MOZ, Nummer 45
Oktober
1989
Weltverschuldungskrise, Europäische Herausforderung und 1992

Europa gegen den Rest der Welt

Europa bis zum Ural denken. Das war seit der friedenspolitischen Forderung für ein atomwaffenfreies Europa in der linken und grünen Bewegung nicht mehr diskutiert worden. Der radikale Ökonom A. G. Frank formuliert jetzt dazu provokante Thesen.

Die anhaltende Weltwirtschaftskrise und inbesondere ihre Manifestation als weiter wachsende Weltverschuldungskrise eröffnet neue Alternativen für Europa, weiterreichende Alternativen als die oft beschworene Vereinigung des (west)europäischen EG-Marktes 1992. Sie stellen ein vereinigteres Europa in Aussicht, das Ost und West, Nord und Süd umfassen würde.

Wir können allgemeine und spezifische Ursachen und Konsequenzen der Weltschuldenkrise unterscheiden. Die allgemeinen Ursachen leiten sich aus der Struktur und Wirkungsweise der kapitalistischen Weltwirtschaft her, die durch das Ungleichgewicht von Nord und Süd, Reich und Arm etc. sowie durch einen Prozeß unregelmäßiger zyklischer Entwicklungen gekennzeichnet ist. Adam Smith sah schon 1776 während einer der langen ökonomischen Krisen der Weltwirtschaft im Anwachsen des Geld- und Kreditschuldenvolumens eine Reaktion auf sinkende Profitraten. Er vertrat die Ansicht, daß die Schuldenanhäufung eine Kette von Konkursen nach sich ziehen würde und beklagte das „schreckliche Unglück“ derjenigen, die der heutigen wirtschaftlichen Peripherie — der „Dritten Welt“ — entsprechen.

Wie alle vorangegangenen Weltwirtschaftskrisen hat auch die gegenwärtige, die 1967 begann, beide bereits von Smith festgestellten Phänomene zur Folge gehabt. Die Krise führte sowohl zu einem enormen Anstieg der Geld- und Kreditschuldenmenge in ihrem Zentrum als auch zu einem verstärkten Kapitalfluß aus Peripherieteilen der Weltwirtschaft, was dort wiederum das „schreckliche Unglück“ vergrößerte. Diese beiden Entwicklungen bedingten sich gegenseitig.

Die spezifischen Ursachen der Weltverschuldungskrise hängen mit den Darlehen bzw. Krediten zusammen, die aus dieser neuen Geld- und Kreditmenge an Länder der „Dritten Welt“ (in den 70er Jahren) und die USA (in den 80er Jahren) gingen. Hinzu kommt, daß die meisten Staaten in Ost, West und Süd zur Zeit mit Haushaltsdefiziten und daraus resultierenden Staatsverschuldungen kämpfen. Die Verschuldung von Unternehmen und Privatleuten ist ebenfalls stark angestiegen. In den 70er Jahren, vor allem während der starken Rezession von 1973-75, kompensierte man sinkende Investitionen und Exportnachfragen im Westen teilweise mit erhöhten Exporten in den Süden der „Dritten Welt“ und den sozialistischen Osten. Kürzungen der Produktionskosten durch die Anbieter wurden durch ein exportbedingtes Wachstum im Süden und ein importgerichtetes Wachstum im Osten gefördert. Beide Regionen brauchten finanzielle Mittel, die durch Darlehen westlicher Banken gewinnbringend zur Verfügung gestellt wurden. Da die westliche Industrie nicht investierte und auf Grund geringer Kapazitätsauslastung und niedriger Profitraten weniger Kredite in Anspruch nahm, waren westliche Banken eifrig bemüht, ihre bisher dem Westen gewährten Darlehen nun dem Osten und Süden anzubieten, die ihre Importe und Exporte ankurbeln wollten.

Dieses Arrangement erwies sich für alle Beteiligten als vorteilhaft, bis die noch stärkere Rezession von 1979-82 zu einem Teufelskreis steigender Kosten und sinkender Zahlungsfähigkeit führte.

Für die wachsenden Kosten war der Anstieg der Zinsraten und des Dollarkurses (jener Währung, in der die meisten Darlehen bzw. Schulden abgewickelt wurden) verantwortlich, der wiederum durch die geldpolitische Reaktion der USA auf die Rezession und Inflation von 1979 verursacht wurde. Die Schulden konnten kaum noch beglichen werden, weil die Rezession zu sinkenden Warenexporten und Preisen führte. Auch die überzogene Entscheidung der Banken, die Vergabe weiterer Darlehen an den Süden und Osten einzuschränken, verringerte die Fähigkeit dieser Länder, alte Schulden durch Aufnahme neuer Kredite zu bezahlen. Das alles führte schließlich zum Ausbruch der dritten Weltschuldenkrise 1981-82 (und zwar zunächst in Form einer Liquiditätskrise, die dann zur Zahlungsunfähigkeit führte) und zum Transfer der Darlehen/Schulden in die USA.

Um die Weltwirtschaft während der sich weiter verschärfenden weltwirtschaftlichen Krise und angesichts der Schuldenkrise in der „Dritten Welt“ in Gang zu halten, begann man, die Schulden der USA zu finanzieren. Auf allen Ebenen (Verschuldung von Bund, Ländern, Städten, Körperschaften, privaten Konsumenten und auf dem Gebiet der Auslandsverschuldung) wuchs die Verschuldung wesentlich schneller als zuvor und schneller als das Bruttosozialprodukt dieser „Kasino-Gesellschaft“ wie „Business Week“ 1985 schrieb.

1982 noch der größte Kreditgeber der Welt, wurden die USA 1985 zum größten Schuldner der Welt. 1987 überstieg die Auslandsverschuldung der USA die von ganz Lateinamerika. 1990 wird sie wahrscheinlich größer sein als die der gesamten „Dritten Welt“.

Eine extreme Verschuldung führt normalerweise zur wirtschaftlichen Deflation und Depression, wenn die Seifenblase der Spekulation zerplatzt. Dann schlägt die Finanzwirtschaft zurück auf die reale Wirtschaft und treibt tatsächliche Investitionen, Produktion, Arbeitsplätze und Konsum noch weiter zurück. Darüber hinaus verschärft jeder dieser allgemeinen weltwirtschaftlichen Rückschläge das „schreckliche Unglück“ zumindest in Teilen der weltwirtschaftlichen Peripherie. Drittweltländer werden gezwungen, beim Konsum zu sparen und ihr eigenes Kapital zu exportieren, damit das weltwirtschaftliche Zentrum sich wieder erholen kann.

Die lateinamerikanische Schuldenkrise

Die wirtschaftliche Depression und das Elend in Lateinamerika, Afrika und Teilen Asiens sind die spezifischen Konsequenzen dieser Schuldenkrise gewesen — und die Situation in diesen Ländern ist schlimmer als in den dreißiger Jahren. Lateinamerika ist um 10 Jahre zurückgefallen und ist, was Wachstum und Entwicklung angeht, auf dem Stand der siebziger Jahre. Afrika ist um 20 Jahre zurückgeworfen worden, das Einkommensniveau liegt heute niedriger als zur Zeit der Erlangung der Unabhängigkeit in den sechziger Jahren. Importe, Investitionen, Produktion, Konsum und sogar die gesellschaftliche Reproduktion (durch mangelnde Investitionen im Bereich der Gesundheits- und Sozialfürsorge) dieser Völker sind drastisch zurückgegangen; die Umwelt wird in gefährlicher Weise ausgebeutet, um Exportüberschüsse zu erzielen und so die Zinsen für die Inlands- und Auslandsverschuldung bezahlen zu können. Verglichen mit den Reparationszahlungen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg leisten mußte und die 25% der Exporteinnahmen und durchschnittlich 2% des Bruttosozialprodukts in den zwanziger Jahren ausmachten (bis zu einem Maximalwert von 3% in den Jahren 1929-31), fließen seit 1983 häufig zwischen 60% und 100% der Exportgewinne und durchschnittlich 6% bis 10% des Bruttosozialprodukts lateinamerikanischer Staaten ins Ausland.

Daraus ergibt sich ein Kapitalfluß aus den armen Ländern der „Dritten Welt“ in die reichen westlichen Staaten von ca. 120 Mrd. US$ pro Jahr bzw. von über 700 Mrd. Dollar seit Beginn der Schuldenkrise. In der Folge sank das Pro-Kopf-Einkommen um durchschnittlich 15% in Lateinamerika und 25% in Afrika. Das Nationaleinkommen Brasiliens hat nur einmal — 1985 — den Stand von 1981 wieder erreichen können. Der durchschnittliche Rückgang im Volkseinkommen verteilt sich dabei ungleichmäßig und trifft mit unproportionaler Härte gerade die Ärmsten der Armen. Deren ohnehin schon niedrige Beschäftigungsrate und geringer Lebensstandard sind durch die Schuldenkrise noch tiefer gesunken. Der Tag rückt näher — wahrscheinlich mit der nächsten Rezession —, an dem die „Dritte Welt“ auf die Aufforderung westlicher Banken, Regierungen und des IWF, den Gürtel noch enger zu schnallen, antwortet: „Ich kann nicht. Ich habe ihn gestern gegessen.“

Gewinnbringend erweist sich die Schuldenkrise der „Dritten Welt“ für die (großen) Banken im Westen. Ihr Profit ging auf Kosten der kleineren Banken (die den großen geopfert wurden), der Industrie (die Exportmärkte verlor), der Arbeiterschaft (die Arbeitsplätze in der Exportindustrie verlor) und vor allem auf Kosten US-amerikanischer Bauern (die Exportmärkte verloren und mit grösseren, preiswerteren Warenexporten aus der „Dritten Welt“ konkurrieren mußten). Auch einige amerikanische Konsumenten und Wirtschaftsbranchen — vor allem die Rüstungsindustrie — profitieren von dem amerikanischen Roulettespiel im Weltkasino — auf Kosten japanischer und europäischer Sparer, die die amerikanischen Haushalts- und Handelsdefizite finanzieren.

Doch jeder Versuch, die Amerikaner dazu zu bewegen, ihre Auslandsverschuldung, wenn nicht zu begleichen, so doch wenigstens zu verringern, indem sie nach lateinamerikanischem Vorbild den Gürtel enger schnallen oder Exportüberschüsse erzielen, wird an zahlreichen politischen und ökonomischen Hindernissen scheitern. Es wird politisch ungleich schwerer bzw. unmöglich sein, die Nordamerikaner so zum Sparen zu bringen wie die Lateinamerikaner. Es wird auch für den Rest der Welt wirtschaftlich wesentlich schwieriger bzw. unmöglich sein, einen amerikanischen Exportüberschuß oder gar den Verlust des amerikanischen Importmarktes für die eigenen Exporte aus Europa, Japan und den ostasiatischen Schwellenländern auszuhalten. Deshalb wird wahrscheinlich ein Gutteil der amerikanischen Schulden in Wirklichkeit nicht bezahlt bzw. nicht einmal de facto abgewickelt werden, weil durch kontinuierliche Geldverschiebungen, Umwälzungen und/oder Konkurse, glatten Zahlungsverzug oder Inflation/Abwertung des Dollars der tatsächliche Schuldenumfang reduziert wird.

Die nächste Rezession — die fünfte in der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise — droht, dieses Ungleichgewicht zu verstärken und den Zusammenbruch zu beschleunigen, indem sie die Weltwirtschaft in das „schwarze“ Schuldenloch zieht (um einen Ausdruck des Wirtschaftswissenschaftlers Lester Thurow vom Massachussetts Institute of Technology zu verwenden). Die wachsende Inlands- und Auslandsverschuldung in vielen Teilen der Welt wird wahrscheinlich weitere reflationäre Maßnahmen (also Geldpumpen in eine deflationäre Wirtschaft) zur Bekämpfung der Rezession dann verhindern, wenn sie am dringendsten nötig wäre. Bei der nächsten Rezession z.B., um Konkurse von Unternehmen, die aus wertlosen Obligationen finanziert werden, und von Banken, die von Darlehen zwischen Banken abhängig sind, abzuwehren. Wer wird dann die USA als Kreditnehmer am Ende der Reihe ablösen?

Die anhaltende Weltwirtschaftskrise verschärft das akkumulierte regionale und sektorale Ungleichgewicht zwischen Amerika, Japan und Europa als den Haupthandelszentren der Welt auf der einen, ihren Handelspartnern im Ostblock und der „Dritten Welt“ auf der anderen Seite. Die Konflikte, die sich aus dem wachsenden Ungleichgewicht von Finanzschuldenspekulationen und realen, ökonomisch produktiven Investitionen ergeben, werden angesichts der ohnehin schon divergierenden Geld-, Steuer-, Währungs-, Handels- und Sicherheitspolitik noch schwieriger zu lösen sein. Deshalb droht eine weitere (noch schwerere?) Rezession, auch eine weitere (akutere?) Krise innerhalb der Krise. Möglicherweise führt diese Entwicklung zu einer verstärkten neomerkantilistischen Regionalisierung der Weltwirtschaft in Dollar-, Yen- und Mark-Zonen und/oder der Abschottung von Handels- (und politischen?) Blöcken.

Gleichzeitig beruht die Ausdehnung des amerikanischen Außenhandels in den achtziger Jahren beinahe ausschließlich auf Geschäften in der Pazifikregion. Dies spiegelt die Tendenz, das Zentrum der Weltwirtschaft vom atlantischen in den pazifischen Raum zu verlagern, wider. Der angestrebte stärkere Zusammenschluß der (west)europäischen Gemeinschaft für 1992 muß vor dem Hintergrund dieser kurzfristigen Zyklen und langfristigen Tendenzen betrachtet werden.

Die Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit haben die Interessenskonflikte zwischen transatlantischen und anderen westlichen Verbündeten weiter verschärft. Diese Konflikte sind wirtschaftlicher und zunehmend auch politischer Natur. Die wirtschaftlichen Konflikte umfassen handels-, geld- und steuerpolitische Maßnahmen, die sich auf die Währung, den Export, auf Zinsraten, Kapitalfluß sowie den wirtschaftlichen und technologischen Wettbewerb auswirken. Die politischen Interessenskonflikte zeigen sich hauptsächlich in Form von Streitigkeiten über den „Lastenausgleich“ bei Verteidigungsausgaben und bei Fragen zur Verteidigungsstrategie und -taktik in der NATO.

An der wirtschaftlichen Westfront hat die steigende Schuldenlast dazu geführt, daß die finanzpolitischen Steuerungsmöglichkeiten der einzelnen Staaten zur Einleitung des wirtschaftlichen Aufschwungs so gut wie ausgeschöpft sind. Auch hat sich eine Koordination solcher Maßnahmen auf internationaler Ebene als nicht durchführbar erwiesen. Die nächste Rezession 1989/90 wird diese Probleme weiter verstärken und die Konflikte verschärfen. Eine starke Rezession würde geld- und steuerpolitische Maßnahmen und ihre staatsübergreifende Koordination in dem Moment völlig lahmlegen, in dem sie von entscheidender Wichtigkeit wären, um die Rezession nicht in eine Depression umkippen zu lassen. Westeuropa wird dann unter Umständen wichtige amerikanische Marktanteile verlieren; es wird sich auf dem Weltmarkt der wachsenden Konkurrenz aus Japan und — bei fallendem Dollarkurs — auch aus den USA erwehren müssen. Westeuropa wird daher zunehmend auf mehr (traditionellere?) Märkte in Osteuropa und der Sowjetunion, vielleicht auch im Mittleren Osten und in Afrika angewiesen sein.

Die Sowjetunion und Osteuropa

Auch die sowjetische und osteuropäische Wirtschaft ist in den letzten Jahren, trotz einiger höherer Wachstumsraten, eher geschwächt als gestärkt worden. Rumänien und Jugoslawien befinden sich in einer wirtschaftlichen und möglicherweise politischen Krisensituation, die an das Polen der jüngsten Vergangenheit erinnert. Polen selbst ist es nicht gelungen, die notwendigen wirtschaftlichen Reformen durchzuführen. Bulgarien, die Tschechoslowakei und die DDR sind wirtschaftlich einigermaßen intakt und beobachten abwartend die Entwicklungen in der Sowjetunion, wo Gorbatschow mit der spektakulären Einleitung von Perestroika und Glasnost auf die angespannte wirtschaftliche Lage der Sowjetunion und ihre internationale Wettbewerbs(un-)fähigkeit reagierte. (Glasnost bildet dabei die unabdingbare politische Voraussetzung für die Realisierung der wirtschaftlichen Perestroika).

In der Sowjetunion ist es Gorbatschow selbst, der von der Notwendigkeit einer zweiten Revolution spricht. Doch es bleibt abzuwarten, inwieweit er erfolgreich sein wird bzw. ob er seine revolutionären Reformversuche überhaupt durchstehen kann. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, ganz zu schweigen von den damit verbundenen politischen und nationalen Problemen, sind gewaltig: Wie soll man die Wirtschaft mit dem ererbten Preissystem neu strukturieren? Wie das Haushaltsdefizit reduzieren (das proportional doppelt so hoch ist wie das amerikanische)? Wie den Rubel konvertierbar machen, ohne zunächst das staatliche Preissystem zu ändern? Und vor allem, wie sollen durch die Perestroika unmittelbare wirtschaftliche Vorteile für die Bevölkerung geschaffen werden, bevor die dazu nötige Realisierung von Glasnost (und die daraus resultierenden nationalen Ressentiments) Gorbatschow gestürzt und Perestroika rückgängig gemacht haben?

Fest steht, daß die westliche (und vor allem europäische) Zusammenarbeit in Wirtschaft und vielleicht auch Politik für ganz Osteuropa und die Sowjetunion lebenswichtig sein wird, um die gesellschaftlichen und eventuellen politischen Kosten der Neustrukturierung und Veränderung zu minimieren. Deshalb ist die europäische Herausforderung auch in Osteuropa und der Sowjetunion ein so aktuelles Thema, daß Gorbatschow inzwischen darauf besteht, von „unserem gemeinsamen europäischen Haus“ zu sprechen.

Diese und andere wirtschaftliche und weltpolitische Gründe haben Gorbatschow auch dazu veranlaßt, eine weitgefächerte diplomatische Offensive zur Verbesserung internationaler wirtschaftlicher, politischer und strategischer Beziehungen in Europa und der Welt zu führen. Das bislang aufsehenerregendste Ergebnis dieser Offensive ist der Vorschlag der doppelten Nullösung mit dem Ziel, alle atomaren Mittelstreckenraketen in Europa zu vernichten. Eine massive Verringerung der strategischen Waffen ist bereits vorgeschlagen worden. Die Abrüstungsverhandlungen werden hauptsächlich von den USA und der Sowjetunion geführt, doch sie sind gerade für Europa von entscheidender Bedeutung. Der kontrollierte Abbau nuklearer Waffen, die auf europäischem Boden stationiert sind, berührt ureigene europäische Interessen und erfordert eine europäische Kooperation. Einige argumentieren, daß hier auch eine Möglichkeit der europäischen Abnabelung von Amerika liegt.

Zukünftige Abrüstungsvorschläge könnten zunehmend zu einer intereuropäischen Angelegenheit werden. Jüngste und möglicherweise zukünftige sowjetische Abrüstungsvorschläge an Europa, die in sowjetischen Erklärungen bereits anklangen, könnten eine dritte Nullösung für alle in Europa stationierten (Kurzstrecken- und taktischen) Nuklearwaffen, Vorschläge zur Reduzierung konventioneller Waffen und zum Abzug fremder Truppen enthalten. Und man könnte darüber verhandeln, angriffsorientierte Waffensysteme (Panzer etc.) und Streitkräfte durch eine „defensive Verteidigung“ zu ersetzen. Kurzum, die Sowjetunion und einige andere osteuropäische Staaten haben eine breitangelegte Offensive gestartet, um auf diplomatischem Wege und in Form von Abrüstungs- bzw. Friedensinitiativen die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Westeuropa zu verbessern.

Sowohl in West- als auch in Osteuropa ist das gegenseitige Ansehen gestiegen. Westeuropäische Meinungsumfragen zeigen, daß die meisten Europäer sich nicht mehr durch eine mögliche militärische Invasion aus dem Osten bedroht fühlen, dies gilt vor allem für die Bundesrepublik Deutschland. Die breite politische Opposition gegen eine Modernisierung nuklearer Kurzstreckenwaffen der NATO zwingt den deutschen Kanzler, jede diesbezügliche Entscheidung möglichst für zwei Jahre zu verschieben. Eine Pro-Modernisierungs-Haltung könnte einen Wahlsieg gefährden.

Darüber hinaus hat es in den letzten Jahren neue oder wiederbelebte Diskussionen gegeben, in denen es unter Begriffen wie „zentrales Europa“, „Mitteleuropa“ (mit Deutschland in der Mitte), „Nordische Staaten“, „Südeuropa“ und „Balkan“ um Neuorientierungen für Europa ging. Diese Vorschläge waren allerdings eher von kulturellen als von diplomatischen oder politischen Strömungen beeinflußt. Das Zusammenwirken all dieser europäischen und weltweiten Entwicklungen auf wirtschaftlichen, politischen, strategischen, diplomatischen, kulturellen und vielen anderen Gebieten macht die „Europäische Herausforderung“ zu einem immer aktuelleren Thema. Die Forderung nach wachsender Zusammenarbeit von West- und Osteuropa oder nach der „Europäisierung Europas“ gewinnt zunehmend an Bedeutung.

Doch die Europäische Herausforderung verlangt auch nach einer Entscheidung zwischen den Alternativen größerer Kooperation oder Konfrontation zwischen West- und Osteuropa. Eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit von Ost- und Westeuropa als Reaktion auf die sich verschärfende Krise in der Weltwirtschaft und in den transatlantischen Beziehungen würde von vertrauensbildenden politischen bzw. strategischen Maßnahmen profitieren.

Wost oder Est?

Anders ausgedrückt, eine solche Zusammenarbeit würde wahrscheinlich eine weitere gegenseitige Aufrüstung der zwei europäischen Blöcke ausschließen. Deshalb wäre es gefährlich, eine deutsch-französische Verteidigungsachse mit nuklearen und konventionellen Waffen zur Abwehr des Feindes im Osten zu unterstützen. Diese politische und wirtschaftliche Alternative (die unter anderem auf Helmut Schmidt und François Mitterand zurückgeht) scheint unvereinbar mit der angestrebten wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen West- und Osteuropa, ganz zu schweigen von militärischen Bündnisauflösungen. Würde nicht ein französisch-deutsches Militärgebäude (und dann auch ein rigoroser Keynesianismus als Antwort auf die Wirtschaftskrise?) eine ausgedehntere wirtschaftliche Zusammenarbeit von Ost- und Westeuropa wie auch eine gegenseitige Abrüstung ausschliessen und vice versa?

Hier stellt sich auch die Frage, welches Interesse Frankreich an Europa hat bzw. welche Rolle es für Europa spielt. Von der Zarenzeit bis zur De Gaulle-Ära hat Frankreich immer die Rolle des privilegierten westeuropäischen Gesprächspartners für Rußland/die Sowjetunion angestrebt. Darüber hinaus versucht Frankreich in Opposition (und als Alternative?) zu irgendeiner wirtschaftlichen, geschweige denn anders gearteten deutschen Ostpolitik, den Nachbarn an sich zu binden. Tatsächlich stand das gesamte politische Spektrum Frankreichs von Rechts bis Links den westdeutschen Entspannungsbemühungen (und Gott bewahre einer Wiedervereinigung) feindlich gegenüber. Frankreich betrachtet die DDR als Vorposten bzw. Repräsentanten der Sowjetunion. Muß man diese französische Nationalpolitik und Frankreichs Vertrauen auf seine „nukleare force de frappe“ (als einzigem Gegengewicht zur wirtschaftlichen Stärke der Bundesrepublik) als schlechte Vorzeichen für Europa als Ganzes sehen? Tatsächlich scheinen von dieser Perspektive aus weder Deutschlands Alleingänge noch Großbritanniens Ablehnung des europäischen Währungssystems oder sein Atlantizismus noch die amerikanische und sowjetische Reserviertheit das größte Problem für ein vereintes Europa zu sein, sondern vielmehr Frankreichs nationale Strategien.

Ohne eine eigenständige Politik könnte Europa jedoch auf einmal zwischen den Stühlen sitzen, wenn Amerika und die Sowjetunion sich näherkommen. Washington ist bereits jetzt der Ort einiger Gespräche über ein mögliches US-sowjetisches Bündnis, das die UdSSR aus wirtschaftlichen und/oder strategischen Gründen reizen könnte. Kissingers Vorschlag vom März ’89 über ein sowjetisch-amerikanisches Wirtschaftsabkommen über Europa (ein zweites Jalta?) könnte ein Schritt in die Richtung einer solchen US-UdSSR-Entente sein. Ebenso wie die Pläne eines Konsortiums amerikanischer Firmen, die im April 1989 ankündigten, verstärkt in der UdSSR investieren zu wollen. Die USA brauchen neue Exportmärkte, vor allem um ihre Schulden in Europa und Japan auszugleichen; doch diese kapitalistischen Marktwirtschaften sind amerikanischen Exportsteigerungen nicht gewachsen. Das „sozialistische“ China und/oder die Sowjetunion könnten diese amerikanischen Exporte importieren, wenn sich Möglichkeiten der (Schulden-) Finanzerung fänden! Wo blieben dann Westeuropa und große Teile Osteuropas?

So gesehen könnte die Stärkung der (west)Europäischen Gemeinschaft 1992 zu einer verstärkten Abkehr von den USA führen. Auf keinen Fall jedoch darf 1992 bedeuten, daß wir Barrieren gegen Osteuropa und die Sowjetunion aufbauen, und unter keinen Umständen sollten wir zulassen, daß 1992 zum Vorwand für eine von Frankreich geführte deutsch-französische Militäraufrüstung — gegen den Osten — wird. Wir sollten im Gegenteil 1992 als Europäische Herausforderung sehen, die genutzt werden könnte und sollte, um ganz Europa zu vereinigen und zu stärken, Ost und West, Nord und Süd, durch eine politische Finno-Jugoslawisierung Osteuropas und eine Schwedo-Österreichisierung Westeuropas in unserem Gemeinsamen Europäischen Haus.

Aus dem Englischen von Maren Klostermann. Der vorliegende Beitrag erscheint zeitgleich in der Zeitschrift „Das Argument“, Nr. 177.

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