FORVM, No. 154
Oktober
1966

Eine nicht gehaltene Rede

Als Miroslav Krleža am 8. September in Wien zu einem Vortragsabend der Österreichischen Gesellschaft für Literatur weilte, wurde sein ehemaliger Landsmann, nun schon seit vielen Jahren deutsch schreibender Kollege Milo Dor gebeten, eine kleine Einführungsrede zu halten. Der ungeachtet seiner 70 Jahre energische und vitale Krleža wollte die Vorstellung aber lieber selbst besorgen, eine Bitte, die man dem Gast gerne gewährte. Ebenso gerne drucken wir nachstehend die sympathischen und freundlichen Worte, die Milo Dor vorbereitet hatte.

Es ist mir eine große Freude, meinen lieben und verehrten Freund und Lehrmeister Miroslav Krleža in Wien begrüßen zu können. Da Krležas Werk auch hierzulande langsam bekannt geworden ist, glaube ich, daß wir uns einen literarhistorischen Exkurs ersparen können. Ich möchte nur in ein paar Sätzen sagen, was Krleža seit meiner Gymnasialzeit, also seit beinahe dreißig Jahren, für mich bedeutet. Sollte ich ihn seiner Meinung nach mißverstanden haben, dann geschieht ihm recht. Jeder, der schreibt, setzt sich Mißverständnisssn und Mißdeutungen seiner Umwelt, vor allem aber seiner Schüler aus.

Für mich ist Miroslav Krleža ein großer Mann der europäischen Linken. Unter diesem Begriff verstehe ich nicht eine politische Partei oder eine parteiähnliche Vereinigung, die nach totaler Macht strebt und sich manchmal auch damit zufrieden gibt, daß man sie an der Macht ein bißchen teilhaben läßt, sondern eine geistige Haltung, die sich mit allen möglichen und unmöglichen Machtbestrebungen kritisch auseinandersetzt, eine Haltung, die ihre Kraft nicht aus der Solidarität mit irgendeiner abstrakten Gemeinschaft schöpft, sondern aus dem Mitleid mit dem zu allen Zeiten, auf allen Breitengraden und unter allen politischen Systemen gefährdeten Individuum, das von der jeweiligen nationalen, sozialen oder religiösen Gemeinschaft unter Druck gesetzt wird. Demnach ist Miroslav Krleža für mich ein echter Dichter, der in seinen drei großen Romanen der Dreißigerjahre — „Die Rückkehr des Filip Latinovicz“, „Ohne mich“ und „Bankett in Blittwien“ — den vergeblichen Kampf der einsichtigen, lauteren Individuen gegen eine provinzielle, kleinbürgerliche, rückständige, verständnislose, bösartige Gesellschaft exemplarisch dargestellt hat. Alle drei Helden scheitern bei dem Versuch, ihre persönliche Freiheit, an deren unantastbare Integrität sie glauben, gegen die verlogene Moral ihrer Umgebung auszuspielen.

„Ununterbrochen in einem schmutzigen Zimmer zu stehen“, hat Miroslav Krleža 1930 geschrieben, „mit einer Kerze in der Hand, ununterbrochen zu betrachten, wie winzige Wesen sich bewegen, die Angst vor dem Licht haben, ihren nahen Geruch zu spüren, der sich in die Ritzen der Buchstaben hineinfrißt, zu wachen und zu schreiben, zu schreiben und zu wachen, die müde Hand zu spüren und die müden Sätze, die in dem gelben Kreis der Lampe vorbeifließen, die Glocken zu hören und die Morgendämmerung heraufkommen zu sehen, und müde zu sein, wie alle Nachtarbeiter, und dann zu schlafen mit dem Widerhall der letzten Sätze im Kopf, und wach zu bleiben im Traum, und immer zu wachen und zu schreiben und so schreibend zu dauern, heißt bei uns ein Schriftsteller zu sein. Ein Schriftsteller zu sein heißt bei uns, durch eine ewige Ungewißheit zu schreiten, die uns ein unbekanntes und trübes Morgen bringt, das heißt aber auch, den unberührten und reinen Kreis der inneren Ruhe in sich zu tragen, der tief in uns vergraben ist, wie ein heller Brunnenkreis, aus dem die Ruhe der inneren Reinheit quillt. Es heißt auch, eine Arbeit zu verrichten, die nur deshalb nicht unnütz ist, weil sie aus uns selbst herausquillt, in der trüben Hoffnung, nicht unnütz zu sein, die also nach einem inneren, durch Naturgesetze bedingten Zwang aus sich selbst entsteht wie eine Quelle. Betrachtet man aber die Umstände, unter denen sie entsteht, dann ist diese Arbeit ziemlich langweilig. Schulden für gedruckte Bücher zu zahlen, die eine unnütze Ware darstellen, von den Besuchern der Landwirtschaftsmesse bespuckt zu werden und überflüssig zu sein in der Dorfkneipe, in der man Lampen zerbricht und Köpfe einschlägt, in der alles Kneipe ist und betrunkener Lärm und Rauch des letzten Krähwinkels, in dieser Kneipe mit den eigenen Büchern unter dem Arm zu stehen, unter unseren Witzen und unseren Gespritzten, und im schmutzigen Zimmer zu stehen, mit einer Kerze in der Hand, während draußen der Lärm der Landwirtschaftsmesse und des Tags des Herrn braust, das ist bei uns die literarische Existenz — so schreibt man bei uns Bücher.“

Seither sind 35 Jahre vergangen, in denen sich manches verändert hat. Die finsteren Apologeten des wildgewordenen Kleinbürgertums, die nicht nur rebellische Individuen, sondern ganze Völkerschaften vernichtet haben, sind selbst vernichtet worden. Die große Kneipe, in der wir alle leben, ist friedlicher und wohnlicher geworden, doch die Spannung zwischen dem denkenden Individuum und der dumpfen Gleichgültigkeit der provinziellen Umgebung ist auch in der sogenannten Wohlstandsgesellschaft westlicher oder östlicher Prägung die gleiche geblieben, jene Spannung, von der sich der Roman nährt. Dies nicht zu vergessen hat mich Miroslav Krleža gelehrt und dafür danke ich ihm.

Auch für ihn hat sich in den letzten 35 Jahren manches geändert. Aus dem gefürchteten Rebellen, der sich mit sturen Aparatschiks von rechts und links scharf auseinandergesetzt hat, ist eine Art nationale Größe geworden und eine anerkannte Figur der Weltliteratur. Ich weiß, er hört es nicht gern, aber es ist so. Er muß es ertragen. Sein gesammeltes Werk ist in seiner Heimat in 40 Bänden erschienen und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt. Sein erzählerisches Oeuvre liegt beinahe komplett in deutscher Sprache vor. Es bleibt uns noch, den Dramatiker, Lyriker und Essayisten Krleža zu entdecken.

Nun kommt er nach mehr als 30 Jahren nach Wien, in die einstige Hauptstadt der Donaumonarchie, mit deren Auswüchsen er, gleich Karl Kraus, schonungslos ins Gericht gegangen ist. Das Café Beethoven auf der Universitätsstraße, in dem er damals Zeitungen gelesen hat, gibt es nicht mehr. Es hat sich auch vieles andere verändert, doch ich hoffe, daß ihm das heutige Wien, die Heimatstadt meiner Wahl, gefallen wird.

„Der Kampf für die Freiheit des Menschen“, hat Miroslav Krleža 1945 geschrieben, „ist der Kampf für die Befreiung von Vorurteilen.“ Möge sein Besuch dazu beitragen, daß die vielen Vorurteile, die auf dem engen Raum zwischen Zagreb und Wien noch immer offen oder verborgen grassieren, endgültig beseitigt werden.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)