MOZ, Nummer 55
September
1990
Interview

„Frächterkommunismus“

Hermann Knoflacher ist Professor für Verkehrsplanung an der Technischen Universität in Wien. Karl Lind sprach mit ihm über „Lückenschließen“, die EG-Verkehrspolitik, Transit und die Geschichte des Straßenwahnwitzes.

MONATSZEITUNG: Herr Knoflacher, Sie sind Mitinitiator einer Petition an den Nationalrat zum Thema Transit und Verkehrsplanung. Was genau wünschen Sie sich denn von unseren Volksvertretern?

Knoflacher: Das Forum der Wissenschaftler ist oft von Bürgerinitiativen aufgesucht worden, um Hilfestellung zu geben beim Widerstand gegen den Ausbau von antiquierten Transitautobahnen, deren Planung meist aus dem Dritten Reich stammt — und die Österreich jetzt immer noch weiterbaut. Die vielen Einzelaktionen waren nicht weiter zielführend, so haben wir sie zusammengefaßt, gemeinsam mit den Bürgerinitiativen und dem Verkehrsklub.

Nun, im wesentlichen hat die Petition drei Ziele: Erstens: Den rechtlosen Zustand im Bundesstraßenbereich aufzuheben. So können Sie in Österreich zwar ein Kraftwerk, aber keine Bundesstraße verhindern. Es existiert keine Art von Baubewilligung. Ein politischer Beschluß wird gefaßt und dann wird gebaut — unabhängig davon, ob eine Bedarfs- oder eine Folgenabschätzung vorhanden ist. All die Anhörungsverfahren haben keine Wirkung. Zustände also, die eigentlich nur aus totalitären Staaten bekannt sind.

Die Lücken, die zur Zeit im Straßennetz noch vorhanden sind, erhöhen den verkehrspolitischen Spielraum der Bundesregierung. Sind sie einmal geschlossen, ist nichts mehr zu machen, das hat ja Kufstein bewiesen, wo sich plötzlich ein enormer verkehrspolitischer Spielraum aufgetan hat.

Zweitens: Ausbaustopp für die Autobahn und das Geld für die Bahn umwidmen. — Und drittens: Die Begrenzung des Transitverkehrs.

Das sind die Ziele, eigentlich vollkommen konform mit der Regierungserklärung. Allerdings nicht konform mit dem, was gemacht wird.

Sie fordern immer den „Mut zur Lücke“, also den Verzicht auf den Ausbau der fehlenden Straßenstücke im bestehenden europäischen Netz. Inwieweit ist denn der „Mut zur Lücke“ verträglich mit einer österreichischen EG-Integration?

Man kann ja von einem Staat, der der EG beitreten will, nicht verlangen, daß er dafür einen großen Teil seines Lebensraumes zerstört. Wenn man selbstbewußt verhandelt, dann wird man das auch akzeptieren. Die Schweiz ist ja in diesem Sinne ein sehr gutes Beispiel — sie bildet als ganzes Land eine Lücke, was auch für Österreich wünschenswert wäre.

Es liegt eben immer an den Verhandlungspartnern: Wenn Sie clevere haben, werden Sie gute Ergebnisse erzielen, haben Sie schlechte, schlittern Sie in eine Katastrophe. Wenn einer gescheit und der andere dumm ist, wird der Dumme halt alles mögliche verlieren.

So gibt es in den Verhandlungen mit der EG nur geringe Entwicklungen. Streicher selbst, glaube ich, bemüht sich hier, zu machen, was geht. Die Bürgerinitiativen fordern übrigens auch Transparenz bei den Gesprächen und die Teilnahme eines Vertreters ihres Vertrauens bei den Brüsseler Verhandlungen.

Keine Fortschritte also in den Verhandlungen ...

Leider haben wir einen gewissen Fortschritt in der Harmonisierung erzielt, indem wir die Gesamtgewichte für LKW im Zu- und Nachlauf zur Eisenbahn zu wenig erhöht haben, statt in Richtung Schweiz zu gehen, die höhere Gesamtgewichte zuläßt. Damit wird natürlich unsere Position zusätzlich erschwert, d.h. man setzt Schritte in die falsche Richtung und flüchtet vor den Problemen. Die ganz Frage der Liberalisierung in der EG ist ja eine ideologische Frage, es gibt da so eine Art Frächterkommunismus. Wo der Ostkommunismus überwunden ist, wurde jetzt im Westen ein Frächterkommunismus eingeführt. Eine Entwicklung, noch viel schrecklicher in den Folgewirkungen, als sie im Osten politisch waren. Deswegen, weil hier Grundrechte der Menschen zerstört werden: Recht auf gesunde Luft, auf ruhigen Schlaf, auf gesicherte Freizeiträume usw.

Österreich steht damit nicht besonders gut da im EG-Spiel. Es ginge uns besser, bildeten wir mit den Schweizern und den Ungarm eine vernünftige Achse, um eine neue Art von Verkehrspolitik zu machen. Wo wir es doch waren, die diese LKW-Lawine mit dem Ausbau des Brenners, dem Lückenschluß, ausgelöst haben. Da hat ganz Europa erkannt, daß es ein Land gibt, auf dessen Kosten man elegant Geschäfte machen kann. Und heute, achtzehn Jahre danach, klagen wir darüber. Und tun im Osten Österreichs so als ob wir nicht wüßten, was im Westen passiert ist.

Zur Zeit hat die EG ja sowas wie eine Pause. Nicht sommerbedingt, sondern auf Grund der deutsch-deutschen Freundschaft. Wir hier in Österreich könnten die Zeit doch für eine intensive EG-Diskussion nutzen? Zum Beispiel zum Thema Verkehr.

Genau. Die wird aber offensichtlich abgewürgt, weil unsere Medien frei zu sein nur scheinen. Das deutsche Kapital, vermute ich, nimmt sicher Einfluß auf die Medienlandschaft. Damit wird Österreich zur Kolonie degradiert.

All der Verkehr, wo kommt denn der her? Ein Wirtschaftssystem, das den Kostenfaktor Transport nicht kennt, ein Markt, der die Kosten nicht in den Preis mitaufnimmt was Wunder, wenn alle — bei so viel Subventionen — auf die Straße schwören?

Der LKW-Verkehr trägt bis zu 20% seiner Kosten, das heißt, wir schießen 80-90% der Kosten zu. Ja, das ist natürlich eine Supergeschichte. Würde eine Marktwirtschaft, der 90% der Kosten getragen werden, dieses Verkehrsmittel nicht betreiben, hielte ich sie für absolut unfähig. Also sind die verkehrspolitischen Randbedingungen falsch. Wenn man mit echten Kosten kalkuliert, verschwindet der Großteil des Verkehrs wie ein Spuk und es bleibt der tatsächlich notwendige über — der größere Teil wird auf die Eisenbahn und auf das Schiff verlagert.

Mithin also eine völlig absurde Situation. Wir zerstören unsere Heimat, nur weil Ökonomie mit falschen Systemabgrenzungen funktioniert. Die EG wird natürlich ein phantastisches Geschäft mit Österreich machen. — Wir tragen die Kosten, die machen den Profit; wir sind wirklich ein wunderbarer Partner. In Wahrheit dürften wir nicht die Infrastruktur anbieten, sondern sollten es halten wie die Schweiz mit ihren 28-Tonnen. Wenn wir die Lücken haben, können sie nicht mehr durchfahren, das hat ja Kufstein deutlich gezeigt.

Wir haben sowieso ein ungeheures Straßenüberangebot, mehr als die anderen Länder. Damit lockten wir die anderen Staaten — auf unsere Kosten — zum Transport auf unseren Straßen, und nun wundern wir uns, daß sie auch wirklich eintrafen. Wir haben gebaut, als ob ein jeder Österreicher seine eigene Rennbahn haben wollte.

Nun gibt es auf der einen Seite, nicht nur im Verkehrs-, sondern auch etwa im Abfall- und Energieberereich, fertige Konzepte, deren Anwendung ökologisch und ökonomisch vorteilhafter wäre als die realen Gegebenheiten. Woran scheitert es also?

Es stimmen eben die wirtschaftlichen Randbedingungen nicht. Immer noch ist es für die Betriebe gewinnträchtiger, in der alten Form zerstörerisch weiterzumachen. Solange sie etwa kein Kilometergeld fürs Zufußgehen und Radfahren erhalten, solange sie für die Benützung Öffentlicher Verkehrsmittel zahlen müssen, werden Sie die Leute nicht vom Auto wegkriegen.

Wollen Sie etwa in Wien ein Grundstück kaufen, müssen Sie 20-30.000 Schilling per Quadratmeter auf den Tisch legen. Sie können aber irgendeine Rostschüssel kaufen, die vielleicht 20.000 Schilling kostet und damit für hunderttausende Schillinge kostenlos Grund in Anspruch nehmen. Das ist doch völlig absurd, dieses ganze System.

Oder die Wohnungsmieten: Die Leute sind in zehngeschoßigen Gebäuden und noch höher gestapelt und zahlen so und so viel Miete für die Wohnung. Wenn Sie die Quadratmeter auf den Quadratmeter Boden summieren und daneben den kostenlosen Parkplatz hernehmen, dann sehen Sie, was da für eine absurde Situation entstanden ist: Für das Primärbedürfnis Wohnen müssen wir selbstverständlich zahlen, für ein Sekundärbedürfnis aber, einer speziellen Form von Mobilität, ist der Staat bereit, den wertvollen Platz zur Verfügung zu stellen. Wo bleibt da die Marktwirtschaft?

Die Wissenschaft muß das herausarbeiten, und dann müssen die Verantwortlichen ihre Verantwortung wahrnehmen. So war das Spiel schon immer. Entweder friktionsfrei oder nicht. Die Bürgerinitiativen sind die ersten Zeichen dafür, daß sich da was tut.

Der Verkehrsirrwitz hat ja Geschichte. Wann sind denn Sie, als Verkehrsplaner, draufgekommen, daß da etwas gehörig schief läuft in der Entwicklung?

Das erste nach dem Krieg war die Wiederherstellung der Infrastruktur, die in den 50er Jahren abgeschlossen wurde. Damit hatte man ein relativ ausgewogenes Verkehrssystem, die Eisenbahnen waren einigermaßen in Schuß, die Straßen relativ befahrbar. Nachdem sie auch noch staubfrei gemacht worden waren, tauchten die Ideen wieder auf, wie im Dritten Reich Autobahnen zu bauen und eine an den USA orientierte Autoeuphorie zu propagieren.

Das war auch noch der Inhalt der Ausbildung in meiner Studentenzeit, zu Beginn der sechziger Jahre, in der ich nichts außer Autobahn- und Straßenbau hörte. In den nächsten Jahren hat diese Entwicklung voll durchgeschlagen. Es dauerte einige Zeit, bis ich die Grundlagen hatte, um auf seriöse Weise aus dem traditionellen Selbstverständnis herauszufinden. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre konnte ich, mit weitblikkenden Politikern, die Fußgeherzonen in den österreichischen Städten realisieren. 1971 etwa plante ich eine für St. Veit, die erst voriges Jahr verwirklicht wurde. Vier Jahre später wollte ich die Radfahrwege forcieren, wofür ich ausgelacht wurde, genauso übrigens wie bei der Forderung nach einem Tempolimit.

Und so trug ich also Baustein um Baustein zusammen, wodurch meine Position immer unelastischer wurde. Denn mit soliden Grundlagen kann man keine Kompromisse, sondern nur mehr Fehler machen. Mit der Zeitkonstante, nach der es keine Zeitgewinne durch höhere Geschwindigkeit geben kann — denn die Zeit ist eine konstante Größe für Mobilität —, entstand ein geschlossenes theoretisches Gebäude auf soliden empirischen Grundlagen, dessen Entwicklung vor 27 Jahren begonnen hatte.

Was sich heute im Transitverkehr ereignet, ist eine fast idente Situation mit jener vor 20 Jahren bei den furchtbaren Schlachten um die Fußgängerzonen. Heute kann ja jeder eine Fußgängerzone einführen, weil man weiß, daß sie gut funktionieren. Aber vor 20 Jahren sind Sie dafür in einer Stadt beinahe gelyncht worden. Man sagte mir etwa, ich solle in die Volksschule zurückgehen und so, da waren auch Hochschulprofessoren auf der gegnerischen Seite, die sind ja nicht zimperlich in ihrer Argumentationsweise.

Letzte Frage: Sehen Sie .die Möglichkeit einer eigenständigen österreichischen Verkehrspolitik?

Nehmen Sie zum Beispiel die Schweiz. Die ist seit 500 Jahren ein Kleinstaat und weiß, wie sich ein Kleinstaat verhalten und wo man Härte zeigen muß. In Österreich gibt es das Problem, daß wir immer noch in monarchistischen Maßstäben denken, ohne über die Monarchie verfügen zu können. Wir haben zwar keine Ressourcen, aber wir denken immer noch in Dimensionen Hamburg-Istanbul. Und das hört man auch in den verkehrspolitischen Diskussionen. So etwas würde einem Schweizer nie einfallen, der denkt von Basel nach Zürich über Bern, weiß aber wohl um die Bedeutung und den Mißbrauch des Verkehrssystems durch andere Bescheid. Das sind seine Dimensionen, und alles andere ist dem unterzuordnen. Was man in Österreich von unseren führenden Verkehrspolitikern hört, ist ja ungeheuerlich, die reden, als müßten wir solche Straßen bauen, daß man von Hamburg nach Istanbul durchfahren kann, und ordnen die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung, von der sie gewählt wurden und deren Interessen sie zu vertreten hätten, den Verkehrsbeziehungen unter. Wenn das einer in der Schweiz macht, kann er am nächsten Tag als Minister gehen.

Herr Knoflacher, wir danken für das Gespräch.
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