FORVM, No. 234
Juni
1973

Es gibt kein österreichisches Fernsehen

Ein Interview

E. B. hat ausgedehnte Erfahrungen mit ausländischen Fernsehstationen. Er hat bereits am 12. Mai 1937, lange bevor es ein deutsches, geschweige denn ein österreichisches Fernsehen gab, an der ersten Außenübertragung der BBC, dem Krönungszug König Georgs VI., mitgewirkt, entwickelte die erste bewegliche Ausrüstung der BBC mit drei Kameras (Henley-Regatta vom 1. April 1939), war Assistent des Programmchefs und Chefdramaturg zweier englischer Fernsehgesellschaften, produzierte das Eröffnungsprogramm des ITV-Senders Cardiff, war Programmchef des British Film Institute in London und Chef der UNESCO-Filmabteilung in Paris, wurde 1960 von der Regierung Adenauer nach Deutschland geholt, um dort als Produktions- und Programmchef die Grundlagen des Bundesfernsehens zu legen, dessen Studios und Programme später vom Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) übernommen wurden. E. B. ist einer der wenigen, die von der technischen Seite her zur Leitung einer Fernsehanstalt aufgestiegen sind. E. B. ist geschulter Kameramann, ausgebildeter Toningenieur und hat mehr als 600 Sendungen geschrieben, inszeniert oder produziert. Seit Mai 1970 lebt er in Österreich.

Empfindet der in Österreich lebende Ausländer das ORF-Programm im Vergleich mit dem deutschen, englischen, kanadischen und amerikanischen Fernsehen als politisch ausgewogen oder nicht?

Ohne mich als Ausländer in österreichische Fragen einmischen zu wollen, möchte ich sagen — man hat in Österreich kaum je das Gefühl, sich einem ausgesprochenen Regierungsfernsehen gegenüberzusehen, wie man es in Frankreich, Spanien oder Griechenland vorfindet. Andererseits fehlt auch völlig jene grundsätzliche Kritik an dem Establishment, die in England und Amerika die Würze des Fernsehens und dessen eigentlichen Sinn darstellt. Das österreichische Fernsehen wirkt deshalb auf den in England oder Amerika aufgewachsenen Zuschauer als ausgesprochen konservativ, sowohl im Inhalt wie in der Form der Programme. Alles, was auch nur ein wenig links von der Mitte steht (und in Österreich liegt die Mitte offenbar weiter rechts als selbst im konservativ regierten England), wird entweder nicht erwähnt oder wird (stets mit größter Höflichkeit!) als unausgegoren abserviert. Vor allem die Kulturprogramme hinken derart hinter dem Rest Europas her, daß man sich kaum noch wundern kann, wieso so viele der Klügsten dieses überreich mit Talent gesegneten Landes in Ausland flüchten. In einem Sinne hat die Regierung also zweifellos recht, wenn sie vermeint, das Fernsehen stünde im konservativsten Winkel der Alpenrepublik: Es ist ein Fernsehen, das weit, sehr weit rechts von der SPÖ steht, aber die konservative Neigung ist eher in der altmodischen Form der Programme und in der alles durchdringenden weltanschaulichen Tendenz als in einer parteilichen Stellungnahme zu spüren; weniger ein antisozialistisches Fernsehen als eines, dem grundsätzlich jeder Fortschritt zuwider ist.

Verspricht eine Dezentralisierung des ORF, bei welcher der Generalintendant für das allgemeine Management verantwortlich zeichnet, während die Landesintendanten Inhalt und Form der Landesprogramme selbständig bestimmen, eine ausgewogenere Meinungsvielfalt oder verringert sie diese?

Meiner Erfahrung nach hat das eine nichts mit dem anderen zu tun. Die BBC ist weitgehend zentralisiert und stellt trotzdem auch heute noch das fortschrittlichste Fernsehen im Westen mit der weitaus größten Meinungsvielfalt dar. Aber die BBC glaubt auch, im Gegensatz zum österreichischen und zum deutschen Fernsehen, daß Ausgewogenheit nicht in der Sowohl-als-auch-Form besteht, die jeden Zuschauer zu Tode langweilt, sondern in der Präsentation mehrerer ausgesprochen parteilicher Programme. Parteilichkeit in England bedeutet aber wiederum nicht Stellungnahme für oder gegen eine Partei (das wäre verpönt), sondern die möglichst aggressive Stellungnahme freier Persönlichkeiten, die ihre eigene Partei ebenso kritisieren wie die des Gegners.

Dezentralisation tendiert eher zum Provinzlerischen als zum Fortschrittlichen und ist stets teurer als Zentralisierung. Überlappungen, Verzögerungen und Verdopplungen sind bei dezentralisierter Struktur unvermeidlich. Vor allem aber kann die Entlastung des Generalindendanten von den Pflichten der Programmgestaltung nicht das größte Übel der Programmgestaltung verhindern: den Einkauf gefilmter Programme, die Vernachlässigung der heimischen elektronischen Produktion und damit die Perpetuierung einer technisch veralteten Form des Programms. Meinungsvielfalt kann nur aus der improvisierten Produktionsform mit elektronischen Kameras entspringen, denn nur mit dieser Technik kann der spontane Volkswille eingefangen und ohne Verspätung dargestellt werden. Film ist von seiner Natur her konservativ, ermutigt Manipulationen am Schneidetisch, dient überall der nachträglichen Meinungsunterdrückung und verformt die Wahrheit. Nur Live-Sendungen garantieren ein Minimum von echter Meinungsdarstellung.

Würde eine Erweiterung des Mitbestimmungsrechts der Belegschaftsvertreter im Aufsichtsrat des ORF seine Unabhängigkeit fördern?

Auch hier hat das eine nichts mit dem anderen zu tun, aber jegliche Erweiterung des Mitbestimmungsrechts der Belegschaft ist stets und grundsätzlich zu begrüßen, da sie das Betriebsklima verbessert, zu größerer Loyalität, besseren Leistungen und Abbau des Klassensystems führt.

Soll es ein Mitspracherecht der Hörer und Seher geben?

Ja, und hundertmal ja! Aber niemand in der SPÖ möge der Illusion verfallen, daß die Mitarbeit der Hörer und Seher das Programm „nach links demokratisiert“. Überall, wo man Erfahrungen mit Publikumsmitsprache gesammelt hat, war ein fühlbarer Ruck nach rechts zu spüren. Das Publikum ist stets konservativer als die Funk- und Fernsehschaffenden selber. Das gilt ebenso in sozialistischen wie in kapitalistischen Ländern. Trotzdem ist ein Mitspracherecht des Publikums von beachtlichem Wert. Genau wie das Mitbestimmungsrecht der Belegschaft fördert es die Loyalität gegenüber dem Fernsehnetz, ermuntert größere Teilnahme und liefert die manchmal berechtigte Illusion, das Programm gehöre dem Zuschauer.

Ist eine Beteiligung der Sozialpartner und der Bundesländer am Gesellschaftskapital des ORF nützlich oder nicht?

Jedes Fernsehprogramm gewinnt durch Verbreiterung seiner Basis, aber Programme werden von Programmschaffenden gemacht. Kein Programm, einerlei wie tief seine Wurzeln in den Volkskörper hinabreichen mögen, ist besser als der Mann, der es macht. Das BBC-Rezept, den anzustellenden Mitarbeiter weitaus schärfer zu prüfen, als das beim ORF geschieht, ihm danach aber nahezu absolute Freiheit zu geben, scheint mir nach wie vor die beste Lösung. Wenn er weiß, daß er alleinige und absolute Verantwortung trägt, die er auf niemand abschieben kann, die ihm aber auch jenen Ruhm und jene Aufstiegsmöglichkeiten gibt, die ihm niemand verbarrikadieren kann, dann — und nur dann — gibt er sich jene Mühe, die große Programme erzeugt. Diese Mühe bewegt sich innerhalb der Grenzen, die von den Sozialpartnern gesetzt werden. Sie verhindert jene eigensinnige, narzißtische Programmgestaltung, die man im deutschen Fernsehen so oft erblickt — Programme, die keinen Zuschauer interessieren und überhaupt nur die Funktion haben, innerhalb einer winzigen Gruppe von Intellektuellen die Hackordnung festzulegen. Sie verhindert Programme, die sich jeder Verantwortung gegenüber den Sozialpartnern entziehen.

Was sagen Sie zu den Studioneubauten des ORF?

Als die schönen neuen Länderstudios vor kurzer Zeit ihre Tore öffneten, um dem Zuschauer zu zeigen, wie großzügig, frisch und sauber alles aussah, wurde jedem Fachmann beim ersten Blick klar, daß hier völlig falsch geplant worden war. Was man da mit Staunen erblickte, waren keine Fernsehstudios, sondern Büros und Filmateliers, in denen unter anderem auch ein paar elektronische Geräte herumstanden. Grund der Fehlplanung: die Illusion, daß ein über den Äther ausgestrahltes Filmprogramm Fernsehen sei.

Solche Dinge geschehen nicht aus Zufall. Sie geschehen meist aus einem von drei Gründen und manchmal aus dem Zusammenwirken aller drei. Erstens versuchen die ausländischen Film- und Fernsehkaufleute, die heute das Fernsehen aller kleineren Länder beherrschen (vor allem die Amerikaner mit ihren gefilmten Serien und die Deutschen mit ihren Fernsehspielen), den Fernsehgesellschaften kleinerer Länder einzureden, daß es närrisch wäre, eigene elektronische Studios aufzubauen. Ein paar Filmprojektoren, ein paar Abtastgeräte seien doch viel billiger! Das sind sie in der Tat, aber dabei stirbt die heimische Produktion, und damit stirbt auch die Ausbildung heimischer Fernsehpraktiker.

Zweitens versuchen die alten Filmtechniker, die den technischen Kern aller veralteten Fernsehstudios bilden, ihre Chefs stets zu überreden, daß Film besser und solider als Elektronik sei. Drittens weichen alle Regisseure, die vom Film oder vom Theater kommen, in Panik vor den Problemen des elektronischen Live-Fernsehens zurück und versuchen alles, um die Intendanten dazu zu überreden, sie mit Film arbeiten zu lassen, statt mit elektronischen Kameras.

Im Film kann man Bild, Dialog, Musik und Ton in Ruhe zusammenbasteln und alle Fehler wieder entfernen, ehe der Intendant sie je entdeckt. Bei der Live-Sendung muß der Regisseur dagegen in jeder Sekunde gleichzeitig an Wort, Ton, Musik, Bildkomposition, Beleuchtung, Spiel, Handlung und den gesamten Aufbau der Sendung denken, kann keinerlei nachträgliche Änderungen vornehmen und muß deshalb die volle Verantwortung für alles übernehmen, was danebengeht. Live-Sendungen stellen Aufgaben, denen selbst die besten Film- und Bühnenregisseure nur selten gewachsen sind. Die Arbeit ist so nervenzerreibend, daß sich niemand länger als ein Jahrzehnt am elektronischen Regiepult zuzumuten wagt. Wer die Technik aber beherrscht, kann mit weniger als der Hälfte, oft mit einem Zehntel der in Österreich üblichen Produktionskosten auskommen.

Auch die elektronisch gespeicherte Sendung, in Österreich fälschlich „Aufzeichnung“ genannt, wird mit der löblichen Ausnahme einiger weniger Diskussionsprogramme von österreichischen Regisseuren wie die Pest gemieden, weil die Regieaufgaben den Schwierigkeiten der Live-Sendung um so mehr entsprechen, je länger das einzelne Bild gehalten wird. Denn im Gegensatz zu der Montagetechnik, in der die schöpferische Potenz des Films liegt, entfaltet sich die Kreativität des Fernsehens in der entgegengesetzen Richtung: in der Möglichkeit, dem beobachteten Objekt so lange wie möglich durch wechselnde Perspektiven zu folgen. Zwar hat man bei der gespeicherten Sendung, wie beim Film, Gelegenheit, Fehler vor der Sendung zu eliminieren, aber das ist kein Trost, wenn der Regisseur bei der Aufnahme einen Nervenzusammenbruch erleidet — was bei denen, die ihr Handwerk nicht von klein auf gelernt haben, häufig geschieht.

Aus all diesen Gründen arbeiten die österreichischen Sendeanlagen trotz der um das Vielfache höheren Kosten lieber mit 16-mm-Umkehrfilmen oder gar, wie in Papas Kino, mit 35-mm-Film. Bei 35 mm tauchen Probleme auf wie die Ausleuchtung eines jeden Bildes, Entwickeln und Kopieren, Schneiden und Kleben, Negativschnitt und erneutes Kopieren, Anfertigung von Geräuschbändern und Ton-Negativen, von chemischen Blenden und komplizierten Arbeiten auf der optischen Bank — einer archaische Produktionsform, die so viel Zeit, Personal und Geld verschlingt, als lebte man noch in der Ära der Hollywoodmagnaten.

Bei der Verwendung von Tonband und 16-mm-Umkehrfilm fallen zwar einige dieser Kosten fort, aber die Qualität verschlechtert sich merkbar, und der Arbeitsvorgang dauert immer noch zu lange, kostet zu viel Geld, nimmt zu viel Personal in Anspruch und ist im Endeffekt nicht immer besser. Was beim Spielfilm rund dreißig Leute erfordert, entspricht beim elektronischen Fernsehen der Arbeit von drei Leuten mit Kamera, Mikrophon und Bandgerät, kostet weniger und kann sofort zurückgespielt werden. Dabei benötigt die Elektronik weniger Licht, benutzt wendigere Stative, kann sämtliche Blenden während der Sendung am Mischpult vornehmen, kann Negativ durch Knopfdrehen in Positiv verwandeln und bietet eine Vielfalt von anderen Verfremdungseffekten, die beim Film unmöglich sind.

Wo aber findet man ein österreichisches Fernsehstudio, das diese Mittel organisch und nicht nur zur Dekoration benutzt? Wo ist der Österreichische Regisseur, der ein zweistündiges Fernsehspiel live zu inszenieren wagt? Wo ist der Unterhaltungschef, der statt seine Angestellten herumzukommandieren, selbst in der Lage ist, eine anderthalbstündige Sendung mit improvisierenden Schauspielern, Sängern und Tänzern live in den Äther zu senden? Wo ist der Nachrichtenchef, der es wagt, mit Ampexbändern und Direktübertragungen aus Ü-Wagen statt mit Filmeinblendungen zu arbeiten? Sicherlich gibt es einige wenige, die das könnten und es auch wollen. Aber sie sind in der Minderheit, und sie erhalten keine Gelegenheit, ihr Talent unter Beweis zu stellen. Denn was sie tun, läuft dem Trend der Verwaltung zuwider.

Wie sehen Sie die Problematik des Personals, der Regisseure und Fernsehjournalisten?

Was in Österreich fehlt, ist genau das, was die amerikanischen Ortssender neben ihrem eigentlichen Programm als wichtigstes Produkt auswerfen: in allen Techniken beschlagene Praktiker, die das Abteilungssystem sprengen; dies läßt sich nicht in den österreichischen Dualismus von Redakteur und Regisseur einordnen. Denn hier liegt der Manichäismus des österreichischen Fernsehens: der Glaube, daß man von Schreibtischmenschen ein Abstraktum anfertigen lassen könne, das sich Programmidee nennt, und dann von den Technikern erwartet, sie könnten unter dem charismatischen Einfluß eines Regisseurs dieses Abstraktum irgendwie in etwas Konkretes umsetzen. So macht man aber kein Fernsehen.

Fernsehen macht man wie ein guter Holzschnitzer, der seine Figuren aus der Form und Maserung des Holzes hervorbringt: improvisierend aus den Gegebenheiten der Situation, in der man sich befindet. Der Fernsehregisseur ist entweder gleichzeitig Autor und Produzent seiner Sendung, oder er gehört nicht ins Fernsehen. Das gilt ebenso für Nachrichtensendungen wie für Dokumentationen, für Unterhaltungssendungen wie für Fernsehspiele. Denn das Kennzeichnen des Fernsehspiels, im Gegensatz zum Spielfilm, ist die Abwesenheit jener Planungsrigidität, die der Film erfordert. Da man das Bildband kostenlos löschen kann, ergibt sich beim elektronischen Bildspeicher nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verpflichtung, sich vom Manuskript freizumachen und all das improvisierend in die Handlung einzubeziehen, was sich zufällig anbietet. Der Regisseur schreibt das Fernsehspiel nicht mit der Feder, sondern mit Kamera und Mikrophon.

Dem Verwaltungschef stehen die Haare zu Berge, wenn er von solcher Ketzerei auch nur hört. Wie soll er da seinem Intendanten Rechenschaft ablegen? Wie soll er die Rechte erwerben? Wie schützt er sich vor Prozessen? Wie teilt er die Techniker ein? Das ganze mutet ihn diabolisch an, als eine Art Versuch, seine Autorität systematisch zu untergraben. Und in gewissem Sinne ist das auch wahr. Aber so, und nur so, macht man Fernsehen.

Die Fragen, die sich aus dieser Erkenntnis ergeben, sind Rechtsfragen: Haben die Funk- und Fernsehanstalten das Recht, in einer anderen Technik tätig zu sein als in der, deren Namen sie tragen? Haben sie das Recht, sich ihrer Verantwortung zu entledigen, indem sie den Großteil ihrer schöpferischen Arbeit an Filmproduzenten weitergeben? Kommt die Tatsache, daß eine Fernsehanstalt den Großteil ihrer Sendungen in einer fernsehfremden Technik herstellt, kauft oder aussendet, nicht einem Offenbarungseid gleich?

Eines ist sicher: Jene filmsendende Beamtenhierarchie, die heute in vielen Ländern, darunter leider auch in Österreich, unter der Flagge des Fernsehens segelt, produziert alles andere als Fernsehen. Früher oder später muß ein Kontrastprogramm heran, das dem österreichischen Publikum zum ersten Mal zeigt, was Fernsehen überhaupt ist. Das darf aber auch — Gott helfe uns! — kein Kassettenfernsehen sein, denn da ist alles viel schlimmer, noch viel schäbiger, noch viel korrupter als in jenem beamteten Kino, das sich in manchen Ländern unter den Namen „Fernsehen“ eingenistet hat.

Das Beamtenkino ist nicht nur technisch falsch und ästhetisch widersinnig, sondern auch teuer, weil der Konsument nicht nur für die angekauften und für die von der Anstalt produzierten Filme, sondern auch für die nicht gesendeten Programme, für die tage- und nächtelang brachliegenden Anlagen der wunderschönen Länderstudios zahlen muß. In den Vereinigten Staaten gilt als Faustregel, daß Sendeanlagen „round the clock“, 24 Stunden am Tag, laufen müssen, um ihre Kosten zu amortisieren. Das Aus- und Anschalten elektronischer Geräte verursacht höhere Abnutzungskosten als nächtelange Laufzeit. Auch wenn das Studio im Augenblick nicht sendet, gilt deshalb als selbstverständlich, daß jedes Gerät, wenn es nicht gerade überholt wird, der Produktion zukünftiger Programme dienen muß. Ein Studio, das zu irgendeiner Zeit leersteht, gilt als Studio, das Geld kostet, statt Geld einzubringen.

Diese privatwirtschaftliche Logik zitiere ich hier nicht etwa deshalb, weil ich meine, daß sich die maximale Ausnützung des Maschinenparks positiv auf die Qualität des Produkts auswirken müsse, sondern im Gegenteil: weil die Erfahrungen der Arbeitsbrigaden in der UdSSR, der Volksrepublik China und der Jugoslawischen Föderativen Republik gewisse Gemeinsamkeiten mit den betriebswirtschaftlichen Lehren des hochentwickelten amerikanischen Kapitalismus aufgedeckt haben: Die Grundlage der sogenannten „guten Arbeitsmoral“ ist stets und überall die Überzeugung der Belegschaft, sinnvoll zu arbeiten und voll ausgelastet zu sein. Selbst unter fortschrittlichen, aufgeklärten Arbeitern, die sich ihrer finanziellen Ausbeutung in einem privatwirtschaftlichen Betrieb durchaus bewußt sind, führt Leerlauf zur Depression und schlägt sich in mangelnder Qualität des Produkts nieder.

Als Institutionen öffentlichen Rechts sind die österreichischen Rundfunk- und Fersehstudios nun aber zu einem gewissen Maß an Leerlauf verdammt. Aus arbeitsrechtlichen Gründen könnten sie das im amerikanischen Fernsehen übliche Dreischichtensystem von je 8 Dienststunden selbst dann nicht übernehmen, wenn sie wollten, und sind deshalb niemals völlig ausgelastet. Dies bedeutet, daß keines der Studios in der Praxis das leistet, was es einerseits in der Privatwirtschaft, anderseits aber auch als sozialisierter Betrieb mit dem gleichen Personal schaffen könnte: ohne Mitwirkung der anderen Länderstudios ein komplettes Programm für die ganze Republik zu produzieren.

In den Ohren der Intendanten, die sich seit Jahren darüber beklagen, daß sie nicht einmal genug Geld haben, um ihren gegenwärtigen Prögrammanteil zu finanzieren, klingt eine solche Überlegung natürlich wie Hohn. Dem Fernsehfachmann, der sowohl im kapitalistischen wie im sozialistischen Ausland gearbeitet hat, sticht dagegen die Tatsache ins Auge, daß jedes der großzügigen neuen Länderstudios, wenn es nur richtig eingerichtet wäre, durchaus in der Lage sein könnte, ganz Österreich mit Programmen zu versorgen.

Die föderalistische Dezentralisierung des österreichischen Fernsehnetzes — und hiermit komme ich zur zweiten mir gestellten Frage zurück — widerspricht jeder fernsehtechnischen Logik und stellt kaum etwas anderes dar als den Machtanspruch kulturpolitischer Duodezfürsten. Die Landesstudios sind ja selbst wieder Zentralisationsformen für mögliche Ortssender. Der Vorwand, daß dieses System politische Beeinflussung durch diese oder jene Partei oder durch das Zentrum Wien verhindere und eine bessere Anpassung an die örtlichen Erfordernisse gewähre, ist fadenscheinig. Die zentralisierte BBC ist weitaus freier von dem Einfluß politischer Parteien als der dezentralisierte österreichische Fernsehapparat. Wollte man den örtlichen Ansprüchen ernsthaft Rechnung tragen, dann wären dreißig oder vierzig Ortssender mit je 30 bis 40 Angestellten sinnvoller als die gegenwärtigen Länderstudios mit ihren Hunderten von Mitarbeitern. Neben den Ortssendern müßte es dann natürlich noch mindestens ein zentral gemachtes Nationaprogramm geben.

Wie müßte also ein Alternativmodell aussehen?

Das amerikanische Fernsehen arbeitet rentabler, weil es mehr Live-Programme sendet und weil die Versorgung örtlicher Interessen nicht in den Händen von regionalen Superstudios, sondern von funktionellen Ortssendern liegt, die oft mit einem Gesamtpersonal von 10 bis 15 Angestellten (einschließlich der Techniker und Kraftfahrer) auskommen. Da diese Sender von der Werbung leben, sind ihre Programme oft miserabel. Aber die technische Qualität ist gut, und die spontane, improvisierende Form der Programme zeigt, in welche Richtung ein mediengerechtes Fernsehen blicken muß: weg vom Film, weg von geschlossenen Programmformen; hin zur offenen Form, zur Live-Sendung, zum Impromtu und Extempore.

Wegen der erforderlichen Vielseitigkeit ihrer Mitarbeiter haben sich diese dezentralisiert arbeitenden Kleinsender als die beste Schule des Fernsehens erwiesen. Denn hier muß man sowohl vor wie hinter der Kamera arbeiten können, sowohl als Kameramann wie als Ansager, als Tonmeister wie als Show-Master, als Buchhalter wie als Kulissenschieber. Man lernt den Betrieb in seiner Gesamtheit und in seinen Zusammenhängen kennen. Schnelle Entscheidungen, Improvisationsfähigkeit, Beherrschung aller Apparaturen, aber auch verwaltungstechnische Verantwortung werden gefordert und gefördert.

Das Wichtigste an diesem Modell ist jedoch seine Verwendbarkeit in planwirtschaftlichen Systemen. Sowohl die UdSSR wie Castros Kuba und Maos China haben sich diese amerikanischen Ortssender als Vorbild ihrer eigenen Kleinsender gewählt. Und mit Recht. Denn hier und nur hier lernt man das Fernsehhandwerk von der Pike auf. Da jeder Mitarbeiter im Notfall in der Lage sein muß, jede Arbeit anzupacken, lernt er genug von allen Aspekten des Betriebes, um sich danach nie wieder im Leben von „Fachleuten“, vor allem von der allmächtigen Verwaltung, einschüchtern zu lassen. Man stelle sich dagegen vor, wie ein österreichischer Fernsehintendant oder Hauptabteilungsleiter reagieren würde, wenn ein von ihm getadeter Kameramann sagte: „Na schön, Chef. Wenn Sie meinen, ich mach’s falsch, dann zeigen Sie mir mal, wie man’s richtig macht!“

Dies soll keine Kritik des guten Mannes sein, der da aus diesen oder jenen Gründen zum Intendaten gewählt worden ist, sondern ist als Illustration des unvermeidlichen Übels gemeint, das einerseits aus einer politisch beeinflußten Intendantenwahl, anderseits aus unserem Abteilungssystem mit seiner vom Beamtenrecht übernommenen Verwaltungsstruktur erwächst. In der BRD hat dieses Abteilungssystem dazu geführt, daß kein Redakteur, kein Verwaltungschef, kein Intendant eine Ausbildung als Kameramann, als Tonmeister oder am Mischpult erhalten hatte — bis zu dem Zeitpunkt, da die Jungfilmer, die sich sowohl Schreiben wie Fotografieren, sowohl Inszenieren wie Schneiden selber beigebracht hatten, zum erstenmal in die Fernsehanstalten kamen. Da die Personalpolitik jede Tätigkeit unmöglich machte, die aus dem Rahmen der Abteilungskompetenzen herausfiel, war das ZDF genau wie die älteren deutschen Rundfunkanstalten zu einer Hochburg von Abiteilungsleitern geworden, die wie Primadonnen auf ihren Privilegien saßen und jede Auflockerung des Betriebes, jede Spontaneität unmöglich machten. Kein Kameramann durfte inszenieren, kein Regisseur durfte fotografieren, kein Autor durfte schneiden. Resultat: eine steinzeitliche Verknöcherung des Produktionsprozesses.

Genau das gleiche ist aber auch im kleinen Österreich der Fall. Die interpersonellen Spannungen, die dem englischen oder amerikanischen Regisseur als erstes auffallen, wenn er auf Einladung einer deutschen oder österreichischen Fernsehanstalt eine Gastregie übernimmt, sind zum großen Teil Auswirkungen des mangelnden gegenseitigen Respekts, den dieses System erzeugt. Da die Abteilungsleiter mit Ausnahme der technischen Chefs weder technische Erfahrung noch technische Kenntnisse haben, leiden sie unter der Verachtung der Techniker und überkompensieren dann ihre technische Unsicherheit, indem sie den Techniker fühlen lassen, daß er eben doch nur ein Prolet ist. Abteilungsleiter dieser Art neigen stets dazu, sich hinter dem Schreibtisch zu verschanzen, „Redakteure“ statt Produktionspraktiker anzustellen, mit administrativen Maßnahmen zu arbeiten, statt ein Vorbild zu geben, und sich lieber der Sicherheit des Films anzuvertrauen, als mit der elektronischen Kamera zu improvisieren.

Der Gegensatz zwischen ihrer Art des beamteten Fernsehens mit seinem Labyrinth von geschlossenen Türen, hinter denen unsichtbare Menschen undurchschaubare Aufgaben verrichten, und amerikanischen, kubanischen und chinesischen Ortssendern, in denen jede Tür offensteht und jeder genau weiß, was der Nachbar tut — dieser Gegensatz ist nicht bloß der optische Niederschlag alternativer Formen des Fernsehens. Wer beide Formen am eigenen Leibe erlebt hat, wird Rundfunkanstalten, in denen Filmkameras, Schneidetische, Entwicklungs- und Kopiermaschinen arbeiten, überhaupt nicht für Fernsehen, sondern für eine kostspielige Zwitterwirtschaft halten. Und zwar, wie gesagt, weil sie die einzige fernsehspezifische Form, die Live-Sendung, in ungenügendem Maße verwenden und weil sie sich in die Gewalt der Serienfilm-Hersteller begeben.

Diese barbarischen, am Fließband gefertigten Krimi-, Western-, Abenteuer- und „Komödien“-Reihen sind allein für den schlechten Ruf verantwortlich, den sich das Fernsehen zugezogen hat. Sie sind billig, weil sie auf primitivste Weise hergestellt und in so vielen Sprachen synchronisiert werden, daß die Lizenzgebühren pro Sender oft niedriger liegen als die billigste Sendung, die man selber produzieren kann. Mittlerweile liegen aber die eigenen Produktionsmittel brach, so daß die nominelle Kosteneinsparung sich in den wachsenden indirekten Kosten niederschlägt. Resultat: Jedes Jahr verlangen die Intendanten mehr Geld für geringere Per-capita-Leistungen ihrer Anstalten. Statt daß die Fernsehbetriebe mit zunehmender Erfahrung, fortschreitender Technisierung und besserer Planung lernten, mehr Programminuten pro Mitarbeiter zu erzeugen, tritt das Gegenteil ein: Trotz stetig wachsender Angestelltenzahlen sinkt in österreichischen Fernsehstudios von Jahr zu Jahr die Per-capita-Leistung. Der Grund liegt in dem von Anfang an falsch geplanten Maschinenpark: an dem zu großen Kapitalaufwand für Filmausrüstung, am Mangel elektronischer Geräte, vor allem aber am Fehlen von geschulten Spezialisten, die Live-Sendungen betreiben können.

Hätten die Intendanten und Verwaltungschefs jemals die harte Schule der Ortssender zu absolvieren gehabt, so wären sie nie auf die falschen Ratschläge ihrer aus dem Film stammenden Sachberater hereingefallen und hätten den Betrieb statt dessen von Anfang an als elektronische Anlagen geplant. Dadurch hätten sie ihren Regisseuren auch die Angst vor der Live-Technik genommen und so jenes freiere, spontanere Fernsehen ermöglicht, das allein eine echte Repräsentation des Volkswillens und der Volksmeinung garantieren kann.

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