FORVM, No. 166
Oktober
1967

Eine Nation aus Gespenstern?

Zum Feiertag am 26. Oktober

Barbara Coudenhove-Kalergi, in Prag geboren, Nichte des Begründers der Paneuropa-Bewegung, Richard Coudenhove-Kalergi, war bei den Wiener Tageszeitungen „Die Presse“, „Kurier“, „Neues Österreich“ tätig und arbeitet nun — ohne Mitglied der sozialistischen Partei zu sein — in der politischen Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“.

Das österreichische Unbehagen geht um und breitet sich aus. Es treibt seine Opfer in die Versumperung oder in die Emigration. Seine Symptome sind Verkümmerung der Wissenschaft wie Stagnation der Wirtschaft, Verprovinzialisierung und Apathie. Irgendein Treibstoff scheint uns zu fehlen, der anderswo den Motor des kollektiven Ehrgeizes kräftig laufen, bei uns nur mühsam tuckern läßt.

Die Österreicher sind nicht nur gegenüber etablierten westlichen Großmächten, wie England, Frankreich oder die Bundesrepublik, immer mehr ins Hintertreffen geraten. Sie haben auch beobachtet — oder mit landesüblicher Borniertheit ignoriert — wie plötzlich rumänische Industriemanager, tschechische Ökonomen, polnische Kineasten und ungarische Geisteswissenschafter ihnen auf einem Gebiet nach dem anderen den Rang abliefen. Kann es sein, daß es die nationale Komponente ist, die anderswo zu beachtlichen Aufschwüngen, hier zu merkbaren Lähmungserscheinungen geführt hat?

Natürlich ist es nicht schwer, für alle landeseigenen Mängel handfestere Gründe zu finden. An den wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist eine verfehlte Strukturpolitik schuld, an der wissenschaftlichen Misere der Geldmangel und am kulturellen Tief die langjährige Herrschaft des Proporzes. Das ist richtig, kann aber trotzdem nicht befriedigen. Mit einer „österreichischen Nation“, die laut Horst Knapp im Begriff steht, sich zu einer „Nation von Skilehrern und Stubenmädchen“ [1] zu entwickeln, ist etwas faul. Die nationale Perspektive stimmt nicht.

Offenbar ist es auch im Zeitalter des Telstars nicht möglich, auf diese Perspektive kurzerhand zu verzichten. Im Gegensatz zu verbreiteten Bekenntnissen zu „kontinentalem Denken“ und Weltbürgertum ist die Nation nämlich keineswegs tot. Die im Originaltext der Internationale ausgesprochene Prognose „groupons nous et demain / l’internationale sera le genre humain“ hat sich, zumindest bis heute, nicht bewahrheitet. Im Westen wie im Osten leben nationale Bewegungen auf, von denen kräftige — durchaus nicht nur reaktionäre — Impulse ausgehen.

Angesichts dieses neuen Nationalismus sehen sich die Österreicher als Zukurzgekommene. Die zögernde, widerspruchsvolle und ambivalente nationale Entwicklung hat uns Probleme beschert, die mit der simplen Dekretierung der „österreichischen Nation“ nicht gelöst worden sind.

Nach wie vor gibt es in Österreich zwei Richtungen, aus denen nationales Selbstverständnis bezogen wird: aus dem deutschen Norden und dem ehemals habsburgischen Südosten. Die Diskussion um die Frage der Nation wird denn auch seit Jahr und Tag von zwei Gruppen bestritten: von den Befürwortern der deutschen und der österreichischen Nation. Beide sind engagiert, aber nicht zahlreich. Beide definieren sich vornehmlich durch Gegnerschaft: die Anhänger der österreichischen Nation sind gegen die Deutschnationalen, die Deutschnationalen sind gegen die „Österreicher“.

Der ganze Streit hat etwas charakteristisch Inhaltleeres, etwas vage Gestriges und langweilt die Öffentlichkeit. Man kennt die Standpunkte: „Deutsches Volkstum“ gegen „Österreichischer Mensch“, „Unverbrüchliche Schicksalsgemeinschaft“ gegen „Rotweißrot bis in den Tod“. Bei aller Sympathie für die österreichische Variante muß man sagen, daß von keiner der beiden Gruppierungen eine besonders stimulierende Wirkung ausgeht.

Die Sache wird nicht einfacher durch die meist stillschweigende Unterstellung, jeder, der für die nationale Zugehörigkeit Österreichs zu Deutschland eintrete, sei ein verkappter Nazi. Diese Prämisse trifft zwar meistens zu, aber nicht immer. Das Nazi-Tabu verdunkelt das Problem, statt es aufzuhellen. Es führt überdies dazu, daß die sogenannte Bewältigung der Vergangenheit sich von der Faschismusfrage unzulässig auf die Nationsfrage verlagert. Man kann in Österreich heute ziemlich unangefochten gegen entartete Kunst und Kulturbolschewismus losziehen, während Zweifel an der österreichischen Nation prompt einen Tadelsruf auslösen.

Die Schwäche des Nationsbegriffs hat es mit sich gebracht, daß zwei andere Begriffe in letzter Zeit sich zu einer Art Nationsersatz entwickelt haben: der sogenannte Föderalismus und der sogenannte Europagedanke.

Die Eigenständigkeit der österreichischen Bundesländer geht heute in der Praxis weit über das hinaus, was die Verfassung vorschreibt. Sie ist längst zu einer eigenen Ideologie geworden, die, weil die Nation keinen Glanz mehr hat, sich auf die Provinz orientiert. Das führt unter anderem dazu, daß unverhältnismäßig große, für die Förderung der Wissenschaft bestimmte Summen stattdessen Studien der Heimatkunde und der Folklore zugute kommen, daß im Fach „Deutsche Literatur“ in den Pflichtschulen drittklassige Heimatdichter bevorzugte Plätze einnehmen und daß sich das Burgenland, einem dringenden Bedürfnis folgend, kürzlich eine eigene Landestracht verordnet hat.

Als im Vorjahr in der Wiener Stadthalle der Nationalfeiertag begangen wurde, präsentierte sich die zu feiernde Nation als ein Dachverband von neun Trachtenvereinen. Das ist nicht Spott, sondern die Feststellung, daß im Bewußtsein vieler Österreicher die „Heimat“ den Platz eingenommen hat, den sonstwo die Nation innehat. Aber aus dem Heimatgefühl entspringen keine großen Initiativen; es hat immer den Hang zum Kleinkarierten.

Europa als Alibi

Dem übersteigerten Föderalismus entspricht das übersteigerte Europäertum. „Europa“ ist heute nicht bloß ein vernünftiges politisches und ökonomisches Ziel, sondern ein Alibi für die verschiedensten Ideologien. Man kann den „Europagedanken“ auf faschistisch, auf liberal und auf sozialdemokratisch pflegen; man kann in seinem Zeichen die EWG und das Jugendwandern predigen, die geistige Landesverteidigung und die Hausmusik. Jeder Verein gewinnt an Prestige, wenn er sich „europäisch“ nennen darf. Österreichische Autofahrer, die ins Ausland reisen, kleben mit Vorliebe ein Europafähnchen auf den Kotflügel. Auch hier ist ein Ersatz-Nationalbewußtsein wirksam.

Provinzialismus und Europäertum schließen im heutigen Österreich einander nicht aus. Im Gegenteil, im Denken mancher Rechtskreise können sie sich ganz gut ergänzen: man ist bodenständig nach innen, „europabewußt“ nach außen. Der Schuhplattlerperspektive entspricht die Kellnerperspektive.

Großdeutsche Sozialisten

Die österreichische Sozialdemokratie hat die Schwenkung von ihrer ursprünglichen deutschen Orientierung zur österreichischen nach 1945 sehr radikal vollzogen. Adolf Schärf schildert dieses Erlebnis einleuchtend in seinen Memoiren, als er die Begegnung mit dem deutschen Sozialdemokraten und Widerständler Leuschner während des Krieges beschreibt. Leuschner schlug seinem österreichischen Gesprächspartner damals ein Zusammengehen der deutschen und der österreichischen Oppositionsbewegungen mit dem Ziel eines demokratischen Großdeutschland vor. „Ich verhehle es auch jetzt nicht,“ schreibt Schärf,

seitdem ich die Geistesschätze des deutschen Volkes kennen- und liebengelernt habe, hatte ich immer geträumt, meine Heimat wäre nicht Österreich, sondern Weimar. Aber während des Gesprächs mit Leuschner kam es mir wie eine Erleuchtung. Die Darstellung der Lage durch ihn ließ mich erkennen, was sich geändert hatte. Ich unterbrach meinen Besucher unvermittelt und sagte: Der Anschluß ist tot, die Liebe zum Deutschen Reich ist den Österreichern ausgetrieben worden.

Otto Bauer, der große Wortführer der 1848er Tradition in Österreich, hatte dagegen noch im Juni 1938, also nach dem Anschluß, geschrieben, „die Befreiung des österreichischen Volkes von der nationalfaschistischen Diktatur“ könne „nicht durch die Trennung Österreichs von Deutschland, sondern nur noch durch die Befreiung des ganzen deutschen Volkes ... erreicht werden.“

Den Kommunisten, die damals im Sinne der Volksfrontpolitik den Kampf um die nationale Unabhängigkeit Österreichs proklamiert hatten, warf Otto Bauer „reaktionären Utopismus“ vor. Die Kommunisten, schrieb er, hätten

die absonderliche Konstruktion aufgestellt, daß die Österreicher gar nicht Deutsche, sondern eine besondere Nation seien ... Die Sozialisten dagegen haben in einer Konferenz, die Anfang April in Brüssel stattfand, festgestellt, daß das österreichische Volk nicht durch die Loslösung vom Reiche, sondern nur durch die gesamtdeutsche Revolution gegen den deutschen Faschismus befreit werden könne. Sie haben der irredentistisch-separatistischen Losung der besiegten Vaterländischen die gesamtdeutsch-revolutionäre Losung gegenübergestellt.

Karl Renner, der im Sinne seiner „Großraum“-Vorstellungen noch 1918 für die Erhaltung des Vielvölkerstaates eingetreten war und 1938 aus ähnlichen Erwägungen sein „freudiges Ja“ zum Anschluß ausgesprochen hatte, fand sich in der Zweiten Republik mit der österreichischen Nation ab. Friedrich Adler jedoch, dieser unbeirrbare Sohn der deutschen Aufklärung, hielt bis zu seinem Tod an dem Gedanken der deutschen Einheit als Vorstufe zur deutschen Revolution fest. Noch 1946 schrieb er:

Wenn die ebenso reaktionäre wie widerliche Utopie einer österreichischen Nation Wahrheit würde und ich gezwungen wäre, zwischen ihr und der deutschen zu wählen, würde ich mich für jene entscheiden, in der Goethes Faust, Freiligraths revolutionäre Gedichte und die Schriften von Marx, Engels und Lassalle nicht zur ausländischen Literatur gehören.

Äußerungen wie diese werden heute nicht gern zitiert, obwohl kein Grund besteht, sich für sie zu genieren. Sie illustrieren nur die komplizierte und widerspruchsvolle Entwicklung des österreichischen Nationalbewußtseins.

Die überlebenden großdeutschen Sozialdemokraten waren Emigranten. Sie hatten weder die deutsche Herrschaft in Österreich erlebt, noch das neue österreichische Lebensgefühl der unmittelbaren Nachkriegszeit, das 1945 offenbar wirklich nicht nur von den Alliierten diktierte Staatsraison war, sondern lebendige Realität. Die plötzliche „Entdeckung“ der österreichischen Eigenständigkeit — vom österreichischen Volkscharakter, der österreichischen Literatur bis zur österreichischen „Unterrichtssprache“ — scheint ein Erlebnis gewesen zu sein, das damals von sehr breiten Kreisen geteilt wurde, freilich mit der wichtigen Ausnahme der in betretenes Schweigen versunkenen nationalsozialistischen Intelligenz.

Zeitschriftenleser, Theater- und Ausstellungsbesucher jener Zeit berichten jedenfalls von einer kurzen kulturellen Blüte trotz Hunger und Besatzung, einer Art nationalem Frühlingserwachen, das sich von den darauffolgenden dürren Jahren auffällig unterschieden haben muß. Eine kurze Zeitlang schien offenbar die österreichische Perspektive vielversprechend genug, um auf eine beachtliche Schicht von Intellektuellen anregend zu wirken.

Was hat sich seit damals geändert?

Daß der sogenannte Geist von 1945, die antifaschistische Einheit und der relative Klassenfriede nicht dauern konnten, sobald wieder ein Kuchen zum Verteilen da war, liegt in der Natur der Dinge. Eine entscheidende Rolle hat aber auch der Kalte Krieg gespielt. Mit dem Antikommunismus als ungeschriebenem Staatsgrundgesetz mußte sich die Neutralität, ein wesentlicher Inhalt des neuen nationalen Selbstverständnisses, notwendig auf die militärische Bündnislosigkeit reduzieren.

Seit sich die Ostgrenzen geöffnet haben und wieder mehr von Österreich als „Brücke zwischen Ost und West“ gesprochen wird, ist es vollends widersprüchlich, wenn das Land von seinen Bürgern gleichzeitig als „Bollwerk gegen den Kommunismus“ empfunden werden soll. Hier stehen zwei Vorstellungen gegeneinander, die sich wechselseitig aufheben. Das offizielle Österreich hilft sich, indem es mit den Kommunisten Geschäfte macht, sie aber gleichzeitig verteufelt, indem es Adam Schaff und Tibor Déry zu Kongressen einlädt, aber Ernst Fischer totschweigt. Auch hier liegt eine der Wurzeln des österreichischen Provinzialismus.

„Die Nation ist das Historische in uns“, sagte Otto Bauer. Das Historische in der österreichischen Nation hat einen doppelten Ursprung, den deutschen und den südosteuropäischen. Aber im gegenwärtigen Österreich sind beide Quellen versiegt. Die deutsche Aufklärungstradition der Heine und Börne, der auch die österreichische Sozialdemokratie viele ihrer besten Impulse verdankt, findet in der Zweiten Republik keine Fortsetzung mehr. Sieben Jahre „deutsche Ostmark“ haben das zustande gebracht. Auf der anderen Seite scheitert der geistige Brückenschlag nach Ungarn und der ČSSR am staatsoffiziellen dogmatischen Antikommunismus, der keine echten Anknüpfungspunkte zuläßt.

Aber historische Wurzeln lassen sich nicht einfach abschneiden. Beide Traditionen leben denn auch in Österreich weiter, wenn auch in einer Form, die allein auf die Vergangenheit orientiert ist und zuweilen gespenstisch wirkt. So kultivieren die österreichischen Deutschnationalen ein antiquiertes Deutschlandbild, das aus dem Wilhelminismus stammt und mit der Realität fast nichts zu tun hat. Sie sind bei Nietzsche und Spengler stehengeblieben. Das geistige Milieu erinnert an gewisse „Deutsche Klubs“ in den USA, wo die Söhne eingewanderter Deutschamerikaner unter Fraktur-Sprüchen deutsche Gemütlichkeit der Jahrhundertwende pflegen, mit Pickelhaube und Kuckucksuhr.

Ihr Widerpart, die großösterreichischen Konservativen wiederum beziehen ihre Verbundenheit mit den östlichen Nachbarländern aus der Tradition der k.u.k. Armee und Bürokratie. Jene Länder sind für sie eine Art Museum des alten Österreich. Das verleitet sie oft zu dem Trugschluß, tschechische oder ungarische Dialogpartner freuten sich über nichts mehr als über Elogen auf den guten alten Kaiser und die glückliche gemeinsame Vergangenheit. Verständnis für zeitgenössische Probleme, schon gar für den bei diesem Thema nicht unwesentlichen Kommunismus, fehlt diesem Typ völlig.

In der „Nation Österreich“, wie wir sie in der Zweiten Republik erleben, ist das Historische also fast nur mehr in seiner Karikatur vorhanden. Anstatt der Impulse aus Deutschland und dem europäischen Südosten gibt es nur noch den alpenländischen Impuls.

Eine vaterländisch-konservative Ideologie mag damit allenfalls das Auslangen finden, obwohl auch im Bürgertum die Unzufriedenheit mit dieser Art Nationalcharakter um sich greift. Es gibt nicht wenige, die den Ausweg in einem „kalten Anschluß“ suchen. Für die österreichische Linke aber ist der Verlust an nationaler Perspektive vollends ein Unglück. Einen „Schuhplattler-Sozialismus“ kann es nicht geben.

[1Horst Knapp, Greißler- oder Industriestaat, Neues FORVM, Juni/Juli 1967.

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