FORVM, No. 297/298
September
1978

Es gibt kein Leben ohne Risiko

Das Kernkraftwerk Zwentendorf ist das sicherste der Welt
Die beiden Männer waren zum Schutz gegen Wasserwerfer mit Plastikanzügen bekleidet, von ihren Gesichtern war nichts zu sehen. Sie hatten die Visiere über die Helme heruntergeklappt. Über Sprechfunk standen sie mit den anderen Demonstranten in Verbindung, die sie mit Sprechchören anfeuerten. Mit Äxten und Vorschlaghämmern wurden die neuen elektronischen Apparaturen zerstört, Radargeräte, Funkanlagen, Klein-Computer und die blendsicheren, beheizten Doppelglasscheiben zertrümmert. So geschehen am 29. März 1978 und vom Fernsehen via Satellit in alle Welt ausgeswahlt. Eine kleine Minderheit hatte den seit sieben Jahren fertiggestellten Flughafen Narita bei Tokio abermals auf längere Zeit lahmgelegt, indem sie das Nervenzentrum, den Kontrollturm, zerstörten. Dreizehnmal in diesen sieben Jahren hatte man die geplante Flughafeneröffnung gewaltsam vereitelt. Erst am 20. Mai 1978 konnte Narita endlich eröffnet werden.

Es muß also kein Kernkraftwerk sein, gegen dessen Bau oder Betrieb ein regelrechter Krieg geführt wird, denn mit freier Meinungsäußerung hat das nichts mehr zu tun. Man malt zwar die Gespenster vom „Atom-Staat“ mit großem Effekt an die Wand und verteidigt die persönliche Freiheit, die einer solchen Schützenhilfe gar nicht bedarf. Die militanten Demonstranten haben aber nichts dagegen, daß vor dem Flug in den Urlaub eine hochnotpeinliche Leibesvisitation vorgenommen wird, vielleicht eben deshalb, weil man auch daran nicht interessiert ist, einen schwerbewaffneten Terroristen zum Sitznachbarn zu haben.

Wir leben in einer schizophrenen Welt: Eine Technologie, die bis dato in kommerziell betriebenen Kernkraftwerken noch keinen einzigen Strahlentoten zu verzeichnen hatte — die beiden Arbeiter, die im deutschen Kernkraftwerk Gundremmingen ein Dampfrohr auswechsein wollten und damit mit radioaktiven Dämpfen verbrüht wurden, sind nicht wegen Strahlungsschäden, sondern an Verbrennungen gestorben —, wird verteufelt. Man verdrängt aber die Tatsache, daß in den Arsenalen der Großmächte enorme Mengen an spaltbarem Material lagern, daß Österreich von ausländischen Kernkraftwerken buchstäblich eingekreist wird, spricht nicht von den 400 Kernwaffenexplosionen unter der Erde und in der Stratosphäre und verdrängt, daß auf jeden der vier Milliarden Menschen eine vielfache Overkill-Kapazität kommt. Würde man dieses militärische Plutonium in den Kernreaktoren als Brennstoff einsetzen, dann wären viele Probleme gelöst. Es gäbe in den nächsten tausend Jahren keinen Engpaß in der Energieerzeugung, und auch von einem Krieg mit Kernwaffen wäre keine Rede. So aber hängt das atomare Damoklesschwert an einem dünnen Faden über uns, dem Zugriff der Politik und der Militärs freigegeben.

Das Kernkraftwerk Zwentendorf kostete etwa achteinhalb Milliarden Schilling, und schon der Eigentümer ist am sicheren Betrieb interessiert, denn er wäre wohl unzurechnungsfähig, würde er diesen horrenden Betrag in eine unsichere Angelegenheit investieren. Daß Zwentendorf das sicherste Kernkraftwerk der Welt ist, wurde von Experten klar dargestellt. Darüber hinaus wacht die Behörde über die Durchführung der wohl strengsten Sicherheitsauflagen, die man kennt. Kernkraftwerke, atomare Strategie und unser Alltag sind Risiken, mit denen wir leben müssen.

P. M.

Neue Arbeitsplätze sind energieintensiv

Über die Sicherheit des Kernkraftwerkes Zwentendorf einen Bericht zu schreiben — das würde selbst den Rahmen eines dicken Buches sprengen. Deshalb will ich mich nur mit dem Thema Risiko befassen und mit einem Ausspruch von Erich Kästner beginnen: „Das Leben des Menschen ist lebensgefährlich!“ Wie sich das in der Praxis verhält, hat uns jene furchtbare Explosionskatastrophe gezeigt, die am 11. Juli 1978 auf einem Campingplatz bei Taragona 115 Tote und über 150 Schwerverletzte gefordert hatte. Den Flüssiggastanker, der am Rande des überfüllten Campingplatzes vorbeigerast war, hatte wohl keiner einkalkuliert!

Ein Leben ohne Risiko ist undenkbar: Nirgendwo gibt es eine hundertprozentige Sicherheit. In der Kerntechnik ist das Risiko nicht hoch, das Schadenspotential jedoch sehr groß. Daß die Kerntechnik Gefahren in sich birgt, darf nicht wegdiskutiert werden. Dieses Gefahrenpotential muß aber im allgemeinen Zusammenhang gesehen werden — die Proportionen sind zurechtzurücken. Genaugenommen dürfte man nicht mehr auf dem Campingplatz Urlaub machen und auch nicht mehr im Hotel wohnen, da Hunderte Menschen bei Hotelbränden ums Leben gekommen sind.

Und wenn man Zwentendorf verbieten wollte, dann müßte auch das Autofahren behördlich verboten sein. Auf den Straßen Europas werden laut einer Statistik der WHO jährlich etwa 100.000 Menschen ausgerottet und zwei Millionen verletzt. Und würde man die jährlich in Österreich auf der Straße getöteten Menschen in Leichenautos abtransportieren, dann würde die Kolonne — jeder Sargwagen fünf Meter lang und Sicherheitsabstand fünf Meter — von Wien bis nach Baden reichen ...

Das alles gehört zum Risiko. Auch die Elektrizität ist eine große Gefahr, und die muß nicht aus Zwentendorf kommen. Im Jahre 1975 wurden beispielsweise in Österreich 272 Unfälle mit elektrischem Strom registriert; dabei gab es 34 Tote. 24 Arbeiter sind beim Bau des Speicherkraftwerkes Malta in Kärnten verunglückt — von den Grubenkatastrophen, die Tausende Menschenleben forderten, erst gar nicht zu sprechen.

Zurück zum Kernkraftwerk. Mit Stichtag 1. Jänner 1978 waren in aller Welt 208 Kernkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 98.425 Megawatt in Betrieb, und weitere 357 Kraftwerksblöcke mit 340.035 Megawatt waren zu diesem Zeitpunkt im Bau oder bestellt. Das ergibt 565 Anlagen mit 438.460 Megawatt. Dazu die Relation — in Österreich ist ein Kernkraftwerk praktisch fertig, und alle nur erdenklichen Sicherheitsauflagen, die bei diesen 565 Anlagen auch nur entfernt in Frage kommen, sind berücksichtigt worden.

Rasmussen-Report: Eins zu zwanzigtausend

Wie sieht es nun mit der vieldiskutierten Reaktorsicherheit aus? Das Risiko eines Menschen, durch einen Reaktorunfall ums Leben zu kommen, liegt bei eins zu fünf Milliarden. Die Gefahr, von einem Blitz erschlagen zu werden, ist 2.000 mal so groß. So steht es im Rasmussen-Report über Reaktorsicherheit. Der amerikanische Professor Dr. Norman C. Rasmussen vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat in den Jahren 1972 bis 1975 mit einem Team von 160 Experten sämtliche denkbaren Quellen hypothetischer Unfälle untersucht. Alle auch noch so unwahrscheinlichen Störfälle wurden in dieser 3.300 Seiten umfassenden Arbeit auf ihre Wahrscheinlichkeit abgeschätzt und auf mögliche Nebenwirkungen auf die Umgebung untersucht.

Diese Studie wurde — wie von Professor Rasmussen auch erwartet — einer Kritik unterzogen und aufgrund der erhaltenen Stellungnahmen nochmals überarbeitet. Quintessenz der Rasmussen-Studie: Von Kernkraftwerken droht den Men schen nur ein winziger, kaum meßbarer Bruchteil aller Unfallgefahren. Die zweite Fassung des Rasmussen-Reports (Main Report-Wash-1400) kommt zu folgenden hochgerechneten Ergebnissen:

  • Als schwerster Schadensfall wird das Abschmelzen des gesamten Reaktorkerns definiert, wie es bei einem totalen Ausfall der Reaktorkühlung eintreten könnte. Seine Konsequenzen hängen von einer Reihe von Begleitumständen ab. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Unfalls mit Durchschmelzen des Reaktordruckgefäßes und des Sicherheitsbehälters und anschließendem Versinken der Schmelze im Untergrund liegt bei etwa 1:20.000 pro Jahr und Kraftwerk. Seine Konsequenzen sind mit denen eines durchschnittlichen Autounfalls vergleichbar (weniger als ein Toter, weniger als ein Schwerverletzter).
  • Die Folgen eines Schmelzens des Reaktorkerns sind stark abhängig von verschiedenen Faktoren; deshalb führt der Wahrscheinlichkeit nach nur jeder zehnte Fall eines Durchschmelzens zu Beeinträchtigung der Gesundheit von Bewohnern in der Umgebung.
  • Der extreme Fall eines Reaktorunfalls mit 1.000 Toten hingegen kommt nach der Rasmussen-Studie unter der Annahme, daß 100 Kernkraftwerke in Betrieb sind, nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1.000.000 pro Jahr vor. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Katastrophe ist ebenso gering wie die Wahrscheinlichkeit, daß 1.000 Menschen von einem Meteor erschlagen werden.
  • Die tödliche Chlorfreisetzung aus chemischen Anlagen mit ähnlichen Auswirkungen ist 1.000 mal wahrscheinlicher als ein großer Reaktorunfall.

Die Pfanne in der Pfanne

Jede Statistik muß problematisch bleiben; dennoch gilt der Rasmussen-Report als die jüngste, gründlichste und umfassendste Studie dieser Art. Die Statistik sagt nicht, wann ein Ereignis, von dem nur die relative Häufigkeit seines Eintritts quantifiziert wird, tatsächlich eintritt.

Theoretisch könnte der von Professor Rasmussen prognostizierte Kernschmelz unfall, dieser Super-GAU mit allerschwersten Konsequenzen, noch heute eintreten, wenn auch die Wahrscheinlichkeit bei 1:20.000 pro Jahr und Kraftwerk liegt. Wie schon gesagt: In der Technik gibt es keine hundertprozentige Sicherheit, beim Kernkraftwerk Zwentendorf aber ist erreicht worden, mit Hilfe von einander überlappenden Schutzbarrieren diesem Ziel sehr, sehr nahe zu kommen. Ein Beispiel dafür ist das dem Kraftwerksreaktor zugrundeliegende Konzept der eingebauten Sicherheit. Das läßt sich am besten mit dem Beispiel von sechs ineinanderstehenden Kochgeschirren vergleichen. Der Satz von Pfannen sorgt für die optimale Dichtheit. Sollte die kleinste, die innerste Pfanne leck werden, so sind noch immer fünf andere Gefäße da, die Flüssigkeit aufzunehmen.

Nehmen wir an, daß die Wahrscheinlichkeit des Leckwerdens der innersten Pfanne 1:100 beträgt, so ist sie für das gleichzeitige Auftreten eines Lecks bei der zweiten Pfanne hundertmal kleiner. Mit jedem weiteren der ineinanderstehenden Kochgeschirre nimmt die Wahrscheinlichkeit um weitere hundertmal ab, so daß sie bei der letzten nur noch 1:1.000.000.000.000 beträgt. Tief gestaffelte Barrieren bringen die optimale Sicherheit. Auch der Vergleich mit der Zwiebel drängt sich auf — erst wenn beim Knollen dieser Gewürzpflanze mehrere Außenschichten verletzt sind, entfacht sie ihre beißende Schärfe.

Diese „Sicherheitsphilosophie“ bestimmt auch den Bau des Kernkraftwerkes Zwentendorf. Daneben gibt es eine Fülle von betriebstechnischen Einrichtungen, wie die Kraftwerksautomatik, die Überwachung durch das Personal und die ständig wiederkehrenden Prüfungen, um bei allen denkbaren Störungsmöglichkeiten die Gefahrenquelle sofort auszuschließen und zu verhindern, daß die Radioaktivität nach außen dringt.

Jumbo-Jet fällt, Reichsbrücke kracht

Dazu einige Aspekte in Verbindung mit Auto, Jumbo-Jet, Seveso und Reichsbrücke:

  • Auto: Im Automobilbau hat man zwei voneinander getrennte Bremssysteme. Würde man ein Auto nach den Auflagen für Zwentendorf bauen, dann müßten für das Fahrzeug vier einzelne, zu jedem Rad führende, gegen Steinschlag abgesicherte Bremsschläuche, vier Bremszylinder für jedes Rad und dergleichen mehr zur Verfügung stehen. Wäre nur einer dieser Bremsschläuche undicht, dann würde sich der Wagen erst gar nicht starten lassen.
  • Jumbo-Jet: Ein Jumbo-Jet hatte auf Teneriffa nichts anderes als eine gesperrte Kreuzung überfahren, der Rollweg war von der Startpiste nicht einmal mit Rotlicht abgesichert gewesen, Nebel behinderte die Sicht, es gab kein Bodenradar. Korrekt auf Zwentendorf bezogen, würde das sechs materielle Barrieren bedeuten, wie Stahlschranken, automatisch ausgelöste Bremsen, dazu schwenkbare Bremsklötze und dergleichen mehr. Jede Barriere wäre für sich autark.
  • Reichsbrücke: Den Einsturz dieses Bauwerks hat man mit der Sicherheit von Kernkraftwerken in Verbindung gebracht. Wäre die Reichsbrücke nach kerntechnischen Standards erbaut worden, dann müßte sie statt zwei Pfeiler sechs Pfeiler, statt vier Pylonen zwölf Pylonen, statt zwei Ketten sechs Ketten und statt einem Tragwerk drei Tragwerke — jedes anders aufgehängt — haben. Dazu inspizierbare Komponenten, Hunderte von Sensoren würden das Bauwerk abfühlen und ununterbrochen die Daten liefern. Bei der kleinsten Unregelmäßigkeit — Ausfall eines Meßgerätes — würde ein Schranken automatisch die Brücke sperren.
  • Seveso: Auch für eine chemische Fabrik wären mehrere Barrieren erforderlich. Der chemische Reaktor steht in einer zweifach isolierten Wanne. Eine große Kugel aus hochwertigem Stahl würde den Apparatismus umhüllen. In diesem Containment herrscht Unterdruck, bei einer Panne könnten die giftigen Stoffe nicht in die Umwelt dringen. Rauchgasdetektoren und Sprühsysteme wären behördlich vorgeschrieben, Leakage-Pumpen, Notstromaggregate, dazu noch eine zweite Hülle aus starkem Stahlbeton.

Elektrizität kann man nicht ins Depot legen Von der Planung bis zur Inbetrieb nahme eines Kernkraftwerkes — bei Zwentendorf dauert es schon länger — ist ein Zeitraum von mindestens einem Jahr zehnt erforderlich. Man muß also immer etliche Jahre voraus sein, um die Aufgaben meistern zu können. Die Elektrizitätswirtschaft hat eine gesetzliche Versorgungspflicht zu erfüllen, ist aber vom Konsumenten abhängig. Er allein bestimmt die Zuwachsraten, er allein gibt den Takt an. Elektrizität kann nicht ins Depot gelegt werden, im gleichen Augenblick ihrer Erzeugung muß sie verbraucht werden.

Neue Arbeitsplätze sind sehr energie intensiv. Millionen Frauen beispielsweise in Westeuropa sind berufstätig, nur der elektrifizierte Haushalt kann sie entlasten. Noch lange nicht sind alle Haushalte mit elektrischen Waschmaschinen ausgerü stet, und für Geschirrspülautomaten und Tiefkühltruhen besteht ebenfalls starker Nachholbedarf. Zehntausende neue Arbeitsplätze werden in den nächsten Jahren in Österreich erforderlich sein.

Wenn es um die vielzitierte Sicherheit in Zwentendorf geht, dann denken Sie bitte darüber nicht auf einem Campingplatz nach, fahren Sie nicht mit dem Auto, mit der „Maschin“ oder mit dem Rad. Steigen Sie in keinen Jumbo ein, und gehen Sie über keine Brücke. Machen Sie um jede Steckdose einen weiten Bogen. Und passen Sie bitte vor allem auf, daß weder Meteorit noch Blitz es auf Sie abgesehen hat ...

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