispiel die Eltern zu ihren Kindern sagen können: „Wenn du dich nicht anstrengst, wirst du auch einmal dort landen.“ Aber zuviele dürfen’s auch nicht sein, sonst wird’s lästig. Dann wird in den Zeitungen über die Schule gejammert (oder Bücher wie Dummheit ist lernbar werden zum Erfolg), dann sind die Gefängnisse überfüllt, dann überquillt der Platzspitz und Zürich ist keine saubere Stadt mehr. Interessant ist, wie sich das dann, gleichsam wie von selbst, reguliert. Es gibt „Integrationsbestrebungen“ in den Schulen, Kleindelinquenten werden nicht mehr eingesperrt. Und das Drogenproblem wird in Angriff genommen. Man verfolgt die Kleinkonsumenten nicht mehr (etwas, was man noch vor ein paar Jahren mit Begeisterung tat), und wenn die Schließung des Platzspitz bloß zur Folge hat, daß die Fixer jetzt in den Quartieren herumhängen, tut der Staat etwas, das er den Leuten eben verboten hat: Er hilft ihnen bim Fixen, mit Gassenzimmern, mit Gratis-Heroin-Abgabe, als Versuch natürlich, mit einer eher kleinen Gruppe. In meiner Jugend schaute man auf die „Halbstarken“ hinunter, heute fällt „halbstarkes“ Verhalten nicht einmal mehr auf, und das nicht, weil die Welt schlechter geworden wäre, sondern weil wir andere Hühner verschupfen.

4. Der Drogenhandel ist ein Bild von biblischer Kraft für unsere Wirtschft überhaupt (höre Puls 1992): Die Rohstoffe sind billig, denn die Leute werden ausgesaugt, die sie anpflanzen. Die Herstellung kostet ebenfalls nicht viel und der Preis ist maximal hoch. Der Handel wird vom Staat unterstützt in einem Maße, von dem andere Händler nur träumen können: Weil das Produkt verboten ist, bleiben die Preise künstlich hoch, Qualitätskontrollen gibt’s ebenfalls keine. Wer sich das Produkt nicht leisten kann, wird kriminell oder verelendet und wird nachher auf irgend eine Weise vom Staat verköstigt. Was geschähe wohl, wenn alle Heroinabhängigen ihren Stoff gratis kriegten? Kämen dann nicht die Wohn-Abhängigen, die Nahrungs-Abhängigen, die Bekleidungs-Abhängigen, geriete da nicht unser ganzes Wirtschaftssystem ins Wackeln? Nein, beim Versuch der Gratis-Heroinabgabe wird’s vermutlich beim Versuch bleiben.

5. Ich alter Blaukreuzler weiß immer weniger, was für andere gut ist. Immer mehr habe ich Achtung vor dem, was Menschen alles versuchen, um mit ihrem Leben halt irgendwie fertigzuwerden. Auch dort, wo ich den Eindruck habe, daß sie sich schaden. Und schaden kann man sich selber auf verschiedenste Art: mit Hungern, mit Sich-Überfressen, mit Autofahren, mit Sport-Treiben, mit Nichtstun, mit Sich-Überarbeiten, mit Drogenkonsum, mit Puritanismus, mit Teufelsanbeterei, mit Gottesfurcht. Aber was heißt: sich schaden? Bringt das nicht vielleicht jemandem etwas, das für diesen Menschen halt wichtiger ist als der Schaden, den ich dabei sehe? Wer bin ich denn, daß ich das beurteilen könnte? Ich kann keinem Menschen ins Herz sehen — mit welchem Recht rede ich ihm ins Leben hinein? (Ganz abgesehen davon: Was ist ungesünder — Rauchen oder Arbeit in einer Betonfabrik? Auf die Lunge schlägt beides.)

Zeitgenössischer Schnappschuß
unbekannter Meister

6. Es gibt, denke ich, zwei Gründe, trotzdem dreinzureden: Wenn jemand zugleich andern schadet, oder wenn jemand in eine Abhängigkeit hineingerutscht ist, da wieder heraus möchte und es ohne Unterstützung nicht schafft. Für den ersten Fall gibt’s Gesetze, für den zweiten Therapie-Angebote, und auf diesem zweiten Gebiet sind die Möglichkeiten überhaupt noch nicht ausgeschöpft.

Es gibt ja Arten, sich selbst zu schaden (und da gehört der Heroinkonsum sicher dazu), bei denen der Betreffende auch noch seelisch vereinsamt. Das erschwert das Aufhören zusätzlich. Darum scheinen mir die Fixerstüblein eine gute Sache zu sein, oder das, was man in Liverpool versucht, überhaupt alle niederschwelligen Programme, bei denen man von den Leuten nicht zuerst gottweißwas verlangt, sondern sie einfach so nimmt, wie sie sind, dazu schaut, daß es ihnen körperlich einigermaßen gut geht und so, über diesen Kontakt versucht, die seelische Vereinsamung wieder etwas aufzubrechen.

Was man vor allem tun kann, nein, tun muß: die Verelendung und die Kriminalisierung bremsen. Beides hängt ja eigentlich nicht mit dem Drogenkonsum zusammen, sondern mit dem Verbot. Da werden Menschen, die wahrscheinlich an ihrer Abhängigkeit genug zu kauen haben, zusätzlich belastet: Weil ihr Stoff (im Gegensatz zu Alkohol oder frommen Schriften) verboten ist, müssen sie unglaubliche Preise dafür zahlen und dafür dealen, stehlen, einbrechen, was weiß ich. Und was die abschreckende Wirkung des Verbots betrifft — mein Gott, das haben die Amerikaner schon in den Zwanzigerjahren mit dem Alkohol versucht, und dort gab’s vor, während und nach dem Alkoholverbot etwa gleichviel Alkoholkonsumenten. Nur ging’s denen während des Verbots schlechter.

Ich glaube zu sehen, wie die Leute in unserem Land, die hinschauen und nicht einfach von Glaubenssätzen ausgehen, zunehmend draufkommen, daß unsere Art der Drogenverhütung, die mit Verbot und Polizei, völlig versagt hat. (Ganz im Sinne Nestroys: „Die Polizei scheint nicht das richtige Mittel gegen’s Stehlen zu sein, sonst gäb’s schon lang keine Dieb’ mehr.“) und daß wir dringend andere Lösungen brauchen. Der Vorschläge dazu sind viele, von der völligen Freigabe des Marktes über das staatliche Monopol bis zur kontrollierten Abgabe harter Drogen durch Ärzte und Apotheker. Ich selber bin immer dezidierter für Freigabe. Es wird halt drauf ankommen, was politisch machbar ist. Aber irgend etwas in dieser Richtung muß geschehen, ganz dringend.

7. Was können wir als Eltern tun, als Lehrer, als Märtplatzleiter. Eigentlich, denke ich, nicht eben viel. Die jungen Menschen kommen mit unserer Welt in Kontakt, ob uns das paßt oder nicht. Und sie müssen mit der Zeit selber herausfinden, was für sie gut ist und was ihnen schadet, manchmal auf vielen Umwegen, auch wenn uns das schmerzt. Genauso wie wir das für uns selber herauszufinden versuchen, auch wenn das vielleicht unsere Eltern schmerzte. Das klingt ziemlich abgeklärt, ist es aber keineswegs. Ich muß mir das auch immer wieder vorsagen, wenn ich sehe, wie ein junger Mensch, den ich gern habe, in etwas hineingerät, von dem ich glaube, daß es ihm nicht gut tun kann. Ich habe keine eigenen Kinder, und ich denke, daß das für Eltern noch viel schwerer ist. Und trotzdem kann ich so einen Menschen nicht bremsen, es ist sein Leben, ich kann es nicht leben, und seine Eltern können’s auch nicht.

Und dann denke ich trotzdem, daß wir viel tun können. Wir können so früh wie möglich um uns herum ein Klima zu schaffen versuchen, in dem man über alles reden kann, was beschäftigt, bedrückt, geschieht. Und in dem ein junger Mensch spürt: Egal, was ich berichte, egal, ob dieser Erwachsene ähnlich denkt oder anders, ich selbst bin akzeptiert, als Person, als eigenständiger Mensch. Bei uns am Märtplatz weiß jeder, daß es für ihn keine negativen Auswirkungen hat, wenn wir erfahren, daß er irgend einen Blödsinn angestellt hat, igendwo hineingeraten ist, und daß wir das mit andern genauso halten. Deshalb erfahren wir eigentlich ziemlich schnell, wenn’s einem unserer Leute schlecht geht. (Was eine solche Haltung oft erschwert, ist wieder die eigene Angst, mir auf jeden Fall geht’s so. Und diese Angst wird geschürt, durch das, was man so sagt, so liest, auch was wir selbst erlebt haben. Aber ich denke, die Angst ist in diesem persönlichen Bereich ein mindestens ebenso schlechter Berater wie bei der Drogenpolitik.)

Noch etwas: Mir ist aufgefallen, daß beim ganzen Problem die Langeweile eine große Rolle spielt. Auch da können wir ansetzen: Wie können wir uns, mit den jungen Menschen, mit denen wir zu tun haben, das Leben etwas kurzweiliger gestalten?

8. Wie ich das Material für diesen Vortrag sammelte, fiel mir plötzlich etwas auf. Bis zum Jahr 1979 stieg bei uns die Zahl der jährlichen Drogentoten stetig, bis auf 102. Im Jahr 1980 fiel sie auf 88, aber schon 1983 schnellte sie wieder auf 144 und stieg seither weiter wie gehabt. Aber erinnern Sie sich noch, was in diesen frühen Achtzigerjahren war? Das war die Zeit der Jugendunruhen, die Zeit, da sich viele junge Menschen mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln für eine lebendigere und menschlichere Welt einsetzten. Und das wär doch gewiß auch eine gute Idee: Daß wir Alten uns gemeinsam mit den Jungen für eine solche Welt einsetzten, möglichst mit möglichen Mitteln. Für eine Welt, die weniger zynisch funktioniert, als wie ich das in meinen ersten Punkten beschrieben habe. Das kann eine kleine Welt sein, wenn wir die große dabei nicht aus den Augen verlieren. Aber wir hätten alle etwas davon.

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