FORVM, No. 224
September
1972

Ehret eure deutschen Meister

Zur Psychoanalyse der Aggressivität im Sport

I. Aspekte der Sportideologie

Diese Studie hat nicht den Ehrgeiz, die Ideologie des Sports in allen ihren negativen Aspekten zu beschreiben. Es wäre an der Zeit, den ökonomischen Unterbau des Sportbetriebs (Fremdenverkehrswerbung, Sportartikelerzeugung und Textilreklame) zu analysieren. Ebenso die Gefährdung der Gesundheit in den einzelnen sportlichen Disziplinen: Leistungssportler sterben oft jung, Boxer und Stemmer bezahlen ihre Siege mit nicht wieder gutzumachenden Schädigungen.

Dann der Jahrmarkt der „Statussymbole“ — so wird ein arroganter und infantiler Kasten- und Klassenbetrieb von einer angeblich wertfreien Soziologie genannt, die sich nur nicht getraut, Unvernunft und Unsinn beim Namen zu nennen. Der Pferdesport und alle anderen besonders kostspieligen Sportarten treiben den Snobismus auf die Spitze.

Hier geht es vornehmlich um die politischen Aspekte des Sports, der gemäß seinem Selbstverständnis „völkerverbindend“ sein will. Dagegen spricht aber schon die absolute Herrschaft des Konkurrenzmotivs in fast allen Sportarten. Jede sportliche Konkurrenz fördert Neid und Aggressivität. Freilich gibt es Disziplinen, in denen kein unmittelbarer, direkter Angriff auf den Konkurrenten verlangt wird. Skilauf, Eislauf, viele leicht- und schwerathletischen Disziplinen kennen nicht die direkte Aggression gegen den Konkurrenten, wie sie im Boxen, im Ringen, im Tennis und im Fußball zur Regel gehört.

Der Vergleich mit dem politischen Machtkampf liegt nun besonders bei jenen Sportarten nahe, in denen sich grundsätzlich zwei kollektive Parteien bekämpfen: hier werden nationalistische Leidenschaften angeheizt, Aggressionen künstlich erzeugt und das genaue Gegenteil von „Völkerversöhnung“ hervorgerufen. In einer Skiabfahrt, einer Schwimm- oder Eislaufkonkurrenz kämpft jeder gegen jeden — in Mannschaftsspielen, wie Fußball, Handball oder Korbball, kämpfen zwei Teams gegeneinander, die im Falle eines „Ländermatchs“ eben zwei antagonistische Nationen repräsentieren.

II. Der Kampf ums Loch

Die meisten Mannschaftsspiele haben verräterischerweise eine bestimmte Struktur gemeinsam. Es existieren zwei „Löcher“ — jede Mannschaft will in das Loch der anderen Mannschaft den Ball plazieren, und jede Mannschaft will ihr eigenes Loch vor der Aggression der anderen Mannschaft verteidigen. Das Loch kann verschieden groß sein. Besonders klein ist das Loch beim Korbball, größer beim Eishockey, am größten beim Fuß- und Handball. Auch die Objekte, die in diese Löcher plaziert werden sollen, sind verschieden groß. Am kleinsten beim Eishockey, relativ groß beim Fußball. Sieger ist natürlich diejenige Mannschaft — und mit ihr die ganze Nation —, die am häufigsten das umkämpfte Objekt, den Ball, ins feindliche Loch plaziert hat.

Dieser Zweck wird erreicht durch die Geschicklichkeit, die Verteidigung des gegnerischen Lochs zu überwinden, sowie durch die Zähigkeit, mit der man die Gegner zu hindern versteht, ins eigene Loch zu schießen. Wem das gelingt, der zeigt seine Überlegenheit dem Feind gegenüber. Er ist stärker, potenter.

Die Identifikation der Zuschauer mit „ihrer“ Mannschaft, und damit die Gleichsetzung von Mannschaft und Nation, wird besonders effektiv dadurch ermöglicht, daß zwei Mannschaften und nicht Individuen gegeneinander kämpfen, und zweitens, daß immer nur ein einziger Feind existiert. Skiläufer kämpfen gegen die Angehörigen aller Skinationen, auch gegen die Vertreter der eigenen — das Nationalteam der Fußballer kämpft immer nur gegen ein anderes Nationalteam. Jede Mannschaft verteidigt ihre eigene Ehre, die Ehre ihres Trainers und eventuell auch die Ehre der Geldgeber, der natürlich auch ein Ministerium sein kann. In den Fußballmannschaften der reichen, hochindustrialisierten Völker spielen oft auch „Landsknechte“, eingekaufte Sportler anderer Nationen, was die nationale Identifikation aber nicht behindert.

Die Identifikation der Zuschauer mit der Mannschaft wird durch den Symbolgehalt des Spiels verstärkt. Das Loch, das von den Teams umkämpft wird, erweist sich zwanglos als Symbol des weiblichen Genitals. Klarerweise demonstriert derjenige seine größere männliche Potenz, der am öftesten hineinballert.

Ebenfalls symbolisch ist die sportliche Konkurrenzsituation. In der Kindheit wird die Konkurrenz in zwei Dimensionen erlebt: zunächst als Vergleich zwischen dem Kind und dem jeweils gleichgeschlechtlichen Elternteil, und dann in der Konkurrenz der Kinder (und Geschlechter) untereinander. Nun sind bezeichnenderweise gerade die Mannschaftsspiele ausgesprochen männliche Disziplinen im Gegensatz zu Eiskunstlauf, Schwimmen oder Skilaufen, wo weibliche Beteiligung heute selbstverständlich ist, machen sich die Sportjournalisten über den Damenfußball lustig. Frauen dürfen nicht in Löcher schießen.

Bei den Mannschaftsspielen — Fußball, Eishockey, Handball — verbindet sich der psychoanalytische Aspekt nahtlos mit dem politischen. Der symbolische Kampf zwischen Vater und Sohn um die Beute Mutter ist das klassische Ödipusmotiv. Und das Investment der Ödipalaggressionen (Kastration und Liquidation) ist dann am leichtesten möglich, wenn eine Mannschaft eine besonders große, die andere eine besonders kleine Nation repräsentiert. Die Kämpfe zwischen männlichen Familienangehörigen werden so als symbolische Kämpfe zwischen Staaten und Völkern ausgetragen.

Der Kampf ums Loch ist ein Kampf um die Frau so gut wie ums Vaterland. Im eigenen Tor wird die eigene Frau verteidigt, während man im fremden Tor die Frau des anderen zu vergewaltigen trachtet. Natürlich läßt sich nicht das gesamte Spiel so erklären, aber wenigstens ein wesentlicher und entscheidender Teil seiner Wirkung.

Dieser Übertragungsvorgang ist besonders gefährlich, ganz abgesehen davon, daß mit der Investition der Ödipalaggressionen die grausamsten Affekte mobilisiert werden. Der Mannschaftsport illusioniert durch Generalisierung. Die Mannschaft eines kleinen Landes kann die eines großen Landes in irgendeiner Sportdisziplin besiegen. Österreich etwa die Sowjetunion im Fußball. Ein solcher Sieg kann dann in der Phantasie der Österreicher wie ein militärischer Erfolg aussehen. Doch verfügen Interkontinentalraketen noch über ganz andere Potenzen als Fußbälle.

III. Die vaterländischen Fronten

Mit Sportsiegen und Sportniederlagen werden nationale Triumphe und Katastrophen verbunden. Es ist jedoch ein Aberglaube, daß Aggressionen durch (beispielsweise sportliche) Ersatzhandlungen einfach „abreagierbar“ sind. Viel wahrscheinlicher ist, daß solche Symbolaktionen die entsprechenden Aggressionen erst mobilisieren und stimulieren. Dafür einige historische Beispiele, die beweisen sollen, daß es um die Möglichkeiten einer symbolischen Aggressionsverarbeitung keineswegs einfach steht.

In Österreich gab es vor 1945 nur zwei öffentliche Kundgebungen gegen den Nationalsozialismus und die deutsche Okkupation. Die erste Demonstration war 1938, als Kardinal Innitzer im Stephansdom öffentlich und feierlich seinen Irrtum (den Pakt mit Hitler) zugab. „Auch ein Bischof kann irren.“ Da herrschte Begeisterung und Jubel — wann hätte ein Bischof je seinen Irrtum zugegeben? Außerdem bekam der latente Antinazismus vieler Katholiken nun wieder seine offizielle Bestätigung. Diese Demonstration war nicht nur verständlich, sie hatte tiefe und echte Gründe.

Die zweite Demonstration gegen die Deutschen erfolgte dagegen aus einem so billigen Anlaß, daß sie nur durch die unverfrorene Arroganz entschuldigt werden kann, mit der die deutschen Okkupanten den Stolz der Österreicher — auch der „Illegalen“ — gedemütigt hatten. Die Wiener Mannschaft Rapid kämpfte gegen den deutschen Meister Schalke 04. In Gegenwart des Gauleiters Baldur v. Schirach kam es im Stadion zu ausgewachsenen antideutschen Kundgebungen. So richtig es war, daß man die nationale Würde gegenüber den Okkupanten und ihren österreichischen Schergen zur Geltung brachte — die elf Fußballer von Schalke 04 waren sicherlich nicht die schlechtesten Vertreter Deutschlands. Wir kennen ihre politische Einstellung nicht, da aber Fußballer meist proletarischer Abkunft sind, waren sie vielleicht keine Nazis.

Als die Gestapo in aller Öffentlichkeit Österreicher (Juden, Zigeuner, politisch Unzuverlässige) verhaftete, protestierte niemand — an der Judenverfolgung partizipieren die Wiener mit hellem Vergnügen: das Pogrom ist auch eine Art Volkssport! Als Rapid aber über den deutschen Meister siegte, da gab es eine echt österreichische Nationalkundgebung. (Wem fällt da nicht die Affäre Schranz ein?)

Eine ebenso unglückliche politische Rolle spielte 1956 ein Fußballmatch Ungarn—UdSSR, das von den Ungarn zu ihrem Unglück gewonnen wurde. Dieser Sieg stimulierte einen nationalistischen Rausch, der es den Ungarn unmöglich machte, die Grenzen ihrer Möglichkeiten rational zu erkennen. Die antirussische Rebellion der Ungarn gebar sogar einen Mythos.

Die Amateursportler waren damals in Ungarn (wie auch in anderen Ländern) in Wahrheit getarnte Profis, so etwa der prominente Fußballspieler Puskas — ein Major, der vermutlich nie eine Kaserne von innen gesehen hatte. Während der Revolte von 1956 wurde die wunderliche Mär erzählt, das Fußballidol Puskas sei „an der Spitze seines Regiments“ im Kampf gegen die sowjetischen Tyrannen gefallen. Wie sich später herausstellte, schlief Herr Puskas zu diesem Zeitpunkt in seinem Bett und setzte sich später ganz unheldisch nach dem Westen ab.

Was diesen Fall so interessant macht, ist die Möglichkeit, die Entstehung eines Mythos an seinem Ursprung zu beobachten. Puskas, der Fußballheld, war ein Nationalheld, weil er den Ball ins russische — und nicht nur in das russische Tor — schoß. Er hatte auf dem Spielfeld die überlegene Potenz der Ungarn demonstriert. War es da nach der Logik der generalisierenden Traumvorstellung nicht selbstverständlich, daß er sich auch auf dem Schlachtfeld als ein ganzer Mann bestätigen mußte? Nationaler Größenwahn und sexuelle Machtphantasien bestimmen den seelischen Inhalt des Kampfsports.

Ein letztes, trauriges Beispiel für die Kompensation politischer Ohnmacht durch sportliche Erfolge ist das Eishockeyspiel zwischen ČSSR und UdSSR, an das sich das Attentat auf das sowjetische Aeroflot-Büro anschloß. Auch hier bestätigte sich wieder, daß der Kampfsport den frustrierten Massen die Befriedigung von Trieben und Instinkten vorgaukelt, die ihnen im Leben sonst versagt bleibt.

Offensichtlich steckt im Sport ein äußerst gefährliches politisches Potential. Daher wäre der gesamte Sportbetrieb unbedingt rationaler zu gestalten, seine irrationalen, affektiven Dummheiten wären zumindest entscheidend zu verringern. All den Unsinn „wertfrei“ zu betrachten, also vor der Unvernunft zu kapitulieren, ist antihuman, ist eine Entscheidung gegen den Menschen.

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