FORVM, No. 103/104
Juli
1962

Eine gewichtige Übersiedlung

Notizen zu Ernst Alkers „Geschichte der deutschen Literatur“

Als ich erfuhr, daß Ernst Alkers „Geschichte der Deutschen Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart“ vom Verlage Cotta zu Kröner übersiedelt sei, [*] streifte mich die Vorstellung, daß man dieses mächtige Werk auf einem schweren Tiefladewagen mittels Traktor vom einen Verlagshaus zum anderen durch die Straßen Stuttgarts transportiert habe. Das Bild, an sich des kleinen Moritz würdig, war doch nicht ganz verfehlt. Denn, wahrhaftig, mit einigem Rechte könnte sich dieses außerordentliche Buch auch eine Geschichte Mitteleuropas im neunzehnten Jahrhunderte nennen — wenn man die Fiktion von dem Primat der politischen Geschichte aufgäbe (etwa so, wie Arnold J. Toynbee es meint).

Den Bruch und das Dilemma allerdings, welche durch alle Kunstwissenschaft gehen — wie schon durch dieses Wort allein, wenigstens im heutigen Wortsinne —, hebt Ernst Alker in einer Weise auf, die kaum übertragbar sein dürfte, auch im intensivsten Kolleg nicht (Alker ist Professor an der Universität Fribourg, Schweiz). Denn an den Kunstleistungen — seien das solche der Malerei, der Musik, der Dichtkunst — ist das, was sie von einander unterscheidet, ihr Einzigartiges und Unvergleichbares, kurz, das Ungemeine, weit wichtiger als alles, was sie gemeinsam haben. Dieser Gemeinsamkeit aber wird die Systematik — in unserem Falle die Subsumtion literarischer Phänomene unter Oberbegriffe — nicht entraten können.

Jede Systematik führt nur an die Grenze des jeweils Ungemeinen heran, bis zu einem Limeswert. Es besteht die Literaturgeschichte, wie die Geschichte überhaupt, aus lauter Punkten, in deren jedem sich das Vergleichbare mit dem Unvergleichbaren schneidet und vereinigt; zusammen ergeben diese Punkte die historische Kontinuität, welche durch ein allein freiwerdendes Ungemeines und Unvergleichbares zerrissen würde. So möchte man für Geschichte folgende kleine Definition vorschlagen: „res gestae ineffabiles et comparabiles simul“.

Über jene früher bezeichnete Grenze hinaus wird der Literarhistoriker selbst künstlerische Mittel in Anspruch nehmen müssen. Freilich muß er sie besitzen (alle großen Literarhistoriker haben sie besessen). Es werden charakterisierende, analysierende, compositorische Mittel sein, kurz, die Mittel auch des Geschichts-Schreibers: epische Mittel. Gerade an diesem Punkte aber gelangt die analytische Sprache des Gelehrten zu einer Stabilität, welche etwa dem reinen Kritiker von Natur aus nicht vergönnt ist. Und dies, obwohl auch der Geschichts-Schreiber urteilt, also kritische Funktionen hat.

Dem Historiker aber geht es nicht so sehr darum, die Kunst gegen die Unkunst zu verteidigen, sondern um Abgrenzungen, die innerhalb der Kunst liegen: Romantik, Klassizismus, Naturalismus sind ihm Feldbezeichnungen; sein kritisches Vermögen wird herausgefordert angesichts der Notwendigkeit einer Zuordnung des Einzelphänomenes innerhalb der Literatur. Zudem kann der Geschichts-Schreiber nicht nur das Rühmliche melden, wenn es ihm auch immer um das Entscheidende gehen wird. Am Schicksal einer Sprache wirken nicht nur die höchsten, sondern auch mittlere und mindere Kräfte mit. Vom Kritiker aus gesehen, möge diese letzteren wohl der Teufel holen. Der Literarhistoriker wird und muß sie in das Feld seiner Betrachtung einbeziehen; und wer würde nicht zugeben, daß diese gerade dadurch mehr an Leben gewinnt, als wenn sie von Gipfel zu Gipfel schritte.

So weit, so gut! Noch bei einem großen Essay könnte man sich das alles realisiert denken, wenn der Autor sich tief in einen Dichter oder eine Gruppe von Dichtern hineingelebt hat, so daß seine Kenntnis bei größter Profundität schließlich sozusagen zur persönlichen Eigenschaft wird und nicht nur als ein bis ins letzte Detail Gewußtes ihn bewohnt: dann erzählt er schon vom eigenen Leben und es kommt in seine Darstellung da und dort jener sublim autobiographische Zug, den man von der Kunst her kennt. In solchem Falle war die Literatur des Literarhistorikers Leben, nicht nur ein beherrschtes Fach.

Wie nun aber, wenn einer große Stoffmassen zu bewältigen hat, etwa die Geschichte der deutschen Literatur im neunzehnten Jahrhundert, und ihn obendrein die erwählte Pflicht bindet, ein zugleich lexikalisch-auskunftgebendes, auf möglichste Vollständigkeit abzielendes Handbuch für den Fachmann zu schaffen? Wird nicht durch ein solches Beispiel unsere implicite aufgestellte Forderung widerlegt als eine Folge falscher Begriffsbildung und damit als ein unmögliches Postulat?

Keineswegs, denn Alkers Buch erfüllt, was wir meinen, auf weiten Strecken. Der Geschichts-Forscher und der Geschichts-Schreiber sind hier in eine Person zusammengetreten (was selten mit Glück geschieht, aber hier eben doch). Der literarhistorische Stoff ist diesem Quellenforscher so sehr ins Blut gegangen, daß sein Verhalten dem Stoffe gegenüber immer mehr ein episches werden konnte, kurz: daß er von alledem erzählt. Daher die Überzeugungskraft, auf welche beim Leser — man kann dieses Buch auch durchlesen wie einen Roman — die Einsicht respondiert, daß alle diese Irrungen und Wirrungen unvermeidlich waren: der lange Wassertrieb „Jungdeutschlands“ in’s Sozialrevolutionäre, die Verbröselung der Romantik in’s Dilettantische, das Absterben des Naturalismus durch Austrocknung. Nie fehlen bei Alker Ironie und Esprit, sein wienerisches Erbteil. Ironie ist ja obendrein ein unentbehrliches Werkzeug jedes wirklichen Erzählers, sein probates Mittel gegen die so oft sich eröffnende pessimistische Sicht — pessimistisch durch den tiefen Einblick in das absolut Notwendige all dieser Ausrenkungen und Wieder-Einrenkungen unserer Geistesmechanik, unserer wahren Geschichte, die nie erlaubt, daß man ein Stadium überspringe. Prachtvoll etwa das Heraushauen Büchners aus dem Gestrüpp der Mißverständnisse (Cotta I 360-368, Kröner 354-362, insbesondere auch 366 f. bzw. Cotta 372 f.); die raumgreifende Fortentwicklung des Grillparzerbildes (Cotta I 143-155, 176-178, 212-213; Kröner 141-152, 173-175, 208-209; Ernst Alker entgeht nichts: Kröner 143 wird zusätzlich Hans Weigel mit Glück zitiert!); desgleichen die Weiterentwicklung des Stifter-Bildes, und das auch gegenüber den früheren, bekannten Büchern Alkers, der Grillparzer-Biographie und der verbreiteten vergleichenden Studie zwischen Stifter und Keller (Cotta I 201-206, Kröner 197-203). Bezüglich Stifters ist eine fast ebenso zurecht rückende Wirkung erzielt worden wie bei Büchner. Liest man dieses Buch als Schriftsteller, nicht als Fachgelehrter, so wird man sagen müssen: „nostra res agitur“.

Nostra res agitur. Dies gilt aber noch in einem anderen Sinne. Hier beginnt die Sache den Österreicher anzugehen, nicht weil unser Autor einer ist, sondern weil sein Hauptwerk, als es vor nun zwölf Jahren zum ersten Male erschien, auch einiges in den Fundamenten zurechtgerückt hat, und nicht nur in den Einzelbildern. Jetzt aber, im verwichenen und im heurigen Jahre, beginnt man den von ihm bezogenen Positionen lebhaft beizupflichten, insbesondere von Seiten amerikanischer Forscher.

Es geht hier um eine Grundfrage, nämlich die der Eigenständigkeit österreichischer Literatur. Hiezu Ernst Alker:

Österreichisches Schrifttum ist keineswegs ein nur geographisch bedingter Begriff, sondern muß als ein auf geisteswissenschaftlichen Kriterien sich aufbauendes Phänomen gelten. Einige Male wurde der Versuch unternommen, die Leistungen der österreichischen Literatur in die allgemeine deutsche Entwicklung einzufügen. Die Ergebnisse waren indes nicht zufriedenstellend. Immer wieder zeigte sich die Unmöglichkeit der Einordnung von großen und kleinen Persönlichkeiten des österreichischen Raumes in die Kategorien Realismus, Jungdeutschland und Epigonik. Berührungspunkte waren zwar in Menge vorhanden, nie aber reichten sie aus, um eine überzeugende Inkorporation durchzuführen.

(Cotta I 129, Kröner 127)

E. E. Noth von der Marquette University in Milwaukee, Wisconsin, sagt in seiner Schrift „The Contemporary German Novel“ (1961), pag. XVI f.:

All common traits and denominators apart, there is something decidedly non-German in the Austrian and Swiss offerings, something no other German-speaking region has to offer. Indeed, they have the language in common, but even in their language there are outright differences, no less distinct than between English and American English. And while language no doubt is a basic and decisive factor, there are other, co-determining ones: historical, cultural, psychological, and sociological factors, which make Austrian and Swiss literature not just regional sub-divisions within the overall German production, but rather associated areas. In the case of Austria especially let us not forget that at least fifty per cent of what is too often referred to merely as twentieth-century German literature is the product of Austrian writers ...

Insbesondere aber ist es Ivar Ivask — der wahrscheinlich bedeutendste Vertreter neuer estnischer Dichtung, die heute im Exil, teils in Schweden, teils in den USA, beheimatet ist —, der diesem Sachverhalt einen großen Essay von 54 Seiten gewidmet hat. [**] Ivask lehrt deutsche Literatur am St. Olafs-College in Northfield, Minnesota. Er dürfte unter den amerikanischen Germanisten einer der besten Kenner Österreichs und im besonderen seiner Literatur sein.

Er hat Alkers These in der genannten überblicksweisen Arbeit — Vorläuferin eines größeren Buches über den gleichen Gegenstand — praktisch durchgeführt, und unseren Autor mit Gewinn studiert, nicht ohne dessen kritische Glanzleistungen zu würdigen, wie etwa Alkers Klärung des Rangunterschiedes zwischen Ferdinand von Saar und der Ebner-Eschenbach (S. 54; die bezüglichen Stellen bei Alker Cotta II 173 f., Kröner 610 und 611). Grillparzers „Armer Spielmann“, von Alker hervorragend kritisch gewertet und in seinen Auswirkungen erkannt (Cotta I 212 f., Kröner 208 f. — die Wirkung auf Saar Cotta II 169, Kröner 606) wird für Ivask zum Ausgangspunkte der gesamten folgenden österreichischen Prosa-Epik (46 ff.).

Wahrhaftig, es läßt sich leben mit und in Ernst Alkers Hauptwerk, und es gibt da für unsereinen unendlich viel zu erfahren und zu lernen, auch dort, wo man sich einmal einer Wertung durchaus nicht anschließen möchte (Grillparzer als größter österreichischer Lyriker, Cotta I 176, Kröner 173). Und die Literatur, des großen Literarhistorikers Leben geworden, mit epischer Breite und epischem Schwunge uns vorgetragen, verwandelt sich in ein strömendes Kontinuum, das eben noch einzelstehende Monumente umspülte, jetzt aber schon in’s immer neu zu bewältigende Ganze des Lebens zurückrauscht.

[*Ernst Alker: Geschichte der Deutschen Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart, 2 Bde., 463 u. 521 S., J. G. Cotta’sche Buchhdlg. Nachf. Stuttgart 1949/50.

Ernst Alker: Die Deutsche Literatur im 19. Jahrhundert (1832-1914), 2. veränderte und verbesserte Auflage, 943 S. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1962. (Kröners Taschenausgabe Band 339.)

Bei Zitierung werden hier stets die Seitenzahlen beider Ausgaben angeführt.

[**Ivar Ivask: Das große Erbe, Stiasny-Bücherei, Band 100. Graz 1962.

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