ZOOM 2/1998
Mai
1998

Fluchtgrund: Elend

Die ökonomische Situation in den Ländern Osteuropas

Niemand spricht heute mehr von den Anwerbungsbüros für Hilfsarbeiter, die mit Unterstützung der Bundeswirtschaftskammer und sozialpartnerschaftlichem Segen in türkischen Städten um Arbeitskräfte gebuhlt haben. Keine 30 Jahre ist es her, daß man ausreisewilligen jungen Männern aus Istanbul von guten Verdienstmöglichkeiten zwischen Wien und Vorarlberg vorschwärmte. Gastfreundschaft wurde garantiert; und der österreichische Fernsehreporter zeigte stolz den soundsovielten Arbeitsemigranten auf einem Kleinmotorrad, welches ihm in Anerkennung seiner Leistungen, gleichsam stellvertretend für alle seine türkischen und jugoslawischen Kollegen, überreicht worden war.

Der Wirtschaftsaufschwung Anfang der 1970er Jahre versprach Beteiligung für jeden, der sich an der Peripherie Westeuropas mobilisieren ließ: Der Maghreb lieferte seine Jugend nach Frankreich; in Pakistan und Indien packten die Mobilsten ihre Koffer, um dem Ruf der englischen Industrie zu folgen; Deutschland und Österreich importierten kräftige Burschen aus Jugoslawien und der Türkei. Wer sich der Lieferung billiger Arbeitskräfte verschloß, waren die Länder des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Der Ostblock schloß seine Menschen gezielt von den westeuropäischen Arbeitsmärkten aus. Mauer und Stacheldraht verhinderten den Transfer billiger Arbeitskraft in die Zentren. Daß die kommunistischen Diktaturen den Eisernen Vorhang im Lauf der Jahrzehnte zu einer unüberwindlichen Barriere ausgebaut hatten, wurde ihnen zeit ihres Bestehens als menschenverachtend angelastet. Heute, nicht einmal eine Generation später, ist an seine Stelle ein digitales und hochtechnisiertes Abwehrsystem getreten, für dessen Aufbau und Instandsetzung Länder wie Österreich Milliardenbeträge aufwenden.

Und die Diktion hat sich entscheidend gewendet. War noch 1985 jeder tschechische oder rumänische Lehrer, der wegen einer unbedachten Aussage seinen Job verlor, ein „politischer Fall“, dem im Westen sogleich Asyl angeboten wurde, so sind heute Lehrer ohne Job – manche auch wegen früherer Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei – eine Gefahr für den österreichischen Arbeitsmarkt; und ganz und gar unpolitische Fälle.

Der Osten Europas ist damit zu einem riesigen Arbeitskräftereservoir für westeuropäischen Bedarf geworden. Die quotierte Aufnahme von gutausgebildeten, billigen Fachkräften aus Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Polen, Rumänien und Bulgarien macht die osteuropäischen Arbeitsmärkte für die Europäische Union selektiv nutzbar. Und sie schürt unablässig Hoffnung auf Teilnahme am westeuropäischen Wohlstandsmodell auch bei jenen, die weder zu Hause noch in der Fremde Chance auf ein menschenwürdiges Dasein haben.

Die Verbreitung von Hoffnung liegt auch den meisten politischen Aussagen zugrunde, die den osteuropäischen Transformationsprozeß seit 1989 begleiten. Die Wirtschaftsstatistiken halten damit Schritt. Bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch der osteuropäischen Ökonomien verbreiteten liberalistische Apologeten die Mär vom bevorstehenden Aufschwung. Die gesprengten Ketten der Planwirtschaft, so der Tenor, würden zum Aufbau einer freien Marktwirtschaft beitragen. die kommunistische Mangelwirtschaft würde durch eine Überflußgesellschaft ersetzt. Die Erkenntnis schlicht negierend, daß das Ende der Entwicklungsdiktaturen im Osten vielmehr der weltweiten ökonomischen Rezession nach 1975 als politischen Fehlern der kommunistischen Elite geschuldet war, hält sich der Mythos vom marktwirtschaftlichen Wohlstand für die osteuropäischen Peripherien beständig. Abwechselnd küren Wirtschaftsfachleute Polen, Ungarn und Tschechien zu „Musterknaben“ der Reformländer, um ebenso rhythmisch deren Rückschläge einzugestehen. War es 1996 Ungarn, das die in es gesetzten Hoffnungen als Zugpferd der sogenannten Reformländer nicht erfüllen konnte, so enttäuschte 1997 Tschechien die künstlich hohen Erwartungen der Fachwelt. Für Ungarn erließ sein Mentor, der Internationale Währungsfonds (IWF), eine restriktive Sparpolitik im Sozial- und Gesundheitsbereich, um westeuropäischen Investoren wieder einen halbwegs sicheren Forint-Markt präsentieren zu können. In Tschechien stürzte der Wert der Krone, was die Hoffnungen auf das Erreichen eines „kommunistischen“ Wirtschaftsniveaus noch im 20. Jahrhundert dämpfte. Einzig Polen hat, den Zahlen des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) zufolge, 1997 das wirtschaftliche Niveau von 1989 erreicht, wohlgemerkt: dem Jahr des völligen politischen und ökonomischen Zusammenbruchs. Die Länder, deren BürgerInnen mit Schengener Reiseverbot belegt sind – Rumänien, Moldawien, Bulgarien, Jugoslawien, Makedonien, Bosnien, das Baltikum, die Ukraine, Weißrußland und Rußland –, sind von ihren wirtschaftlichen Daten her weit hinter jene „goldenen Jahrzehnte“ nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgefallen, die heute als Entwicklungsdiktatur bezeichnet werden können. Hoffnung auf ökonomisches Nachholen wird auch ihnen immer wieder signalisiert, von Präsidenten und Kanzlern bei diversen Staatsbesuchen im Westen, von Weltbank und IWF bei der oftmaligen Verkündung der Gewährung einer Kredittranche, die dann doch wieder verschoben werden muß, oder auf internationalen Symposien, wo beim Hohelied auf die freie Marktwirtschaft noch immer die Strophe der westeuropäischen Wohlstandsbürgerlnnen und nicht die der brasilianischen Slumbewohnerlnnen angestimmt wird. Solange nicht erkannt wird, daß das Modell der attributlosen, liberalen Marktwirtschaft für die peripheren Länder am Rand des EU-Integrationsraums nicht brauchbar ist, werden Versprechungen auf eine Teilnahme an diesem System die Randlage Osteuropas fortschreiben.

Was seit 1989 passiert ist

Soviel steht fest: Die osteuropäische Krise ist strukturell. Eine allzu rasche Liberalisierung der Importe hat – neben Fehlern bei der Privatisierung – im großen Ausmaß zur Zerstörung industrieller und landwirtschaftlicher Kapazitäten geführt, die der westeuropäischen, südostasiatischen und türkischen Konkurrenz nicht standhalten. Sinkende Wettbewerbsfähigkeit für osteuropäische Produkte auf den Märkten der Europäischen Union ist die Folge. Und das, obwohl zwischen Warschau, Prag und Budapest insbesondere mit Steigerungsraten gerade beim Westexport spekuliert worden war.

In den ersten fünf Nachwendejahren ist die Industrieproduktion – im Vergleich zu 1988 – in Ungarn und Tschechien um 35 bis 40 %, in der Slowakei und in Polen um fast 50 %, in Rumänien und Bulgarien um zwei Drittel zurückgegangen. Rußland und die Ukraine befinden sich bis heute auf atemberaubender Talfahrt. Fazit: Die Länder der nachholenden industriellen Entwicklung sind heute weitgehend deindustrialisiert. Auch Böhmen und Mähren, die historisch eine Ausnahme bilden, fielen entwicklungsmäßig zurück. Selbst dort, wo seit 1994 wirtschaftliches Wachstum in geringem Maß feststellbar ist, basiert dieses weniger auf Investitionen als auf Konsumnachfrage nach Gütern aus Westeuropa, Fernost und der Türkei.

Ideologisch motivierte Privatisierungen zerstörten ein übriges. So wurden in Rumänien und Bulgarien unter der Devise der Wiederherstellung privater Eigentumsverhältnisse Landreformen durchgeführt, die eine auf den Westmärkten durchaus konkurrenzfähige Agrarproduktion liquidiert haben. Bulgarien bietet dafür ein besonders drastisches Beispiel. Dort betrieben von der konservativen Regierung eigens installierte Liquidationsräte planmäßig die Zerstückelung der Genossenschaften. 60 % der agrarischen Anbauflächen wurden meist in Kleinstbesitz privatisiert, die landwirtschaftliche Erzeugung ging um 55 % zurück. Das Land, in den 70er und 80er Jahren erfolgreicher Exporteur teilweise verarbeiteter Agrarprodukte, war 1997 zur Einfuhr von landwirtschaftlichen Rohstoffen gezwungen.

Die deflationistische Politik der westeuropäischen Ökonomien wiederum, die den eigentlichen Hoffnungsmarkt für die sogenannten Reformländer darstellen, hat im Vorfeld der Währungsunion zu quotiert verschlossenen Märkten geführt. Der westeuropäische Protektionismus konterkariert also jedes Bemühen, wie auch immer in der Transformationszeit zusammengerafftes und erspekuliertes Kapital produktiv zu investieren. Ausgerechnet Produkte aus jenen Branchen, in denen Osteuropa konkurrenzfähig wäre, fallen unter westliche Importbeschränkungen. Handelsbarrieren für Stahl, chemische Produkte und landwirtschaftliche Güter verweigern ungarischen, tschechischen, slowakischen, polnischen oder russischen Waren den unbegrenzten Zutritt zum EU-Markt. Somit bleibt auch der wesentliche Wettbewerbsvorteil osteuropäischer Länder, die billige Arbeitskraft, zum Gutteil ungenutzt. Selbst Löhne, die nur 5 % (in Rumänien) bis 15 % (in Ungarn) eines österreichischen Arbeiters betragen, sind für exportorientiertes Produzieren kaum verwertbar.

Hat also die Privatisierung aus der Konkurrenzschwäche unter den kommunistischen Diktaturen eine Konkurrenzunfähigkeit vieler Branchen in Industrie und Landwirtschaft gemacht, indem industrielle Komplexe stillgelegt und landwirtschaftliche Genossenschaften zerstört wurden, ist es gleichzeitig über die Geldpolitik zu einer Enteignung jener gekommen, die nichts als ihre Arbeitskraft besaßen. Hyperinflationen in drei- bis vierstelliger Prozentrate in den unmittelbaren Nachwendejahren haben in Polen, Rumänien, Bulgarien und der Ex-Sowjetunion zu einer Geldverknappungspolitik geführt, die – im Sinn einer Schocktherapie – möglichen ausländischen Investoren währungspolitische Sicherheit vermitteln sollte, die Sparbücher der Bevölkerung jedoch binnen Monaten leerfegte. Als besondere, nichtstaatliche Form einer Enteignung des Volkes mögen neben der Hyperinflation auch die berüchtigten Pyramidenspiele gelten, die in Albanien und der Ex-Sowjetunion gespartes Kapital im Schnellgang vernichtet haben.

Gleichzeitig trug die vom IWF vor allem von Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei geforderte Budgetkonsolidierung – zwecks Kreditwürdigkeit – zu einer Wechselkursstabilität auf relativ hohem Niveau bei, die exporterschwerend wirkte. Eingriffe der Bretton-Woods-Finanzorganisationen in die Wirtschaftsstrukturen der Länder zementierten Osteuropa als Peripherie des Westens. Barter-Geschäfte (also Tauschgeschäfte, z.B. ungarische Busse gegen russisches Erdgas) im Ost-Ost-Handel wurden de facto unterbunden, indem westliche Kredite an die Absage solcher Praktiken gekoppelt wurden. Der IWF forderte z.B. Ende 1996 von der ersten konservativen Nachwenderegierung die Schließung von 200 rumänischen Großkombinaten, um Kredite für Strukturanpassungsprogramme lockerzumachen.

Bulgarien wurde gleich als ganzes Land der Vormundschaft des IWF unterstellt. Am 1.7.1997 übernahm ein „Währungsrat“, bestehend aus Mitgliedern der Nationalbank und des IWF, die Geschicke des Landes. Die Regierung hat damit in Fragen der Währungs- und Finanzpolitik abgedankt; Geldumlauf, Zinsen, Steuern, staatliche Gehälter ... all dies wird der demokratischen Kontrolle entzogen und von Washingtoner Experten bearbeitet. Bleibt noch nachzutragen, daß diese Form der Kolonisierung von den bulgarischen Parlamentsparteien abgesegnet worden ist.

Kapital fließt von Ost nach West

Die Länder Osteuropas standen 1997 bei westeuropäischen und nordamerikanischen Gläubigern mit über 125 Mrd. US-Dollar in der Kreide, die GUS-Republiken müssen ähnlich hohe Schulden abtragen. Ungarn ist mit über 30 Mrd. US-Dollar das pro Kopf gerechnet höchstverschuldete Land Europas. Budgetäre Spielräume verengen sich von Halbjahr zu Halbjahr.

Kapital fließt von Ost nach West. So schätzt Silviu Brucan, Bukarester Ökonom und Mitglied des 1989er-Revolutionsrates, daß jährlich ca. 15 Mrd. US-Dollar aus Zinszahlungen und Amortisationen aus den Budgets des Ostens westliche Kassen klingeln lassen. Illegale Kapitalflucht kommt hinzu. Am schamlosesten offenbaren die internationalen Finanzorganisationen in Bosnien ihre Zweckbestimmung. Einen Monat vor der berühmten Dayton-Konferenz, die unter bestimmten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen westliche Unterstützung für den Wiederaufbau Bosnien-Herzegowinas versprach, trafen einander im Oktober 1995 die Vertreter der Gruppe der Sieben (G-7), um über einen Kredit von 3 Mrd. US-Dollar an Bosnien zu verhandeln. Dabei wurde beschlossen, ein Teil des kreditierten Geldes müsse für die Rückzahlung alter jugoslawischer Schulden verwendet werden. Schon im Sommer desselben Jahres setzte der IWF die Schuldenverteilung der jugoslawischen Nachfolgerepubliken fest. Demnach muß Bosnien 16 % der insgesamt 21 Mrd. US-Dollar Schulden auf sich nehmen: Vom Krieg geht es also direkt zurück in die Schuldenfalle, die wohl die eigentliche, ökonomische Ursache für den Ausbruch des Bürgerkrieges war.

Nichts blieb von der sozialen Sicherheit

Das Ende des politischen Primats über ökonomische Prozesse brachte auch das Aus für betriebliche und staatliche soziale Fürsorge, die unter den Kommunisten Teil des Einkommens der Arbeiterlnnen gewesen war. Die Leistungen, die der bzw. die einzelne aus dem „sozialistischen Fürsorgesystem“ bezogen hatte, betrugen nach Schätzungen der Weltbank bis zu 35 % des Geldlohnes. Sie zu zerschlagen, war erklärtes Ziel der Kapitalisierungsmaßnahmen der internationalen Finanzorganisationen. „Nicht-Lohn-Bestandteile des Arbeitseinkommens können die Mobilität hemmen“, hieß es dazu im 1995 erschienenen Weltentwicklungsbericht der Weltbank.

An die Stelle der jahrzehntelang betriebenen sozialen Zwangssicherung sind erste Versuche eines Versicherungssystems getreten, wie es in westeuropäischen Ländern üblich ist. Bloß: Für Arbeitslosen-, Krankheits-, Unfall- und sonstige soziale Versicherungen fehlt es den staatlichen Institutionen an Geld und der Wirtschaft an Dynamik. Also ist die Mehrheit der Menschen in Osteuropa, deren einfache Löhne fürs Überleben oft nicht ausreichen, auf das familiäre Netz zurückgeworfen. Nach dem Vorbild peripherer Standorte in Südostasien oder Lateinamerika sorgt die Großfamilie für ein Minimum an sozialer Sicherheit im Fall von Krankheiten oder Arbeitslosigkeit. Die stärksten, meist männlichen Mitglieder einer solchen „sozialen Einheit“ sind auch die mobilsten; und diese sind es auch, die ihr Glück in Westeuropa suchen. Nach der etwaigen Auspressung ihrer Arbeitskraft durch schlechtbezahlte und sozial nicht abgesicherte Schwarzarbeit in Österreich oder Deutschland kehren sie wieder zu ihrem Familienverband im Osten zurück. Der Lohn für zwei Monate Arbeit im westeuropäischen Baugewerbe sichert in der Ukraine einer ganzen Familie für ein Jahr lang das Überleben, in Rumänien kann vom schwarz erarbeiteten Lohn eines Sommers die ganze Familie den nächsten Winter überstehen.

Derweil wird die Kluft zwischen Armen und Reichen auch innerhalb der Länder Osteuropas größer. Was vor kurzem im Westen noch bedrohlich als Zweidrittelgesellschaft analysiert wurde, kennt der Osten um ein Mehrfaches verschärft. Einer relativ kleinen Schicht von Reichen in den Zentren der großen Städte, ca. 5 bis 10 % der Bevölkerung, steht ein Heer von Verelendeten gegenüber, die, anders als in den traditionellen Peripherien der „Dritten Welt“, mit ihrem Schicksal quasi über Nacht konfrontiert wurden.

Nach acht Jahren ungebremster Kapitalisierung sind die sozialen Folgen auch statistisch ablesbar. In vielen Teilen Osteuropas sinkt die Lebenserwartung, wie eine Studie der UNICEF feststellte. In Ungarn, Bulgarien, Rumänien, der Ukraine und in Rußland sterben Männer vergleichsweise jünger als 1989. 1993 war die Lebenserwartung der Ukrainerlnnen um fünf Jahre kürzer als vor der Wende, das Ende der Entwicklungsdiktatur kostete die Menschen dort statistisch gesehen fast ein Zehntel ihres Lebens. Alle osteuropäischen Länder (inklusive Rußland, Weißrußland und der Ukraine) zusammengenommen, starben im Jahr 1993 669.000 Menschen mehr als vier Jahre zuvor, bei gleichzeitig sinkender Geburtenrate. Als eine der Todesursachen nennt der UNICEF-Bericht das sogenannte „Adaptionssyndrom“, das in Form eines Herzinfarktes oder Schlaganfalls zum Tode führt. Viele Menschen werden mit den Folgen der Transformation einfach nicht fertig. Gesellschaftlich regiert die Angst, und sie hat die Lethargie, wie sie für kommunistische Zeiten typisch war, längst abgelöst.

Auf der Ebene der Beschäftigung finden die Auswirkungen der Wende zweifachen Niederschlag. Zum einen geht die Anzahl der formell Angestellten insgesamt zurück, zum anderen steigt auch die Arbeitslosigkeit. Bei Betrachtung derjenigen Länder, die für die Emigration von Bedeutung sind, ist feststellbar, daß als Folge der Deindustrialisierung Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren haben. In Bulgarien fielen – nach einer Studie des WIIW – zwischen 1989 und 1996 26 % der Beschäftigten aus formellen Beschäftigungsverhältnissen heraus, in Rumänien waren es 13,5 %, in Ungarn 9 %, in der Ukraine 10 % und in Rußland 12 %, wobei die Anzahl der Frauen überwog. In Menschenschicksalen ausgedrückt, heißt das: 841.000 Bulgarlnnen fielen aus dem Arbeitsprozeß, 1.446.000 Rumänlnnen desgleichen, dazu noch 387.000 Ungarlnnen, 9.425.000 Russlnnen und 2.045.000 Ukrainerlnnen – insgesamt also knapp 15 Millionen Menschen, die in den vergangenen sieben Jahren ihre bezahlte Arbeitsstelle verloren haben. Für Polen und die Länder des ehemaligen Jugoslawien liegen keine vergleichbaren Zahlen vor. Die offiziellen Arbeitslosenraten schwanken zwischen 11 % (in Ungarn) und 15 % (in Polen), Tschechien (5 %) bildet eine Ausnahme. Die südslawischen Republiken wiesen 1996 amtliche Arbeitslosenquoten von 15 % (Slowenen), 18 % (Kroatien), 27 % (Jugoslawien) und 38 % (Mazedonien) aus. Inoffiziell dürfen für Länder wie Rumänien oder Bulgarien die Prozentzahlen der offiziellen Statistiken verdoppelt werden, um der Wahrheit näher zu kommen. Das würde für Rumänien eine Arbeitslosigkeit von 20 %, für Bulgarien von 24 % bedeuten.

Flüchte sich, wer kann

Auf den ersten Blick scheint es, als wäre das Transformationsziel für Osteuropa, wie es sich Weltbank und IWF nach dem Zusammenbruch im Jahr 1989 setzten, erreicht worden. Die „sozialistischen Restriktionen“ auf dem Arbeitsmarkt konnten durchbrochen und die erwünschte „Arbeitsmobilität“ hergestellt werden. Doch der Prozeß entwickelte sich anders, als von den internationalen Kreditgebern gewünscht. Zum einen verharrt die Mehrzahl der „freigesetzten Proletarier“ in undynamischer Haltung und bleibt passiv. So steigt – bedingt durch die im Sinn einer internationalen Konkurrenzfähigkeit zerstörten Landreformen, die zur Zerstückelung der Anbauflächen beitrugen – in Ländern wie Rumänien (um 8 % auf 37 %) und Bulgarien (um 6 % auf 24 %) die Zahl der Landbevölkerung beträchtlich. Auf kleinsten Parzellen, in der Mehrzahl unter 2 Hektar groß, betreiben Hunderttausende unter Ceausescu und Schivkov rasch proletarisierte, nun unbrauchbar gewordene Industriearbeiter Subsistenzwirtschaft auf relativen Gunstlagen vor allem in Transsilvanien und in Bulgarien. Zum anderen ergreifen gerade jene, die zum Neuaufbau ihrer Länder wesentlich beitragen könnten, die Flucht und versuchen ihr Glück im vermeintlich goldenen Westen: gut ausgebildete Ärztlnnen, Ingenieurlnnen, Lehrerlnnen, aber auch eine erkleckliche Anzahl junger Männer mit Grundschule schlagen sich durch den Schengener Vorhang, um in Deutschland, Österreich, dem Benelux oder in Italien Arbeit zu finden. Kleinräumige Untersuchungen haben gezeigt, daß überdurchschnittlich viele Akademiker aus Polen, Rumänien oder der Ukraine in schlechtbezahlten Jobs, etwa am Bau, schwarzarbeiten.

Beide Bewegungen der „Freigesetzten“ – das Verharren in der Subsistenz und die Flucht ins westliche Ausland – haben die Verantwortlichen überrascht. Die theoretische Konzeption, wonach ein forciertes Aufbrechen erstarrter Arbeitsmärkte zu einer Dynamisierung der Volkswirtschaften führen würde, ist an der Wirklichkeit gescheitert (wie immer mit der relativen Ausnahme von Böhmen und Mähren, die ja bereits zu Zeiten der Monarchie hochentwickelte industrielle Kernländer waren und mit den übrigen Ex-RGW-Ländern nur schwer vergleichbar sind).

Das Elend wird ethnisiert

Langfristig gesehen, folgt dem Fehlschlag der umfassend geplanten Modernsierung auf sozialer Basis, wie sie die kommunistische Entwicklungsdiktatur anstrebte, nun in den Ländern Osteuropas der Versuch, wirtschaftliches Aufholen wenigstens regional und sozial begrenzt in die Tat umzusetzen. Der Ausschluß von Nachbarregionen und -staaten bzw. von unproduktiv gewordenen Arbeitern und Bauern soll anderen, durch angeblich nationale oder rassische Merkmale Privilegierten garantieren, ihre Vorstellung von Reform verwirklichen zu können. Die selektive Modernisierung entlehnt ihre gesellschaftlichen Zielvorstellungen aus der Zwischenkriegszeit.

Die Teilnahmebedingungen am damaligen wie am heutigen Modernisierungsprojekt werden von Kategorien wie „Rasse“, Nation oder Religion abhängig gemacht. Damit ist der Wende des Jahres 1989 die Ethnisierung der sozialen Frage gelungen, ein den sozialen, territorialen und religiösen Frieden gleichermaßen bedrohender Tatbestand. Einflußreiche Gruppierungen in den verschiedenen Ländern Osteuropas stellen sich heute in die Tradition der rumänischen Eisernen Garde, des ungarischen Horthy-Regimes, der polnischen Regierung Pilsudski, der verschiedenen baltischen Nationalisten, der slowakischen Klerikalfaschisten, der kroatischen Ustascha ... Die tatsächlich bekennenden Geschichtswiederholer gehören oft nur verhältnismäßig kleinen Gruppierungen an, etwa der Romania Mare und der PUNR (Partei der nationalen Einheit Rumäniens) in Rumänien, Jószef Torgyans Kleinen Landwirten oder István Csurkas Nationaler Bewegung in Ungarn, der SNS-Nationalpartei in der Slowakei, der RUCH-Bewegung in der Ukraine, Voislav Scheschels Radikalen in Serbien, der HOS in Kroatien, der Bewegung für nationale Unabhängigkeit in Lettland usw. Diese Bewegungen und Parteien sind es allerdings, die die Regierungen ihrer Länder – wenn sie nicht sogar selbst daran beteiligt sind – ideologisch vor sich hertreiben. Revanchistische Forderungen werden so zu Bestandteilen offizieller Erklärungen, Gebietsansprüche gegenüber Nachbarländern gehören zur tagtäglichen propagandistischen Rhetorik.

Die Ethnisierung der gesellschaftlichen Konflikte erfolgt nicht zufällig in Zeiten der schwersten wirtschaftlichen Krise. Sie ist Ausdruck eines härter werdenden Verteilungskampfes um knappe Mittel. Gerade innerhalb ehemals multiethnischer Staaten wird durch die Diskreditierung der „sozialen Frage“ im Zug des Zusammenbruchs der sozialistisch argumentierten Modernisierung der Verteilungskampf nun mit nationalen Parolen geführt. Alle drei per definitionem multiethnischen Staatsgebilde im Osten – die Sowjetunion, Jugoslawien und die Tschechoslowakei – sind auf diese Weise gesprengt worden.

Die Ethnisierung der sozialen Frage bildet auch die Voraussetzung für die Verfolgung von nationalen Minderheiten. In Jugoslawien ist dieser Prozeß rasend schnell und brutal über die Bühne gegangen. Anderswo passiert er schleichend. Die Gesellschaften zwischen Baltikum und Balkan leiden diesbezüglich an alten historischen Bruchlinien. So wirkt z.B. der ungarische Nationalismus auf Rumänien, die Slowakei und Jugoslawien destabilisierend, Rumänisch-Nationale setzen wiederum die ungarische Minderheit im eigenen Land, aber auch die Nachbarländer Moldawien und Ukraine unter Druck, in denen rumänische Bevölkerung lebt. Die Liste ließe sich fortsetzen. Leidtragende des „Kampfes um den leeren Futtertrog“ sind meist auch die Roma, die in Tschechien teilweise ihre Staatsbürgerschaft verlieren, in der Slowakei durch das grob geknüpfte soziale Netz fallen, in Rumänien ums Uberleben kämpfen und im Zielfluchtland Deutschland immer wieder neonazistischen Attacken zum Opfer fallen.

Der Westen schottet sich ab

Die westliche Reaktion auf die osteuropäische Krise heißt Abschottung. Dieses Wort, in Zeiten der Anwerbung jugoslawischer und türkischer Gastarbeiter, also in den 70er Jahren, dem Duden noch unbekannt, ist heute sprachliches Allgemeingut. Seine tagtägliche Rechtfertigung erfährt es in der Bedrohung der westeuropäischen Arbeitsmärkte durch billige Ostkonkurrenz. Ideologisch werden auch die unterschiedlichen Nationalismen in den Ländern des ehemaligen RGW bemüht, um Strafsanktionen wie das Reiseembargo für Rumänlnnen, BulgarInnen, Jugoslawlnnen, Bosnierlnnen, Ukrainerlnnen, Russlnnen usw. durchzusetzen. Vor der Masse sozial und nun auch ethnisch Entwurzelter hat das Asylrecht kapituliert.

Beitrag entnommen dem Buch Menschenjagd – Schengenland in Österreich, hg. von Anny Knapp und Herbert Langthaler.

Literatur

  • Brucan, Silviu: East Europe in the World Economy. Paper prepared for the XIII. International Colloquium on the World Economy: Global Polarization. Wien 1995
  • Chossudovsky, Michel: Dismantling the Economy of Former Yugoslavia. E-Mail. Ottawa 1996
  • Crisis in Mortality, Health and Nutrition. Economies in Transition Studies. Regional Monitoring Report (UNICEF-Studie), No. 2/94. Florenz 1994
  • Domaschke, Cornelia/Schliewenz, Birgit: Spaltet der Balkan Europa? Berlin 1994
  • Die Ethnisierung des Sozialen. Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges. Materialien für einen neuen Antiimperialismus. Berlin 1993
  • Hofbauer, Hannes: Osteuropa: Die sozialen Folgen der Transformation. In: Andrea Komlosy et al. (Hrsg.): Ungeregelt und unterbezahlt. Der informelle Sektor in der Weltwirtschaft. Frankfurt/M. 1997
  • Hofbauer, Hannes: Peripherer Kapitalismus in Osteuropa. In: Analysen und Alternativen zu einer neoliberalen Welt. Ein Reader. Hrsg.: Arge entwicklungspolitische Hochschulwochen. Wien 1997
  • Hofbauer, Hannes: Von der Entwicklungsdiktatur zur Westintegration. In: BUKO-Arbeitsschwerpunkt Rassismus und Flüchtlingspolitik (Hrsg.): Zwischen Flucht und Vertreibung. Hamburg 1995
  • Weltbank (Hrsg.): Arbeitnehmer im weltweiten Integrationsprozeß. (Weltentwicklungsbericht 1995.) Washington – Bonn 1995
  • Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche/WIIW (Hrsg.): Countries in Transition 1997. (Handbook of statistics.) Wien 1997
  • World Economic Outlook. International Monetary Fund. Washington 1993
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