FORVM, No. 288
Dezember
1977

Fetisch Mitbestimmung

Großkapital, Gewerkschaften, Atomkraftwerke

Unter der Ägide Hanns Martin Schleyers haben im Juni 1977 die westdeutschen Unternehmerverbände eine Verfassungsklage gegen die „paritätische Mitbestimmung“ eingebracht. Schon wieder soll ein Gesetz der sozialliberalen Koalition, über das sich FDP und SPD jahrelang gezankt haben, in Karlsruhe als „grundgesetzwidrig“ aufgehoben werden. Die Gewerkschaften ihrerseits haben den von Genscher und Schmidt ausgehandelten Kompromiß kritisiert, der die „leitenden Angestellten“ zum Zünglein an der Waage zwischen Kapital und Arbeit macht, damit die Übermacht der Unternehmer garantierend.

Trotzdem reagierten die Gewerkschaften auf Schleyers Manöver mit harten Worten und starken Gesten: der DGB boykottierte die „Konzertierte Aktion“, das oberste Organ der westdeutschen Sozialpartnerschaft.

Was bringt eigentlich die Mitbestimmung? Wer bestimmt denn mit? Die Gewerkschaften dürfen ihre Funktionäre in die Chefetagen der großen Firmen schicken. Ein Surrogat für die Verstaatlichung der Konzerne, die in der BRD absolut tabu ist (allerdings befinden sich der größte und der siebtgrößte westdeutsche Konzern, der Energie-Multi VEBA und der Auto-Multi Volkswagenwerk, unter staatlicher Kontrolle).

1951 hatte die Regierung Adenauer die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie (Kohle und Stahl) eingeführt, um Streiks und Verstaatlichung zu vermeiden. Warum also jetzt die plötzliche Aufregung der Unternehmer? Hängt es damit zusammen, daß der DGB-Vorsitzende Vetter von der paritätischen Mitbestimmung eine wundersame Vermehrung der Arbeitsplätze erwartet? (etwa nach der Devise: Wir Gewerkschaftler wirtschaften besser).

Der Boß des Stahlkonzerns Mannesmann, des größten Röhrenproduzenten der Welt, Egon Overbeck, prophezeite: „Schon heute ist es fast nicht mehr möglich, Mitarbeiter zu entlassen, wenn die schlechte Auftragslage dazu zwingt. Bei voller Parität sind Anpassungen dieser Art wohl ausgeschlossen“ (Spiegel vom 5. September 1977).

Das also sind die Sorgen der Unternehmer: Entlassungen! Am 10. Oktober erschien im Spiegel ein Leserbrief, der interessante Einblicke in die Praxis gibt. Der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrates der Mannesmann AG Hüttenwerke, Herbert Knapp, antwortet seinem Sozialpartner: „Herr Dr. Overbeck hat — wie ich — in seinem Konzern seit langem Erfahrungen mit der qualifizierten Montanmitbestimmung machen können. Hat sie ihn gehindert, die Demag aufzukaufen, Stahlwerke in Brasilien zu bauen, Röhren in der Türkei zu produzieren? Hat sie ihn gehindert, Betriebe stillzulegen, von den Mannesmann-Röhrenwerken in Witten angefangen über die Stahlwerke Gelsenkirchen, Duisburg-Großenbaum oder Kalldorf, dessen Mitbestimmungsträger in den Hungerstreik getreten sind, bis zum Werk Düsseldorf-Reisholz? Hat ihn die Mitbestimmung gehindert, den Aktionären für 1976 16 Prozent Dividenden auszuschütten und 1976/77 für Tausende Belegschaftsangehörige Kurzarbeit durchzuführen?“

Der Mannesmann-Manager Overbeck hatte in seinem Spiegel-Interview vom 5. September aber auch verraten: „Nicht selten wettert ein maßgeblicher Mann einer Gewerkschaft über die Unternehmer, um zwei Stunden später mit ebendiesem Unternehmer in Ruhe zu überlegen, was zu tun ist.“

Ein scheinbar ganz anderes Thema sind die Atomkraftwerke. Der DGB setzt sich eher vorsichtig, die Gewerkschaft Bergbau und Energie äußerst energisch für den Atomstrom ein. Sie organisiert Demonstrationen für die AKWs und gegen deren Gegner. Aus der IG Metall kommt der flotte Forschungsminister Matthöfer, der die Atomprojekte von Siemens großzügig subventioniert. Aktionen der Gewerkschaftsjugend (gemeinsam mit den Jusos) gegen die AKWs wurden von der Gewerkschaftsspitze herb getadelt. Der DGB hat alle Annäherungsversuche der Bürgerinitiativen schroff zurückgewiesen.

Licht auf die Hintergründe dieser Politik wirft eine Rede, die Heinz Brandt auf der Demonstration von AKW-Gegnern in Itzehoe am 19. Februar 1977 hielt: „Seit Hiroshima wissen wir, was das ist — der Atompilz. Es gibt aber auch den Atomfilz. Gerade als Gewerkschaftler möchte ich euch vor ihm warnen ... Unter Atomfilz verstehe ich den reich bezahlten Gewerkschaftsbürokraten, der im Konzernaufsichtsrat und Konzernvorstand mit den Managern der Atomindustrie gemeinsame Sache macht, der mit der Atomlobby unter einer Decke steckt, der mit ihr widerlich verfilzt ist — zu unser aller Schaden“ (links, Offenbach, April 1977).

Gegen Heinz Brandt, einen Veteranen der deutschen Arbeiterbewegung, der im Dritten Reich im KZ, in der DDR im Gefängnis gesessen und heute in der BRD Gewerkschaftsredakteur im Ruhestand ist, eröffnete die IG Metall am 23. Februar ein Ausschlußverfahren, das später allerdings — nach vielen öffentlichen Protesten — eingestellt wurde. Bei einer Demonstration in Gorleben dehnte Heinz Brandt seine Anklage aus: „Es läßt sich auch von Rüstungsfilz, Chemiefilz, Metallfilz, Stahl- und Kohlefilz reden ... Dieses Problem stellt sich derzeit besonders mit der erweiterten Mitbestimmung, nach der, soweit mir bekannt ist, 4.000 Gewerkschaftsfunktionäre in die Aufsichtsräte bzw. Konzernvorstände als Arbeitsdirektoren entsandt werden können“ (Der Lange Marsch, Berlin, Juli 1977).

Umrisse des Atomstaats:
Gewerkschafter Heinz Brandt kriegte einen Vorgeschmack

In der antiautoritären Westberliner Zeitschrift Der Lange Marsch wurde die moralisch akzentuierte Kritik durch eine kritische Analyse der „Mitbestimmung“ präzisiert: „Heinz Brandt hat mit seiner Itzehoer Rede ein Tabu über die reale Willensbildung in den deutschen Gewerkschaften gebrochen.“ Der Aufsatz (mit dem Titel „Der Atomfilz schlägt zurück“) konstatiert die Verwandlung der Industriegewerkschaften — die eine ganze Branche umfassen — in Betriebsrätegewerkschaften, deren Schwerpunkt in den einzelnen Firmen liegt. Es kommt zur Spaltung zwischen dem Betriebsrat in der Firma und der Gewerkschaft außerhalb des Betriebes, die auf den Betriebsrat keinen direkten Einfluß hat. Sehr wohl beeinflußt aber der Betriebsrat die Gewerkschaft: er wird zum „Betriebsratsfürsten“ (in Österreich: „Betriebskaiser“).

„Ein solcher Betriebsratsfürst ‚kommandiert‘ ...Tausende von Gewerkschaftsmitgliedern als eigene Hausmacht. Bei der Besetzung des Konzernaufsichtsrats mit Arbeitnehmervertretern aus der Vorstandsetage der Industriegewerkschaften spielt er eine wichtige Rolle. Selbstverständlich ist er Delegierter auf dem Gewerkschaftstag. Sein Wort zählt bei ‚seiner‘ Ortsverwaltung, die sehr gut weiß, daß ein solcher Betriebsratsfürst im Zweifel alle wichtigen Angelegenheiten direkt telefonisch mit dem Vorstand regelt.“

So erklärt sich der atomare Fanatismus von IG Bergbau und IG Metall: „Da der Betriebsrat zum Produktionsprogramm ‚seiner Firma‘ keine Alternative weiß, tut er alles, um die Arbeitsplätze seiner Wähler zu sichern, das Produktionsprogramm — in diesem Fall Atomkraftwerke — der Firma muß durchgesetzt werden. Der Betriebsrat ist hier Gefangener einer Struktur, gegen die er als betrieblicher Sozialpolitiker nicht angehen kann.“

Weil es keine „Betriebsgewerkschaftsleitungen“ gibt, ist die Gewerkschaft auf Gedeih und Verderb von den Betriebsräten abhängig: eine Abhängigkeit, die mit dem Inkasso der Mitgliedsbeiträge beginnt und mit der Durchführung von Streiks endet. Was vielleicht zuerst wie eine „Rätedemokratie“ jugoslawischen Typs aussehen mag, ist in Wirklichkeit die Auflösung der „Klassenorganisation in unverbunden miteinander konkurrierende Betriebsgemeinschaften, denen die Vernichtung von Tausenden von Arbeitsplätzen außerhalb ‚ihrer Firma‘ scheißegal ist, wenn sie nur die Arbeitsplätze ihrer Wähler sichern können“.

Dazu paßt, daß sich die IG Bergbau für die AKWs engagiert und dabei die Interessen der Bergarbeiter ignoriert: immerhin verdrängt der Atomstrom den Kohlestrom der kalorischen Kraftwerke.

Die Konzernbetriebsräte, die dank der Mitbestimmung im Aufsichtsrat oder (als „Arbeitsdirektoren“, d.h. Personalchefs) im Vorstand des Konzerns sitzen, müssen nach außen die Politik und in jedem Fall die Interessen ihrer Firma verteidigen. „Sie sehen nur ‚ihre‘ Betriebe und glauben an die Profitlogik des Einzelkapitals: geht es der Firma gut, so geht es auch den Arbeitern gut.“ Daher sind sie hilflos: sie fördern Profite, die nicht die Arbeitsplätze vermehren, sondern welche wegrationalisieren.

Auf diese Interessen werden über kurz oder lang auch die Industriegewerkschaften eingeschworen: deren Politik wird von den mächtigsten Konzernen der Branche festgelegt. Dank der Mitbestimmung dringen die Monopole auch in die Gewerkschaften ein: eine überraschende Variante des „Stamokap“.

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