FORVM, No. 337/338
Februar
1982

Eure Polen, unsre Russen

Offener Brief an sozialistische Freunde in Frankreich

Liebe Genossen,

wieder einmal verstehen wir einander schlecht, oder hören aneinander vorbei. Vor vier Jahren sahen viele von Euch den Umgang mit der RAF durch die deutsche Öffentlichkeit als Kennzeichen deutscher anti-demokratischer Staatsräson. Mit Euch haben viele von uns seinerzeit die bösartigen Unterstellungen der politischen Rechten gegenüber Schriftstellern und Intellektuellen abzuwehren versucht. Beim Kampf gegen die sogenannten Berufsverbote, die Kommunisten aus dem staatlichen Dienst fernhalten sollten, habt Ihr an unserer Seite gestanden.

Jetzt seid Ihr über unsere angeblich allzu vorsichtige Haltung zu Polen enttäuscht. Ja, Ihr äußert Zorn. Zu lau seien wir umgegangen mit der Verhängung des Kriegsrechts in Polen, allzusehr seien wir Gefangene unserer Friedens- und Entspannungspolitik, die den Freiheitswillen der Polen vernachlässige.

Ich weiß, daß es nicht sehr sinnvoll ist, nun die Fülle der direkten und praktischen Hilfsaktivitäten aufzuzählen, mit denen von der Bundesrepublik geholfen worden ist. Ein einmal gestanztes Urteil beißt sich fest.

Wenn auch der Vorwurf ungerecht ist, so trifft er doch einige fundamentale politische und moralische Probleme unserer Außenpolitik, über die bei uns seit Beginn dieser Entspannungspolitiik sehr viel nachgedacht worden ist, vielleicht schärfer und verzweifelter als bei Euch. Laßt mich meine Bitte um Verständnis unterstreichen durch die Erörterung einiger dieser Probleme.

Der Krieg, den die Deutschen verschuldet und begonnen hatten, hat bis heute eine Lage in Mitteleuropa geschaffen, die uns immer wieder zwingt, ein vertrags- und verhandlungsfähiges Klima zwischen uns und den Warschauer Pakt-Staaten anzustreben. Nicht, weil wir unter Entspannungsobsession litten, sondern weil wir seit nun schon über 30 Jahren auf bittere Weise haben lernen müssen, daß wir ohne ein solches Klima das nicht tun können, wozu Politik üblicherweise dient: konkrete Situationen zu verändern und zu verbessern, damit Politik etwas für Menschen bewirken kann.

Kurz, wir mußten für unser Verhältnis zur DDR, für die Sicherung der Zufahrtswege nach Berlin, für millionenfachen verwandtschaftlichen Verkehr zwischen den beiden deutschen Staaten immer etwas von Politikern und Staaten fordern, denen gegenüber wir keine Repressionsinstrumente in der Hand hatten; wir mußten friedlich verbessern, was Hitler an schrecklicher Wirklichkeit in Europa hinterlassen hatte und dem Stalin eine so brutale Ordnung gegeben hatte. Seit 1945 haben wir es uns nie leisten können, uns ganz dem Zorn hinzugeben, und auch Adenauer hätte es sich nicht leisten dürfen, den äußeren Kalten Krieg von damals innenpolitisch zu nutzen.

Das ist unsere Erfahrung, und das ist der Grund dafür, warum wir auch zu Jaruzelski, der sein Land in ein Kriegsrechtlager verwandelt hat, verhandlungsfähige Beziehungen aufrechterhalten wollen.

Wie anders wäre da die Situation bei Chile und Salvador, welche Pressionsmöglichkeiten hatten wir und hätte unser Bündnispartner gehabt, Kriminelle wie Somoza aus Nicaragua zu vertreiben. Die Linke in Deutschland hat stets Euer Engagement für die verfolgten Demokraten in Lateinamerika bewundert, und wir haben für unser Lateinamerika-Bild von Euch gelernt.

In Salvador sind in den letzten Monaten mehr Menschen umgebracht worden, als in Polen interniert worden sind. Oradour-Szenen der schrecklichsten Form finden zur Zeit in Lateinamerika statt. Auch bei uns gibt es die Heuchler von rechts, die Helmut Schmidt Schwäche gegenüber Jaruzelski vorwerfen, die aber kein Sterbenswörtchen zu Lateinamerika sagen. Wir wollen uns an diesem perversen Duett der Moral nicht beteiligen: schweigst du zu Polen, rede ich von Bolivien, redest du von Bokassa, schweigst du zu Gulag.

Willy Brandt, Egon Bahr, Helmut Schmidt und wir alle haben immer gewußt: In Mitteleuropa Entspannungspolitik für konkrete Ziele zu machen, bedeutet eine hohe Anforderung an das Niveau der moralischen Diskussion. Die Ethik der Entspannungspolitik lag in der Formel Egon Bahrs »Wandel durch Annäherung«. Daran zu erinnern ist wichtig auch dann, wenn Zeiten angebrochen sind, in denen die Grenzen solchen Wandels enger gezogen sind als die der Annäherung.

Welche moralische Kraft hätte diese Formel entfalten können, wenn Eisenhower und Kennedy sie für Lateinamerika entwickelt und angewandt hätten! Und wo stünden die USA moralisch in der Welt, wenn »Wandel durch Annäherung« für Kuba gegolten hätte? Wo stünde Fidel Castro, der 1960 Marx kaum gelesen hatte und plötzlich gegen die Wirtschaftssanktionen der USA die Milliarden aus Moskau brauchte? Welche Chancen für die Vereinigten Staaten und die Nicaraguaner, mit einer solchen Politik die geöffneten Arme des Welt-Gegners abzuwehren? Und wie schließlich stünde Frankreich heute da, wenn es aus seiner frankophonen afrikanischen Familie keine Brillantgeschenke von ausgehaltenen Massenmördern gegeben hätte?

Realpolitik haben alle betrieben, und nationale Interessen sind dabei oft mißverstanden worden.

Wir verstehen französische Bedenken gegen Wiedervereinigungsregungen bei uns. Wir haben seit nun bald zwanzig Jahren auf der politischen Linken die zwei Staaten DDR und BRD so akzeptiert, wie unsere westlichen Verbündeten es entsprechend dem Jalta-Abkommen von uns erwartet haben. Faktisches Verzichten auf die Wiedervereinigung erzwingt jedoch eine deutsch-deutsche Entspannung, die den Bürgern selbst mehr dient als dem überholten Gedanken an die staatlich geeinte Nation.

Der russische Bär umklammert Europa
(Karikatur aus 1878)

Gerade die westlichen Allierten mit ihren Vorbehaltsrechten in Berlin haben die Bundesrepublik Deutschland in eine notwendige Phase der Realpolitik gedrängt, die für uns schwer durchzusetzen war. Sie hatte in zweierlei Hinsicht ihre große moralische Rechtfertigung, die weit über die realpolitische Notwendigkeit hinausging:

Wir mußten Frieden schließen mit den Völkern Osteuropas — Hitler hatte Polen und die UdSSR überfallen —, und dies konnten wir nur tun über spürbare Erleichterungen für die Menschen. (Aber wir haben immer gewußt, daß wir nie die Chance hatten, ihnen ein Leben ohne Polizeistaat zu verschaffen.)

Der Friedensschluß ist gelungen. Revanchismus und neokonservatives Wiedervereinigungspathos sind vorbei. Die Menschen der Bundesrepublik haben den Ausgleich, die Entspannung auch mit den Völkern der osteuropäischen Staaten akzeptiert. Ein solches Problem hattet Ihr nicht. Eure Waffenbrüder gegen Hitler waren auch die Stalinschen Kader, aus denen Breschnew hervorgegangen ist.

Wir haben voller Bewunderung und vielleicht auch mit etwas Neid gesehen, wie locker Ihr in den sechziger Jahren über Handels- und diplomatische Vertretungen Kontakte mit den Staatshandelsländern organisieren konntet, als dies bei uns noch als nationaler Verrat galt.

Aber darüber hinaus sollten in Frankreich einige Dinge diskutiert werden, die Frankreich, aber vor allem die französische Linke in den achtziger Jahren so beschäftigen werden, wie sie uns beschäftigen, seit wir Sozialdemokraten an der Regierung sind:

Es gibt eine Spannung zwischen dem moralischen Engagement einer Partei und den außenpolitischen Notwendigkeiten, denen sich eine Regierung beugen muß. Ich selbst habe immer empfunden, daß wir bundesdeutschen Linksintellektuellen häufig zu nahe an die Realpolitik herangerückt sind und in bezug auf die Ostpolitik nicht deutlich genug gemacht hatten, daß diese Moral der Entspannung auch die Hoffnung der Dissidenten umfaßt und unseren Dialog mit ihnen.

Deutsche verfolgen mit außerordentlicher Aufmerksamkeit soziale Veränderungen in Osteuropa — mit der Hoffnung, es möge sich etwas ändern im System der Gulag-Erben, mit Sorge, es könne zum Schaden der Menschen der Status quo jeweils zurückverändert werden, Erreichtes könnte rückgängig gemacht werden.

All diese Zwänge verführen gewiß auch Intellektuelle bei uns dazu, die realpolitische Vernunft stärker auszudrücken als die notwendige moralische Anteilnahme. Wir haben nicht nur ein Prag- und Budapest-Trauma, wir haben auch ein Hiroshima-Trauma. Die deutsche Friedensbewegung zeigt, daß dieses bei uns stärker ist als bei Euch, die Ihr allenfalls gewitzelt hattet über die Force de Frappe. Ihr lebt mit der Bombe, die Euch gehört, gelassener, als wir mit den über sechstausend Atombomben auf unserem Boden, die uns nicht gehören. Die Angst vor den Waffen wächst bei uns rascher, als die bei Gott noch vorhandene Angst vor den Russen.

Und vielleicht führt Friedenszwang unter Atombedingungen bei uns allzurasch dazu, soziale Veränderungen nicht nur mit Hoffnung, sondern auch mit der Sorge zu betrachten, sie könnten den Frieden stören. Die Geschichte hat uns hier vielleicht zu ängstlich gemacht. Wir lernen da gerne von Eurer Spontaneität.

Aber Eure Ostpolitik mußte nie gegen die Anklage des nationalen Verrats innenpolitisch erkämpft werden. Auch Ihr werdet wohl merken, wie notwendig eine europäische Entspannungspolitik in den achtziger Jahren ist, und vielleicht bleibt Ihr von der schmerzlichen Erfahrung verschont, wie schwer die innenpolitisch zu bekommen ist.

Die Deutschen haben diesen Prozeß hinter sich. Wir werden lernen müssen, solidarisch zu sein mit denen, die von Freiheit träumen, ohne Angst, die Entspannung zu verlieren. Vielleicht werdet Ihr lernen müssen, die oberste Priorität der Entspannungspolitik zu akzeptieren, ohne Angst, die Freiheitssolidarität zu verlieren.

Mit solidarischen Grüßen
Freimut Duve
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