Grundrisse, Nummer 5
März
2003

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

Es kann nicht zu den Aufgaben einer vierteljährlich erscheinenden Theoriezeitschrift zählen, unmittelbar aktuelle Ereignisse zu kommentieren. Der Bezug zur gegenwärtigen Situation kann in der Regel nur ein indirekter, vermittelter sein. Wir versuchen, Begriffe zu diskutieren und Ansätze weiterzuführen, die für sich beanspruchen, geeignete Werkzeuge darzustellen, um den Charakter der aktuellen Epoche begreiflich zu machen und Perspektiven sowie Probleme gesellschaftsverändernden Handelns zu reflektieren.

Angesichts der weltweiten Proteste gegen den von der Bush - Administration mit aller Macht forcierten Krieg gegen den Irak wollen wir dieses Prinzip durchbrechen, vor allem weil die Anti-Kriegs-Bewegung eine Qualität besitzt, die andere Bewegungen, die sich gegen die immer offensichtlicher in Erscheinung tretenden Auswirkungen eines ungeschminkten Kapitalismus gebildet haben, nicht in diesem Ausmaß besitzen. Das Besondere an der Konstellation um den geplanten Irak - Krieg ist die schwere Legitimationskrise. Die Regierung der USA und die Blair - Administration in ihrem Schlepptau haben rechtlich, moralisch und ideologisch weltweit die Hegemonie sehr stark verloren. Wenn - was zu befürchten ist - die Bomber tatsächlich losgelassen werden, so muß dies als das erscheinen was es ist: ein Akt der blanken Macht und Gewalt, gestützt allein auf die Überlegenheit des US-amerikanischen Militärapparates.

Selbstverständlich sind im Kontext des (wahrscheinlich) kommenden Krieges viele Fragen offen: Sowohl die Beweggründe der USA, diesen Konflikt zu suchen als auch die Wurzeln für das Ausscheren europäischer Staaten aus der Einheitsfront wären zu diskutieren, und selbstverständlich ist die Anti-Kriegsbewegung, wie jedes Phänomen mit gesellschaftlicher Bedeutung, heterogen und in sich widersprüchlich. Zudem steht die Bewegung auch im Spannungsfeld der unterschiedlichen nationalen Staatsinteressen. Wir wollen hier allein auf den Aspekt der Legitimation und des damit verbundenen Hegemonieverlustes hinweisen. Um eine ähnliche Konstellation ausfindig machen, ist es notwendig, zurück bis zum Vietnam-Krieg in seiner Spätphase zu gehen. Auch damals hatten die USA die moralische und rechtliche Hegemonie weitgehend verloren. Ein gewaltiger Unterschied zwischen damals und heute liegt jedoch auf der Hand: niemand ernstzunehmender phantasiert in die irakische Staatsführung emanzipatorische und fortschrittliche Qualitäten hinein, während in den 60er Jahren das Verhältnis zur vietnamesischen Führung von Identifikation gekennzeichnet war. In diesem Punkt haben sich die Verhältnisse um 180 Grad gedreht. Gerade weil die Anti-Kriegsbewegung keinen positiven Bezug zu Hussein herstellt und keine Illusionen über den Charakter des Regimes verbreitet, ist sie in der Lage, die überwältigende Hegemonie zu erringen. Wie sich die Situation in den USA selbst darstellt, ist nicht leicht zu beurteilen. Daß die Kritik an Bushs Kriegsplänen auch in den USA sehr mächtig ist, ist klar, aber hat sein Politikkurs deswegen die Hegemonie verloren?

Die spannende und offene Frage lautet: wie wirkt sich der weitgehende Verlust der ideologischen Hegemonie auf die Zukunft und Entwicklung der antikapitalistischen Strömungen aus? Bei der Irak-Frage handelt es sich ja nicht um irgendeinen Nebenschauplatz, sondern um ein zentrales Moment bei der Neuordnung der Welt. Ist es, und wenn ja bis zu welchem Grade möglich, daß das politische System in einer Frage die Hegemonie verliert, ohne sie auch bei anderen Themen einzubüßen? Der absolute Triumph und Höhepunkt des neoliberalen Diskurses scheint ja bereits vorüber zu sein. Die oppositionellen Kräfte, von der Anti-Globalisierungsbewegung über die Bewegung gegen Schwarz-Blau bis hin zu den Sozial Foren bildeten gesamtgesellschaftlich trotz beachtlicher Stärke eindeutige Minderheiten in jeder Hinsicht, medial, politisch, gesellschaftlich. Aber immerhin konnten sie sich bilden, sich organisieren und öffentlich agieren. Zu hoffen, das legitimatorische Debakel des Irak-Krieges könnte einer gesellschaftlich minoritären Bewegung zur allgemeinen Hegemonie verhelfen, ist sicher naiv optimistisch. Aber die Hoffnung, daß die Proteste gegen den Krieg diese Kräfte moralisch und politisch stärken werden, ist es nicht. Und so wollen wir den Bogen wieder zum bescheidenen Wirken der grundrisse schlagen: Die antikapitalistischen Kräfte dürfen weder begriffsblind noch unreflektiert vor sich hin agieren; und genau zu dieser Reflexion hoffen wir einen Betrag leisten zu können.

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