Grundrisse, Nummer 30
Juni
2009

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

vor euch liegt die 30. Ausgabe der grundrisse. Bereits im Frühherbst 2008 gab es erste Überlegungen, unser Jubiläum als Sondernummer zur Türkei zu feiern. Dass dies ein dreiviertel Jahr später zu einem 150seitigen Wälzer geworden ist, hätten wir damals nicht zu denken gewagt. Die Redaktion jedenfalls freut sich, dass das Heft schließlich doch noch fertig geworden ist. Sowohl aus der Türkei stammende Menschen aus unserem Umfeld als auch ein besonderes Interesse von Redaktionsmitgliedern und MitarbeiterInnen der grundrisse an den politischen Verhältnissen dort, ließen uns letztes Jahr auf die Suche nach Texten für die Sondernummer gehen. Das Ergebnis haltet ihr in Händen und wir hoffen, ihr seid damit ähnlich zufrieden wie wir. Einige wichtige Aspekte hätten wir gerne im Heft drinnen gehabt, konnten aber keine AutorInnen dafür finden bzw. reichten unsere äußerst beschränkten Ressourcen in Sachen Übersetzung nicht. Diese Leerstellen sollen in der Folge kurz aufgezählt werden werden, bevor wir euch jene Artikel kurz vorstellen werden, die schließlich den Weg ins Heft gefunden haben:

  • Etwas zur aktuellen Entwicklung von Arbeitskämpfen
  • Eine Analyse zur Ermordung des kritischen armenischen Journalisten Hrant Dink
  • Ein Text über die gewerkschaftliche Organisierung von FilmemacherInnen
  • Ein Bericht über die wachsende anarchistische Szene in der Türkei
  • Ein Beitrag zur Kriegsdienstverweigerung

Nun aber zum Inhalt:

Gleich im Anschluss an dieses Editorial findet ihr einen Text von dose gegen die Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens gegen die Soziologin und Schriftstellerin Pınar Selek, gefolgt von einem Gespräch mit ihr. Selek wird die Beteiligung an einem Bombenattentat zur Last gelegt, das eine ExpertInnenkommision bereits im Jahr 2000 als Gasexplosion bewertet hatte – danach wurde Selek nach mehr als 2 Jahren aus der Haft entlassen.

Danach dokumentieren wir – als einzige nicht direkt zum Schwerpunkt gehörende Texte – zwei Reden, die bei der großen Demonstration „Eure Krise zahlen wir nicht!“ am 28. März in Wien gehalten wurden, nämlich die des Antikapitalistischen Blocks (an denen sich auch die grundrisse beteiligten), die entgegen der gegenwärtigen Staatssehnsucht eine radikal antikapitalistische und somit antistaatliche Perspektive entwickelt, sowie jene des FrauenLesbenBlocks im Antikapitalistischen Block.

Die „Kurze Geschichte der Türkei“ bietet einen lexikalischen Überblick auf wichtige Daten der türkischen Geschichte, der auch hinsichtlich der folgenden Texte als „Einordnungs-Leitfaden“ dienen kann, hauptsächlich hinsichtlich der historischen Ereignisse vor der in diesem Schwerpunktheft hauptsächlich behandelten Zeit nach 1980. Zwei weitere „Kurze Geschichten“ möchten dieses für die Widerstände in türkischen Gefängnissen nach 1980 (Seite 79) sowie die historische Entwicklung in Kurdistan ab 1920 (S. 118) leisten. Selbstverständlich erheben diese Abrisse keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Der erste „Block“ der Sondernummer beinhaltet drei längere wissenschaftliche Texte, die sich a) mit den antineoliberalen Strategien in der Türkei aus einer werttheoretischen Perspektive kritisch auseinandersetzen (Fuat Ercan und Şebnem Oğuz), b) aus neomarxistischer Sicht die Geschichte des politischen Islam und insbesondere der Regierungspartei AKP analysieren (İlker Ataç), sowie c) die Auswirkungen der Krisen von 1994 und 2001 auf die Arbeitsverhältnisse aus einem kritisch-ökonomischen Blickwinkel rekonstruieren und Alternativen aufzeigen (Özlem Onaran).

Die nächsten beiden Texte sind dem Feminismus in der Türkei gewidmet. Güneş Koç´s Text bietet einen Überblick über die Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei, Hülya Osmanağaoğlu wiederum spitzt die Kritik an linken und linksradikalen Organisationen von feministischer Seite zu und verleiht damit einer Strömung Ausdruck, die mit dem Aufschwung des Feminismus seit den 1980ern und 1990ern an Bedeutung gewinnt.

Güney Işıkara zeichnet in „Schulausbildung und Militarismus“ die allgegenwärtige Präsenz des Militärapparates im Schulbetrieb der Türkei sowie die Indoktrination der SchülerInnen durch die militaristische Staatsideologie nach. Mit einem Artikel des Psychoanalytikers Emilio Modena beginnt der Komplex „Migration und Asyl“.

„Politisches Asyl - Zur Invalidisierung der Revolutionäre“ von Emilio Modena – ein Artikel, der ursprünglich 2008 in der Zeitschrift „Werkblatt. Psychoanalyse & Gesellschaftskritik“ erschienen ist – zeichnet mit viel Empathie die Auswirkungen von politischer Verfolgung, Folter und Exil auf das gesamte Leben von Menschen nach und sagt damit sehr viel über die tiefgreifenden und traumatischen Folgen des Militärputsches vom 12. September 1980 in der Türkei aus. Dennoch gibt es Vorbehalte innerhalb der Redaktion der grundrisse gegenüber diesem Text, da uns die Darstellung des Trennungsprozesses des im Artikel R. genannten politischen Flüchtlings aus der Türkei von dessen Ex-Ehefrau problematisch erscheint. Modena übernimmt die Darstellung des Mannes und stellt sich auf dessen Seite. Er bezeichnet die Ex-Ehefrau, die er selbst nicht kennt, als rachsüchtig und erstellt eine Ferndiagnose über deren Psyche. Die Frau selbst erhält in diesem Text keinerlei Gelegenheit, ihre Sicht der Ereignisse darzulegen. Wir halten dies für bedenklich, umso mehr, als wir davon ausgehen, dass R. um die Einwilligung zur Veröffentlichung seines Falles gebeten wurde, dessen Ex-Ehefrau jedoch nicht. Die lapidare Zusammenfassung der Trennung und Schuldzuweisung als „Liebesverrat“ der Frau am Ende des Artikels finden wir ebenfalls unangebracht. Wir halten fest, dass es im Zuge der Dynamik von Beziehungen und Trennungen häufig zu Übergriffen und Tätlichkeiten von Männern gegenüber Frauen kommt, die die betreffenden Männer subjektiv nicht als solche wahrnehmen – und dies durchaus auch von Seiten von Männern, für deren soziales Umfeld außerhalb der Liebesbeziehungen dies unvorstellbar erscheint. Auch eine Gerichtsentscheidung zugunsten des Mannes stellt für uns keinen ausreichenden Grund dar, vorbehaltlos und ausschließlich dessen Darstellung zu übernehmen.

Dose zeigt in ihrem Text „Frontex – nicht in der Türkei?“ dass und wie die Europäische Union mit Nachdruck an der Ausdehnung ihrer Grenzen arbeitet, zumindest im militärischen, die Migrationsströme regulieren wollenden Sinne. Ebru Işikli hingegen beschreibt das Phänomen der Binnenmigration in den 1950er Jahren und fokusiert dabei auf die Migration vom agrarisch geprägten Osten in die aufstrebenden Zentren der Industrialisierung im Westen. Pelin Tan analysiert die Widerstandsbewegungen in den Gecekondus, den „über Nacht erbauten“ Siedlungen der armen urbanen Bevölkerung, die sich gegen den Abriss ihrer Häuser richten. Mensch muss nicht einverstanden sein mit dem Schwerpunkt, den Pelin Tan auf die kulturelle und akademische Zusammenarbeit durch die Bewegungen in den Stadtviertel legt, aber der Text ist eine wunderbare Zusammenfassung der unterschiedlichen Widerstandsformen, die sich gegen die Zerstörung der Wohnviertel richtet.

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Tendenz zur Einhegung gemeinschaftlicher Güter berichtet Dorothea Härlins über Widerstandsformen gegen die Wasserprivatisierung (nicht nur) in der Türkei sowie über die Auseinandersetzungen anlässlich des Weltwasserforums in Istanbuls im März dieses Jahres.

Die letzten beiden Beiträge drehen sich um die „Kurdische Frage“. Nach der „Kurzen Geschichte Kurdistans“ folgt ein von minimol für die grundrisse geführtes Interview mit Anja Flach. Flach war in den 1990er Jahren selbst in der kurdischen Guerilla aktiv und hat auch 2 Bücher darüber geschrieben. Im Gespräch wird sowohl auf die Rolle der Frauen in der PKK als auch auf allgemeine Aspekte des kurdischen Befreiungskampfes sowie auf aktuelle Veränderungen eingegangen. Yaşar Hür´s abschließende Erzählung „Risse im Grund“ möchten wir euch – als Bruch mit der normalerweise in den grundrissen vorherrschenden Textform – besonders ans Herz legen.

Abgeschlossen wird diese Nummer von drei Buchbesprechungen, und zwar zu Murat Uyurkulags Roman Zorn, über das von Birgit Sauer und Sabine Strasser herausgegebene Buch „Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus (beide von minimol) sowie zum empfehlenswerten Sammelband „Perspektiven auf die Türkei“, herausgegeben von İlker Ataç, Bülent Küçük und Ulaş Şener (Martin Birkner).

Wir wünschen euch eine anregende Lektüre, uns eine möglichst große Verschnaufpause und viele Abos. Mit zwei aktuellen politischen Hinweisen verabschiedet sich in den Sommer

eure grundrisse-Redaktion

Gegen Hassverbrechen und Homophobie in Istanbul!

Insbesondere in den Großstädten wie Istanbul und Izmir ist die Türkei weniger provinziell als etwa Österreich. Es existiert nicht nur eine starke feministische und linke Bewegungen, sondern auch ein steigendes Selbstbewusstsein und entsprechende Formen der Selbstorganisationen von Schwulen, Lesben und Transgender-Personen. [1]

Zugleich ist die Türkei aber ein hoch militarisierter Staat mit starken nationalistischen und religiösen Ausprägungen der Gesellschaft, was natürlich Sexismus und Homophobie befördert. In letzter Zeit spitzten sich Auseinandersetzungen zu:

Gerade in den letzten Monaten wurden eine Reihe von schwulen Männern und Transfrauen ermordet:

  • Ahmet Yıldız, ein schwuler Mann wurde am 15. Juli 2008 in Istanbul erschossen.
  • Dilek İnce, eine transsexuelle Frau wurde am 12. Oktober 2008 in Ankara erschossen.
  • Özkan Zengin gestand im Polizei-Verhör dass er zwischen Mai 2008 und März 2009 sechs schwule Männer ermordet hat [Mehmet Naci Zeyrek, Ercan Coşkun, Enes Arıcı, Yaşar Mızrak, Aziz Taşdemir, Tarık Güzeller].
  • Ebru Soykan, eine transsexuelle Frau wurde am 10. März 2009 in Istanbul erstochen.
  • Melek D., eine transsexuelle Frau wurde am 11. April 2009 in Ankara erstochen.

„Lambdaistanbul“ drohte nach einem seit 2006 andauernden Verfahren, das Verbot wegen „Obszönität und Unzucht“. Die Gerichte argumentierten, die Begriffe „lesbisch, schwul, bisexuell, transvestitisch und transsexuell“, die im Namen und in den Zielen des Vereins genannt sind, würden gegen die allgemeine Moral der türkischen Gesellschaft und die türkischen Familienstrukturen verstoßen. Am 30. April 2009 entschied das zuständige Gericht in Istanbul, dass „Lambdaistanbul“ als eingetragener Verein agieren darf.

Aus diesem Grund fand am 29. April eine Kundgebung in Istanbul statt, die das Vorgehen des Staates gegen Hassverbrechen forderte, die Abschaffung der Verbote wegen „Obszönität“ und die Novellierung der türkischen Gesetze, um geschlechtliche und sexuelle Diskriminierung zu verhindern. Auch in Wien wurde, wie in vielen europäischen Städten, vor der türkischen Botschaft eine Kundgebung abgehalten.
No-Border-Camp auf Lesbos, Griechenland

Die Migrations- und Asylpolitik in Griechenland ist in den vergangenen Jahren mehr und mehr in Kritik geraten. Geltende Menschenrechtsabkommen werden ignoriert, viele Leute müssen unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. An den Küsten vor den zahlreichen griechischen Inseln patrouillieren Schiffe, die Menschen an der Einreise über den Seeweg aus der Türkei hindern sollen. In der Ägäis ertrinken mehr und mehr Menschen. Jene, die das Festland erreichen, werden gefangen genommen und in überfüllten Lagern über Wochen und Monate interniert. Ein solches Lager befindet sich in Pagani, zwei Kilometer außerhalb von Mitilini, der Hauptstadt der Insel. Es wurde nicht für den Aufenthalt von Menschen gebaut. Die Gefangenen haben keinen Hofgang, dürfen nicht mit der Außenwelt kommunizieren und werden nicht über ihre Rechte informiert. Werden sie freigelassen, müssen sie innerhalb eines Monats das Land verlassen. Jene, die ihre Reise in den Westen fortsetzen wollen, stranden meist in Häfen im Westen von Griechenland, wie Patras. Das Stellen eines Asylantrages bedeutet die Verwicklung in entwürdigende bürokratische Verfahren. Staatliche Gewalt ist eher die Regel als die Ausnahme. So gab es Ende 2008 zwei Tote bei der Ausländer_innenbehörde in Athen.

Kontakt: noborder.lesvos.2009 (at) gmail.com

Weitere Informationen zum Camp:
http://noborder09lesvos.blogspot.com
http://lesvosnoborder2009.blogspot.com
http://lesvos09.antira.info

[1Offiziell gibt es keine Diskriminierung von Personen, die das andere Geschlecht annehmen. Allerdings sind nicht eindeutig zugeordnete Menschen, insbesondere Transfrauen, gesellschaftlich benachteiligt und zu ihrem Überleben zur Prostitution gezwungen (etwa in ärmeren Bezirken wie Tarlabaşı).

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