FORVM, No. 309/310
September
1979

Eurokommunist Nr. 1

Zum Tode unseres Freundes Franz Marek am 28. Juni 1979
Franz Marek, wie ihn seine Freunde kannten

Weinen könnt er, wenn er daran denkt, was alles aus ihm hätt werden können — soll der alte Raimund gesagt haben. Franz Marek war zu bescheiden, so zu denken. Dadurch entging er beiden Varianten typisch österreichischen Schicksals:

  • Nichts weiter sein als lokale Berühmtheit und dementsprechend grantig — aber er hatte internationale Verflechtungen, die ihm Spaß machten, vor allem mit der italienischen, französischen, tschechoslowakischen, jugoslawischen Linken.
  • Draußen in der Welt anerkannt sein, daheim unbekannt — aber bei aller Borniertheit österreichischen Geisteslebens hatte er hier ein ihm ausreichendes Bouquet von Freunden, Kennern, Schätzern.

Und doch. Diese Bedürfnislosigkeit, Sublimationsfähigkeit, Zufriedenheit der Österreicher, die für dieses Land zu große Schuhnummern haben. Viktor Adler, Otto Bauer, Karl Renner, Ernst Fischer, Franz Marek das ist nur die linke Seite, auf der andern gibt’s kaum weniger (Ernst Karl Winter, August Maria Knoll, Friedrich Heer).

Von der Genügsamkeit großer Österreicher lassen wir, Betrachter und Beklager, uns gern anstecken, bitte sehr, vielleicht waren’s eh nicht so groß. Zu diesem Zweck verkehren wir die Zeitenfolge; wir hängen unsre Leute hintendran an irgendwelche internationale Tendenzen, die sie in Wahrheit vorweggenommen haben. Um unser Gewissen zu beruhigen, machen wir unsre Originale zu Kopien.

Viktor Adler, ein Ableger des zentristischen deutschen Marxismus — nein, umgekehrt, Karl Kautskys „Erfurter Programm“ ist die Abschrift von Viktor Adlers „Hainfelder Programm“.

Otto Bauer wollte keynesianische Wirtschaftspolitik nach Österreich importieren nein, umgekehrt, Otto Bauers Aktionsprogramm, vorangestellt dem Linzer Grundsatzprogramm, nahm Keynes um Jahre vorweg.

Karl Renner erfand den „Stamokap“ schon 1917 („Krieg, Marxismus und Internationale“).

Winter, Knoll, Heer waren „Linkskatholiken“, ehe es sonst noch welche gab.

Franz Marek war „Eurokommunist“, ehe es sonst noch welche gab. Er formulierte die erste marxistische Begründung für den Bruch mit der Sowjetunion nach dem Einmarsch in Prag, August 1968. Ernst Fischer fand die Emotional-Vokabel „Panzerkommunismus“; Marek theoretisierte schon 1967:

Die sozialistische Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ... wird nur dann verwirklicht werden können, wenn ein großer Teil der Bevölkerung davon überzeugt sein wird, daß mit der Beseitigung des Kapitalismus neue demokratische Freiheiten und demokratische Rechte zu den bestehenden dazukommen werden, daß die Demokratie eine entscheidende Erweiterung erfahren wird.

Als dann die entscheidende Verengung der Demokratie des Prager Frühlings eintrat, brauchte er aus seiner Theorie nur die praktische Schlußfolgerung zu ziehen (ungezeichneter Artikel im damals noch KPÖ-zugehörigen Tagebuch):

Der Mythos von der revolutionären Avantgarderolle der Sowjetunion ist am 21. August 1968 zerbrochen. Die kommunistische Revolution kann nur weiterbestehen, wenn sie sich von allen Illusionen befreit und die Sowjetunion nicht im verklärten Licht der Oktoberrevolution sieht, sondern im harten Tageslicht der heutigen Wirklichkeit. Man muß die Sowjetunion als eine Realität betrachten, die von den Idealen der kommunistischen Bewegung himmelweit entfernt ist.

Sowohl dem Prager Frühling, Vorläufer des Eurokommunismus, wie auch dem eigentlichen Eurokommunismus in Lateineuropa ist Franz Marek um Jahre vorausgelaufen mit seinem Entwurf eines neuen Programms der KPÖ, 1964 entstanden, 1965 vom Parteitag beschlossen. Es ist das allererste eurokommunistische Programm — eines der wenigen Ruhmesblätter der KPÖ und eines, dessen sie sich rasch entledigte.

Seit der Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU über die Verbrechen Stalins — Mareks Kommentar: „Hier hat das Unrecht Ausmaße angenommen, die den Sozialismus in Frage stellen“ — sind er und Ernst Fischer an der Spitze der innerparteilichen Opposition. Mit 27 weiteren ZK-Mitgliedern protestiert er gegen den Einmarsch in der ČSSR. Als Ernst Fischer 1969 ausgeschlossen wird, solidarisiert er sich mit ihm, wird aus Polbüro und ZK entfernt wie auch als Chefredakteur des von ihm gegründeten theoretischen Organs der KPÖ, Weg und Ziel.

1970 verläßt er die Partei, unter Mitnahme der KPÖ-Intellektuellenzeitschrift Tagebuch. Als Wiener Tagebuch wird es unter seiner Leitung zum Zentrum der „Prager“ — jener großen Zahl von KPÖ-Mitgliedern, darunter die führende Intelligenz, die aus der Partei austreten oder ausgetreten werden.

Ende des ersten eurokommunistischen Experiments. Breschnew brauchte keine Panzer zu schicken. Die KPÖ war in der russischen Besatzungszeit ein großzügig finanzierter Filialbetrieb Moskaus. Als 1955 die Besatzung zu Ende ging, sorgte die Sowjetunion für Fortdauer der längst überdimensionierten Parteistrukturen durch Einflechtung von vertrauenswürdigen Genossen in die hinterlassenen gemischt österreichisch-sowjetischen Handelsunternehmungen. Von dort kam das Geld, von dort konnte es auch abgedreht werden.

Gemäß den abscheulichen Wahrheiten des historischen Materialismus war die Basis stärker als der ideelle Überbau, den Marek, Fischer und andere so schön renoviert hatten. Der Verputz wurde abgeschlagen.

1950 bringt es Marek noch zusammen, eine Biographie zu schreiben: „Lenin. Der Lehrer der Revolution“ — wo schon in der ersten Zeile, vor Lenin, Stalin vorkommt, und dann auf 64 Seiten noch 30mal, und nach jedem Lenin-Zitat ein Stalin-Zitat, und als Schlußfanfare: „Stalin, das ist der Lenin von heute.“

Franz Marek ist von jener eingangs erwähnten Bescheidenheit, die es ihm schwer macht, über den seither errungenen Fortschritt seiner theoretischen wie praktischen Einsicht Buch um Buch zu schreiben — wie’s an sich zum intellektuellen Gewerbe gehört.

1966 schreibt er seine „Philosophie der Revolution“, auf den ersten Blick nicht viel mehr als ein Zettelkasten aus Zitaten — aber so zusammengebaut und mit solchen Zwischentexten, daß darin eurokommunistischer Antistalinismus und auch Lenin- und Marx-Zweifel mit raffinierter Präzision hervorkommen.

1970 schreibt er „Was Stalin wirklich sagte“ — ähnlich gebaut und so präzise, daß es zum letzten Anstoß wird, aus der Partei zu gehen oder gegangen zu werden.

Er ist kein Buch-, sondern ein Artikelschreiber. Sein eigentliches Hauptwerk käme ans Licht durch Sammlung und Publikation seiner Texte im Wiener Tagebuch, wo er eine ständige „Chronik der Linken“ schrieb. Hoffentlich macht das jemand.

Mehr noch als Schreiber war er Redner, Dozent, Diskutant. Als hinter Prag Parteiintelligenz und Parteijugend die KPÖ fast vollzählig verließen, hatten sie für das Leben „draußen“ nahr- und dauerhafte Notverpflegung mit — zubereitet, verpackt, ausgeteilt vom KPÖ-Chefideologen Marek.

Das ärgerte ja die Wiener Moskowiter ganz besonders. Der Mann hatte ihnen 1964/65 das „falsche‘‘ Parteiprogramm gemacht; er publizierte die „falschen“ Bücher in den „falschen“ Verlagen (1966 im sozialdemokratischen Europa-Verlag „Philosophie der Revolution“, 1970 im bürgerlichen Molden-Verlag „Was Stalin wirklich sagte“); und er verbreitete die „falschen“ Ideen in der ganzen Partei, immer unter einwandfreien Flaggen: Marek legte sorgsam frei und spann immer frecher weiter, was KPI-Gründer Antonio Gramsci und Palmiro Togliatti schon früh an antitotalitärer, demokratisch-kommunistischer Kontrabande in den „Weltkommunismus“ eingebracht hatten.

Die KPÖ hat ihn ausgeschlossen, die KPI gehegt und gepflegt. Er war Leitungsmitglied des KPI-nahen kulturpolitischen Instituts Ernesto Ragioneri, Mailand, saß im Redaktionskomitee der monumentalen KPI-nahen „Storia del marxismo“, die der Mailänder Verleger Einaudi betreut. Seine „Geschichte der Philosophie“ erschien 1967 auf italienisch im KPI-Verlag Editori Riunit. Kaum eine Nummer des Wiener Tagebuch ohne einen Artikel aus Rinàscita, dem theoretischen Organ der KPI.

Dort schrieb ihm den Nekrolog Lucio Lombardo-Radice, der große alte Mann der KPI-Theorie, und in der KPI-Tageszeitung L’Unità deren Vizechef Franco Andreucci.

Tito war für Marek 1950 (im obzitierten Lenin-Bändchen) in einem Atemzug mit Trotzki der „schmutzigste Agent“. Dann wurde die KP Jugoslawiens für ihn, nach der KPI, der zweitwichtigste Auslauf aus dem Mief der KPÖ in frischere internationale Luft. Mit den Parteiintellektuellen und Professoren rund um die Zagreber Zeitschrift Praxis diskutierte er fast jeden Sommer in Korcula, Dalmatien — bis Tito 1973 dieser köstlichen Universität in Badehosen den Geldhahn abdrehte. Sie wurde verdächtig vor allem wegen Kontakten mit der westlichen Studentenbewegung (Dutschke war dort, Cohn-Bendit) und mehr noch als Inspiration für die heimische (Studentenrevolten in Zagreb und Belgrad).

Mareks Leben ist kein Anlaß, nur immer auf die Kummerln hinzuhacken. Auch die Sozialdemokraten haben mit einem solchen Mann nichts Rechtes, und erst recht nichts Linkes anzufangen gewußt. Fast alle SP-Intellektuellen lasen sein Wiener Tagebuch, und fast alle SP-Wohlmeinenden meinten es wohl mit ihm und allen anderen „Prager“ Ex-KPlern. Er und sie standen und stehen uns nahe.

Mit verdächtigen Intellektuellen hat die österreichische Sozialdemokratie noch selten wechselseitig nützlichere Beziehungen gepflogen. Diesen Fehler teilt sie aber mit Österreich insgesamt.

So gerät uns die Nachrede auf einen heimlich Großen unter der Hand zur Lieblingsbeschäftigung, öffentlich zu matschkern über Partei und Nation.

Der Tod des Efraim Feuerlicht

Franz Marek, wie er sich selbst sah: Paßbild

Sanfter Tod für ein unsanftes Leben: sich auf den Urlaub freuen, ein bißchen wandern, schwimmen. So viel wie früher, mit Jura Soyfer und den anderen, geht nicht mehr. Nach elf Jahren Untergrundkampf in Österreich und Frankreich, nach SS-Verhören, Warten in der Todeszelle, 34 Jahren Arbeit für die Partei ... darf man müde sein.

Er setzt sich auf eine Bank, Seine Frau soll den VW-Käfer holen. Der Weg ins Urlaubsdorf hinunter ist zu weit. Als sie zurückkommt, ist er tot.

Eigentlich hat er Efraim Feuerlicht geheißen ... 1935 nennt er sich Franz Marek, weil er am Wiener Salzgries, nahe dem späteren Gestapohauptquartier, gerade an der Trafik Marek vorbeigeht, als er gefragt wird, welchen Decknamen er annimmt ...

1913 in Przemysl, Galizien, geboren. Sohn von Polischen aus dem Städtl. Im Ersten Weltkrieg fliehen die Eltern mit den Kindern nach Wien. Sechs Personen auf Zimmer/Küche im zweiten Bezirk. Die Mutter geht putzen, der Vater ist meist arbeitslos. Dem frommen Juden gilt Gelehrtsein als das Höchste; alle Kinder sollen studieren. Wenn ein bissl Geld da ist, wird Goethe oder Heine gekauft.

Franz Marek schließt sich der linkszionistischen Bewegung an, doch die Hoffnung auf nationale Lösung der Judenfrage verfliegt bald. Er hört Parlamentsreden von Otto Bauer. Er hört Max Adler, der als Jude und Sozialist nicht auf der Uni, dafür aber in überfüllten Volkshochschulen lehren darf. Sieg des Austrofaschismus.

Wie viele enttäuschte Schutzbündler und Illegale geht Marek 1934 zur KP. Rasch avançiert er zum Agitprop-Leiter für Wien. Seine bürgerlich-tüchtigen Geschwister verschaffen ihm ein Visum in die USA. Er zerreißt es. Er will hierbleiben und kämpfen. Die KP-Spitze setzt sich nach Moskau ab. Marek wird von der Partei aus dem besetzten Österreich nach Frankreich beordert. Im besetzten Paris steht er zusammen mit seinem Freund Arthur London an der Spitze der ausländischen Résistancegruppen.

1944 erwischt es auch ihn. Zwei donaugauische SSler reisen eigens von Wien zum Verhör an. Ihr Auftrag ist eindeutig: „Wenn wir dich auseinandernehmen, bleibt nichts mehr von dir übrig, du bolschewistischer Saujud.“ In der Nacht fangen sie mit dem Erschießen an. Marek soll der letzte sein. Doch gegen Morgengrauen beginnt der Aufstand in Paris ...

Ursula Pasterk profil, 6. August 1979
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