CONTEXTXXI Nº 2
März
1996

Friedrich Torberg und Hans Weigel

Zwei jüdische Schriftsteller im Nachkriegsösterreich

Friedrich Torberg und Hans Weigel waren die beiden bekanntesten und wohl auch bedeudendsten jüdischen Schriftsteller in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Beide waren im deutschen Sprachraum als Verfasser von zahlreichen eigenen literarischen Werken sowie als Publizisten, Herausgeber, Kritiker und Förderer jahrzehntelang präsent und überaus einflußreich auf das aktuelle literarische und oft auch tagespolitische Geschehen. Beide waren sich dabei ihres Judentums, ihres jüdischen Schicksals immer bewußt und setzten sich in zahlreichen Artikeln und Büchern explizit mit ihrer jüdischen Herkunft und Identität auseinander, allerdings auf eine mehr als gegensätzliche, einander widersprechende und widersprüchliche Art und Weise: Weigel fast ausschließlich negativ, indem er sein Judentum, über das er doch immer wieder schrieb, verneinte und den Antisemitismus leugnete und nicht wahrhaben wollte, ohne auf die Wirkungen zu achten, und Torberg ausschließlich und vorbildlich positiv sein jüdisches Erbe sein Leben lang bewahrend, schätzend und vertiefend.

Zuerst zu Hans Weigel:

Weigel wurde 1908 in eine assimilierte gutbürgerliche Wiener jüdische Familie geboren; sein Vater war Direktor der Glasfabrik Stölzle, sein Großvater nicht nur Landwirt und Kaufmann, sondern noch ein strenggläubiger hebräischer Schriftgelehrter. Erst nach dessen Tod trat er 1932 aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus und bezeichnete sich seither als Nichtjude. In den dreißiger Jahren schrieb Weigel für die damals berühmten, überwiegend von Juden getragenen Kleinkunstbühnen und emigrierte 1938, eine Woche nach dem Anschluß, in die Schweiz. [1] Das Exil war für ihn „nur eine Station auf der Reise von Wien nach Wien“ und er verweigerte die Annahme eines Visums in die USA, um nahe seiner Heimat bleiben zu können. Im Herbst 1945, sobald es wieder möglich war, kehrte er zurück und begann sogleich zu publizieren und im legendären Café Raimund junge Schriftsteller um sich zu sammeln. Seine Eltern lebten in den USA, und viele Mitglieder seiner Familie wurden ermordet. [2] 1946 führte Weigel eine sehr aufschlußreiche Korrespondenz mit Torberg über das Problem der Heimkehr und die Situation in Wien, aus der hervorgeht, daß für ihn doch nicht alles so selbstverständlich und einfach war wie er es später selbststilisierend schilderte. Das Klima in der Schweiz beschrieb Weigel als „absolut scheußlich“ und dies war einer der Gründe, warum er so bald wie möglich zurück wollte. In Wien aber erwiesen sich seine Befürchtungen als unbegründet:

Das Großartige ist, daß man sich keinen Augenblick als Fremder fühlt, daß man dem Menschen gegenüber keine Hemmungen hat, daß man mit dazugehört ... In Wien ereignete sich dann das große Wunder. Im ersten Augenblick ist man natürlich gerührt und bewegt. Aber vom zweiten Augenblick an, oder spätestens vom dritten, hört sogar das auf.

Man bewegt sich hier so selbstverständlich, geographisch ebenso wie menschlich, als wäre man vom Urlaub oder von einem einjährigen Auslandsengagement zurückgekommen. Die Kluft, vor der Sie sich fürchten und vor der ich mich gefürchtet habe, existiert nicht.

Dann jedoch gibt Weigel noch einen zweiten Grund dafür an, warum er sich in Wien nicht fremd fühlte:

Sie hatten sich sicher, wie auch ich, vorgestellt, daß Wien im dritten Reich und nachher eine Stadt von ‚Goyim‘ sein würde. Überraschenderweise ist davon keine Rede. Erstens stellt es sich heraus, daß viele Leute hier jüdisch aussehen, ohne es zu sein ...

Zweitens gibt es eine Fülle von Juden, die teils mit Nichtjuden verheiratet und dadurch geschützt waren, oder Mischlinge waren, oder irgendwoher, meist aus Ungarn, zurückgekommen sind. Und drittens hat sich das Jüdeln im Tonfall und im Vokabular durch all die Jahre hindurch hier erhalten ... Daß das Jüdische hier noch vorhanden ist, hat großen Eindruck auf mich gemacht, nicht daß ich so dran hinge, aber weil es ein Symptom für eine gewisse Kontinuität ist, die ich unterbrochen fürchtete. [3]

Diese Stelle zeigt geradezu erschütternd, wie entfremdet Weigel eigentlich dem Wiener Judentum vor 1938 war. Denn alles, was er hier als das Jüdische, das sich in Wien trotz allem gehalten hat, beschrieb, hatte mit diesem reichlich wenig zu tun. Daß ihm dessen Ausrottung so wenig bewußt wurde, war wohl auch deswegen, weil ihm, wie er ja selbst zugab, wenig am Judentum lag. Wie falsch und mißverständlich seine Beobachtung aber war, wird einem erst dann völlig klar, wenn man sie mit den Berichten der anderen rückkehrenden oder Wien besuchenden Juden vergleicht, die alles andere als ein Nachlassen des Antisemitismus oder unproblematische Präsenz des Jüdischen bezeugen.

Diese Beschreibung wiederholte Weigel fast wortwörtlich in einem Rundbrief an Freunde Ende April 1946. Dort nahm er auch — ein wenig differenzierter, aber ebenso egozentrisch wie sonst — zum Thema Antisemitismus Stellung:

Immer wieder tauchen stereotyp zwei Sätze auf: in Österreich gibt es Antisemitismus — in den hohen Stellen sitzen noch Nazis. Ich erkläre feierlich, daß beides unwahr ist. Es ist denkbar, wahrscheinlich, sogar natürlich, daß es in Österreich Antisemiten gibt. Aber irgend eine offiziell geduldete Form des Antisemitismus gibt es nicht. Ich habe mich immerhin lang genug und zum Teil sogar in exponierter Stelle hier bewegt. Ich habe in keiner Form auch nur den leisesten Antisemitismus bemerkt. [4]

Torberg sah in seiner Antwort auf Weigel nicht nur die Fakten in der richtigen Dimension, sondern zeigte auch die verhängnisvollen Konsequenzen von Weigels betont österreichischer Haltung, für die dieser so blind war:

Ich halte den Antisemitismus für einen integralen Zug des österreichischen Wesens. Er gehört so natürlich zu Österreich wie — nun eben: wie die Juden ... Ich glaube in der Tat, daß die Juden eher auf Österreich verzichten können, als Österreich auf die Juden. Wenn ich für meine Person ’als Jude’ zurückkommen will, weil ich ’jüdisch’ für keinen Gegensatz von ’österreichisch’ halte, sondern für einen Bestandteil, so istdas schließlich meine Privatsache — genauso wie es Ihre Privatsache ist, wenn Sie da einen Gegensatz spüren. Wenn aber, zum Unterschied von dieser unsrer individuellen Einstellung, die kollektive Einstellung Österreichs etwa dahin ginge, die zur Rückkehr bereiten Juden ausdrücklich nur als Österreicher zu akzeptieren, so wäre das meiner Meinung nach sehr verhängnisvoll. [5]

Weigel, der 1949 noch in der Tageszeitung Neues Österreich einen Aufruf zur Rückholung der Emigranten verfaßte, der selbstverständlich unbeachtet blieb, schrieb in diesem Sinne auch an Torberg:

Erfragen Sie, wer von den Viertels, Waldingers, Brochs, Torbergs etcetera bereit wäre, auf einen offiziellen Ruf und mit Hilfe der USA herzukommen. Erfragen Sie’s rasch, bringen Sie zumindest baldigst eine erste Liste zustande. Schicken Sie mir die, und an Hand dieser geht dann alles eher. [6]

Da aber hatte er sich verrechnet, denn Torberg war nicht bereit, sich für „linke“ Kollegen, deren Gesinnung er ablehnte, auch nur irgendwie einzusetzen und bekannte dies in aller Offenheit:

Zum Beispiel nennen Sie die Namen Viertel, Waldinger und Broch. Über Broch ist keine Silbe zu verlieren. Was aber die beiden Erstgenannten betrifft, so repräsentieren sie im allerhöchsten Maße das, worauf ich — und, wenn ich Ihre Briefe und Ihre Veröffentlichungen richtig gelesen habe, auch Sie — aber schon gar keinen Wert legen. Und zwar repräsentieren sie sie es auf eine so eitle, anmassende und aggressive Weise, daß ihre Rückkehr für mich geradezu ein Grund wäre, meinerseits nicht zurückzukehren. Keinesfalls würde ich daran mitwirken wollen, daß sie gar noch offiziell zurückberufen werden. [7]

Im Gegensatz zu Torberg versuchte sich Weigel in seiner Antwort zwar ein wenig in seine emigrierten Kollegen hineinzuversetzen und reagierte damit etwas humaner, konnte sich aber auch nicht wirklich für eine der beiden Seiten entscheiden:

Zur Frage der Remigranten verstehe ich Ihren Standpunkt. Es ist nur so, daß ich das Gefühl habe, daß es auch würdige gibt, wenn ich auch nicht par distance wissen kann, die welchen es sind. Und wenn ich mir vorstelle, daß ich in New York säße und nach Wien wollte, und es kümmert sich niemand drum, und irgend ein Weigel wäre, weil in der Schweiz gewesen, schon dort und täte nichts für mich, dann würde ich denken: Ich an seiner Stelle tät was! Und drum wollte ich. Aber vielleicht haben Sie recht und man soll die Hände davon lassen. Natürlich haben aber, von einer höheren Warte aus gesehen, auch die Miessnigs ein Recht auf Heimkehr. Denn wenn der Aufenthalt in Wien von dem Nachweis, daß man kein miesser Baldower ist, abhängig wäre, gäbe es eine Entvölkerung. Warum also nur miesse Arier hierselbst? Es hat jeder, der mit Berechtigung hierher will, den Anspruch drauf — aber Sie haben wieder recht, daß nicht ausgerechnet man selber, ihm dazu verhelfen soll, wenn er nichts wert oder eine ’nuisance’ ist. [8]

Im Oktober 1945 schrieb Weigel in einem Artikel in dem von den Amerikanern herausgegebenen Wiener Kurier: „Wir haben einander nichts vorzuwerfen. Seine Toten kann keiner lebendig machen — bei euch sind viele tot und bei uns — wir Überlebenden aber sind quitt. Wir denken gar nicht allzuviel an gestern.“ Wilhelm Weinberg, der spätere Oberrabbiner von Frankfurt am Main, kommentierte diesen Artikel in der Wiener jüdischen Zeitschrift Der neue Weg: „Vielleicht ist Herr Weigel quitt — wir, der größte Teil der Juden in der ganzen Welt und auch hier, nicht.“ Zum Ekel gesellte sich für Weinberg an einer zweiten Stelle die Empörung, wenn Weigel sich „im Überschwang der Wiedersehensfreude“ nicht damit begnügte, „Quittungen über sechseinhalb Millionen Tote auszustellen“, sondern „auch noch zur Differenzierung jener Juden, die nicht heimkehren wollen“, mit dem ebenso problematischen Satz verstieg: „Denn da ja niemand zur Heimkehr gezwungen wird, kommen nur jene hieher zurück, die ich auf Grund meiner Erfahrungen als die ’’österreichischesten’ Elemente bezeichnen kann“. [9] In der Schweiz schrieb Weigel den in der Basler Arbeiterzeitung veröffentlichten satirischen Roman Der grüne Stern über den Aufstieg und Niedergang einer modernen totalitären — in seinem Fall vegetarischen — Bewegung, der allerdings trotz seines aufklärerischen Wertes und der offensichtlichen Analogien zur Geschichte des Nationalsozialismus dessen Kern nicht erfaßte. Sowohl die spätere Neuauflage als auch die Fernsehverfilmung von Heide Pils 1982 wurden von der Kritik nur mehr teilweise positiv aufgenommen.

1960 registrierte man in Österreich eine Welle des Neonazismus und Antisemitismus, zugleich aber begann man sich wieder auf die große Wiener jüdische Literatur zu besinnen und diese beim Namen zu nennen. Weigel sah sich veranlaßt zu reagieren und schrieb in der sozialistischen Wochenzeitschrift Heute eine Artikelserie mit der unglaublichen Überschrift „Es gibt keine Juden“. Dort schrieb Weigel klar, daß er zwar „ehrliche Sympathien für den Staat Israel“ empfinde, es aber ablehne, als ‚Jude‘ oder als ‚jüdisch‘ bezeichnet zu werden. Dagegen wäre noch nichts zu sagen, aber dann bestritt er dies auch für andere jüdische Autoren und Juden:

Es gibt also keine religiöse, keine nationale und keine rassenmäßige Handhabe, um österreichische, deutsche oder sonstige nicht-israelische Staatsangehörige ‚jüdisch‘ zu nennen. Der Antisemitismus aller Spielarten ist bestrebt, Unterschiede zu schaffen, wo keine sind ... Wenn wir also ohne Anführungszeichen ‚jüdisch‘ und ‚arisch‘ sagen ... erweisen wir dem Aberwitz der Nürnberger Gesetze unsere Reverenz und verhelfen der braunen Ideologie zu einem posthumen Triumph. [10]

Hier möchte ich hinzufügen, daß genau umgekehrt gerade das, was Weigel hier schrieb, diese Negierung der jüdischen Existenz und der jüdischen Kultur, eigentlich den Triumph des Nationalsozialismus bedeuten würde. Es war nicht möglich, die Geschichte zurückdrehen zu wollen — was psychologisch wohl der Grund für Weigels abstruse Haltung war, zu einer Zeit, wo man innerhalb der intellektuellen Kreise nicht unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Autoren, wo aber sehr wohl die jüdischen Autoren sich auch als solche entfalten konnten. Die Empörung über diese Aussagen Weigels war groß. Simon Wiesenthal schrieb:

Jüdischen Selbsthaß gab es schon lange vor Weigel und vor Hitler. Die Träger dieses jüdischen Selbsthasses überboten sich in giftigen ‚jüdischen‘ Witzen und Beschimpfungen von Juden und taten alles, um vor der skeptischen Umwelt zu beweisen, wie wenig sie mit dem Judentum verbindet. Diese Selbstnarkose nützte ihnen nicht. Im Gegenteil, als Hitlers Theorien zur Staatsgrundlage wurden, war die Tragödie dieser ‚Möchtegern-Nichtjuden‘ doppelt so groß.

Möge sich Hans Weigel von mir sagen lassen, daß sich gerade durch seine Artikelserie das alte jüdische Sprichwort bewahrheitet hat: ‚Solange der Tote weiß, daß er gestorben ist, ist er nicht gestorben.‘ Leider auch für uns nicht. [11]

Willy Verkauf Verlon, der jüdische und damals noch kommunistische Schriftsteller, Maler und Verleger empfand Weigels Artikel als einen „Freibrief für die Antisemiten jeder Sorte“, dessen Oberflächlichkeit zum Kotzen sei. [12] Am größten aber war wohl Torbergs Verärgerung. Er beschrieb nicht nur völlig richtig die Konsequenzen von Weigels Definition, sondern auch den Gegensatz zu seiner eigenen Haltung:

Wie ich der letzten Nummer des Heute entnehme, ist Hans Weigel drauf und dran, das Judentum abzuschaffen, also auf eine ’Endlösung’ hinzusteuern, die schon dem ‚Führer‘ vorgeschwebt hat. Einleitend vermerkt er, daß er mit 24 Jahren ‚aus der mosaischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten‘ ist und es ‚ablehnt‘, als Jude bezeichnet zu werden. Damit hat er fairerweise klargestellt, daß er nur für sich selbst spricht oder bestenfalls für jene Sorte von Juden, die keine Juden sein wollen (man bezeichnet sie vielfach als ‚Renegaten‘). Vielleicht interessiert es Ihre Leser, daß es daneben noch eine andere Sorte gibt, zu der auch ich mich zähle und die ihre jüdische Abstammung keineswegs als Makel empfindet, sondern als durchaus positive Bindung an eine altehrwürdige, historisch und ethisch fundierte Gemeinschaft. Ich wünsche Hans Weigel alles Glück bei seinem Vorhaben, nicht als Jude zu gelten, zweifle aber, ob er damit durchkommen wird. Zumindest bin ich noch niemanden begegnet, der ihn nicht für einen Juden gehalten hätte. Am Ende täte er doch besser, das Unvermeidliche mit Würde zu tragen. [13]

Torberg wollte nach diesem Artikel den Verkehr mit Weigel abbrechen, aber dies gelang ihm — was sehr österreichisch war — nicht. Denn Weigel, der große Versöhner, rächte sich an Torberg, indem er immer gut über ihn schrieb, und das habe ihn „wahnsinnig erbittert, nicht wirklich, aber fast wirklich.“ Einmal schickte ihm Torberg sogar ein Telegramm: „Warum machst Du mir’s so schwer, gegen Dich zu sein.“ In einem seiner vielen Nachrufe auf Torberg schrieb Weigel nicht nur, wie traurig er über den Bruch mit ihm war, sondern auch, daß er nie aufgehört hat, Torberg „sehr hoch zu schätzen“ und sich „ihm nahe, verbunden, ja verwandt zu fühlen.“ [14] In den fünfziger, siebziger und achtziger Jahren nahm Weigel in den Zeitungen Bild Telegraph, Kronen Zeitung und Kleine Zeitung mit der Kolumne In den Wind gesprochen und in unzähligen anderen Artikeln regelmäßig zu aktuellen politischen Themen Stellung und schrieb zum Beispiel: „Die Bevölkerung Österreichs besteht aus rund sieben Millionen Nicht-Nazis und dem Dr.Burger“ (ein bekannter neonazistischer Politiker) und klagte darüber: „man darf nicht ganz bescheiden und demokratisch und auf höchsteigene Verantwortung (und vor allem für das Publikum der Bundesrepublik Deutschland) die Meinung äußern: es gibt sozusagen keinen Antisemitismus in Österreich.“ [15] Gleichzeitig plädierte er immer wieder für mehr Zeitgeschichte in den österreichischen Schulen und lehnte mit eigentlich sehr einsichtigen Argumenten die amerikanische Fernsehserie Holocaust ab, statt der er das Tagebuch der Anne Frank empfahl

Gerade weil, leider, in unserer Zeit und vor allem bei unseren jüngeren Landsleuten (dran sind die Lehrer schuld!) so wenig über die Vergangenheit gewußt wird, muß die dringend wünschbare Verbreitung des Wissens nicht trüben Quellen vorbehalten bleiben. Experten der Zeitgeschichte, nicht Dramaturgen im Stil von Hollywood, haben die Nachgeborenen ... zu informieren. Denn wenn ein Unbefangener mit Recht eine Spielhandlung verlogen findet, liegt es nahe, daß er den ganzen Film mit Mißtrauen betrachtet und denkt: ‚So arg wird es schon nicht gewesen sein!‘ Diese Gefahr darf nicht unterschätzt werden. Gut gemeint — das genügt nicht. Nur einwandfreie Dokumente erzielen die angestrebte Wirkung. [16]

1967 nahm er in der Kronen Zeitung anläßlich des Sechstagekrieges für Israel in einem Artikel Stellung, der mit einem Spendenaufruf und der entsprechenden Kontonummer endete. [17] 1977 beschrieb er in einem Artikel die erschütternden Parallelen zwischen dem palästinensischen und dem jüdischen Schicksal, dessen Gleichartigkeit „viel eher Anlaß zur Solidarität, zur Verbrüderung als zur Feindschaft, zum Kampf wäre.“ [18] 1981 hatte sich jedoch das Blatt für Weigel gewendet und er reagierte auf die in der Tat ungeschickten und unqualifizierten Angriffe Begins auf den deutschen Bundeskanzler mit einem offenen Brief, der allerdings auch wieder einen schiefen Vergleich enthielt, den er in anderen Zusammenhängen oft und gerne wiederholte: „Wenn Sie Helmut Schmidt mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in Zusammenhang bringen, kommen Sie den Exponenten dieser Ära gefährlich nahe und sagen über ‚die Deutschen‘, was damals diese über ‚die Juden‘ gesagt haben.“ [19] 1882 erschien dann Weigels Kommentar zum Libanonkrieg mit der Überschrift „Begin ist ein mieser Faschist“ und mit dementsprechend drastischen Vergleichen: „Was im Libanon geschehen ist, geschieht nach dem Modell der spanischen Faschisten, des Überfalls von Mussolini auf Abessinien, von Hitler auf Polen, von Stalin auf Finnland und Südkorea, von Breschnew auf Afghanistan.“ Dann verstieg sich Weigel zu der Absurdität, seine Leser darum zu bitten, genau zu trennen zwischen allem Jüdischen und „allem, was mit dem Staat Israel zusammenhängt. Lassen Sie Baruch Spinoza und Ernst Bloch, Arthur Schnitzler und Alfred Polgar, Felix Mendelsohn-Bartholdi und Leonhard Bernstein nicht entgelten, daß Begin ein mieser Faschist ist.“ [20] Er übersah dabei, daß gerade Äußerungen wie seine, die die israelische Opposition gegen diesen Krieg mit keinem Wort erwähnten, nicht nur den Antizionismus, sondern in einem Land wie Österreich auch den Antisemitismus nur fördern konnten. Übrigens traute sich Weigel — um ihn wieder selbst zu zitieren — nicht, Israel zu besuchen — beziehungsweise war nicht neugierig und interessiert genug dafür — ähnlich übrigens wie sein Kollege Erich Fried, mit dem er in diesem Punkt viel gemeinsam hatte.

Weigel besaß auch die Würdelosigkeit, die apologetischen und heuchlerischen Memoiren des großen Schauspielers Werner Krauß, der im antisemitischen NS-Propagandafilm Jud Süß die Hauptrolle spielte, herauszugeben und hielt 1978 bei einer Preisverleihung die Laudatio für Erich Landgrebe, einst nicht nur ein bekannter NS-Schriftsteller, sondern auch der Ariseur des berühmten Wiener jüdischen Löwit Verlages. [21]

1986 veröffentlichte Weigel die beiden Bücher Man derf schon, eine mehr im Titel als im Inhalt fragwürdige Sammlung jüdischer Witze, die in Österreich selbstverständlich positiv rezipiert, von der jüdischen Öffentlichkeit — nicht weniger signifikant — ignoriert wurde und einige stereotype und falsche Details über die jüdische Religion, besonders die Stellung der Frau enthielt. [22] 1986, noch vor der Waldheim Affäre, erschien auf Anregung seines christlichen Verlegers Weigels Buch Man kann nicht ruhig darüber reden. Umkreisung eines fatalen Themas, das zur Gänze den Fragen „Jude oder Nichtjude, Antisemitismus und Zionismus, Assimilation, Emigration und Rückkehr, Widerstand und Mitläufertum im Dritten Reich“ (so der Werbetext des Verlags) gewidmet war als ein „Zeugnis wahrer Humanität im Rahmen seines jüdischen Schicksals“. In diesem Buch erneuerte er seine Kritik an Israel, wobei er sich auf Kreisky, den er auch sonst sehr schätzte und dessen Wahl er immer als einen besonderen Beweis für die Nichtexistenz des Antisemitismus in Österreich ansah, berief und den jüdischen Staat lächerlich machte: „Man kann aus einem Verein keinen Staat machen. Den Zionisten ein Territorium zu versprechen (um das sie dann auch noch kämpfen müssen!), das kommt mir genau so vor, als würde man den Psychoanalytikern oder den Zwölftönern ein Territorium in Niederösterreich als Staat zur Verfügung stellen.“ [23] Er betonte auch erneut, daß man sowohl aus einer Religionsgemeinschaft als auch aus einer Welt austreten könne, ohne diese zu verleugnen. Weiters schrieb er, daß der Holocaust keineswegs einzigartig war und daß es kein auserwähltes Volk gäbe. Die jüdische Tragödie verharmloste er mit Sätzen wie diesen: „Viele wären auch gern weggefahren und mußten zur Wehrmacht ... Sterben durch Hitler war schrecklich, aber leben unter Hitler war erlaubt.“ [24] Auch dieses Buch wurde in Österreich weitgehend positiv rezensiert. Wolfgang Kraus, der Gründer und langjährige Leiter der österreichischen Gesellschaft für Literatur, schrieb enthusiastisch: „In diesem Buch ist Weisheit, die nie unterstrichen, meist sogar nicht einmal ausformuliert wird, aber für den, der zu lesen versteht, kaum auszuschöpfen ist ... Ein Buch, das ich dorthin stelle, wo meine mir liebsten stehen.“ [25] Auch für Thomas Chorherr, den Chefredakteur der Tageszeitung Die Presse war das Buch ein eminent bedeutender Diskussionsbeitrag und Hubert Feichtlbauer, der frühere Chefredakteur der christlichen Wochenzeitung Die Furche schrieb, wie wohl dieses Buch tat. Nur Simon Wiesenthal meinte, daß Weigel seinen Austritt aus dem Judentum scheinbar erfolglos seit etwa fünfzig Jahren vollziehe. [26] Gerhard Bronner, den Weigel in seinem Buch als ein weiteres Beispiel von jemandem, der versöhnt zurückkam und vollintegriert wurde, erwähnte, fiel zu dem Buch der passendste Vergleich von einem Mann ein, der sich in einem Haus mit undichten Gasleitungen eine Zigarette anzündete. [27] Es waren nicht die großen Publizisten, sondern Schüler in einem Gymnasium in Deutschland, die, konfrontiert mit Weigels Buch und Bronners Kommentar die antisemitische Tendenz des ersteren am besten erkannten. Dazu drei Schülerzitate: „Zusammengefaßt ist Hans Weigel ein Mensch, der die Juden haßt, sie beschimpft und sogar noch ein Buch darüber schreibt.“ — „Ich bin der Meinung, daß Weigel, obwohl selber ein Jude, ein Antisemit ist. Die Texte wirken auf mich an vielen Stellen ganz klar antijüdisch.“ — „Jetzt gibt Weigel den Antisemiten die Möglichkeit, sich bei antijüdischen Äußerungen auf ihn zu berufen.“ [28] Obwohl dies alles Weigel nicht hinderte, positive Vorworte zu Büchern von Viktor Frankls Bericht über das Konzentrationslager, mit dem er nicht zufällig sehr befreundet war, und Simon Wiesenthal, zu dem er, als er von Kreisky diffamiert wurde, jedoch keine Stellung nahm, zu schreiben, blieb seine Grundtendenz klar. Sie zeigte sich auch in geschmacklosen Scherzen wie dem „Verein zur Abwehr des kritiklosen Philosemitismus“, dessen Stampiglie er Erika Weinzierl, Professorin für Zeitgeschichte und langjährige Präsidentin der Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich, sandte. [29] Für sein Buch Das Land der Deutschen mit der Seele suchend, in dem er unter anderen das „Andorra-Syndrom“, jene „Mischung aus Denkmalschutz und Narrenschutz“, die ein Jude in der Öffentlichkeit genieße, kritisierte, wurde Weigel auch von der rechtsextremen Deutschen Nationalzeitung Gerhard Freys, von der er sich auch interviewen ließ, begeistert gelobt. [30] Als Weigel, der wiederholt seine Verbundenheit mit dem Christentum zum Ausdruck brachte, sich aber nie taufen ließ, 1991 starb, ließ seine Witwe Elfriede Ott eine Messe für ihn lesen. [31]

Zu Friedrich Torberg:

Torberg, der als Sohn eines assimilierten jüdischen Fabriksdirektors in Wien und Prag aufwuchs, war seit seiner Jugend ein bewußter, zionistisch eingestellter Jude, der mit Israel, das er oft besuchte, sehr verbunden war. Bestimmt wurde seine Stellung zum Judentum durch den berühmten Wiener jüdischen Sportclub Hakoah. Ihm und seinen Siegen verdankte er das unschätzbare Glück, daß er sich niemals seines Judentums schämen mußte, sondern im Gegenteil von Kindesbeinen an darauf stolz sein konnte. [32] Auch später schilderte er noch oft diese große psychologische Bedeutung der Hakoah:

Wir wollen die antisemitische Lüge von der körperlichen Minderwertigkeit und Feigheit der Juden entlarven. Wir wollten beweisen, daß wir genau so kräftig und tüchtig und mutig sind, wie die andern. Dieser Beweis ist uns damals überzeugend gelungen. Seither wurde er uns vom Staate Israel und seiner Armee abgenommen. [33]

In den dreißiger Jahren schrieb Torberg unter anderen für das berühmte Prager Tagblatt und die von Felix Weltsch redigierte Prager zionistische Zeitung Selbstwehr. Dabei lernte er Max Brod kennen, dem er in erster Linie, wie er später dankbar schrieb, „eine nachhaltige Kräftigung und Vertiefung“ seiner „Haltung in jüdischen Dingen“ verdankte. Ähnlich einflußreich als geistige Mentoren waren für Torberg nur noch Martin Buber und Ludwig von Ficker. [34]

Im Exil in den USA schrieb Torberg mit Kaddisch 1943 und Seder 1944 einige der schönsten jüdischen Gedichte unserer Zeit. Sein 1939 entstandenes Gedicht Kurzgefaßte Lebensgeschichte des Friedrich Israel Torberg, geschrieben zur Feier seines 57. Geburtstages auf der Wanderschaft in einer französischen Armeebaracke, ist eines der beeindruckendsten Zeugnisse der kollektiven jüdischen Identität.

1942 schrieb Torberg die Erzählung Mein ist die Rache, die Geschichte des Rabbinatskandidaten Joseph Aschkenasy", die der Binnenerzähler dem Rahmenerzähler im Hafen von New York erzählt, der im Konzentrationslager Heidenburg den Lagerkommandanten Wagenseil, der durch unmenschliche Torturen jüdische Häftlinge in den Selbstmord trieb, erschießen und danach fliehen konnte. Die Erzählung schildert auch die Diskussionen im Lager über die Frage, ob der Mensch das Recht zur Rache habe oder ob er sie, wie es in der Torah heißt, Gott überlassen müsse. Voller Schuldgefühle wartet Aschkenasy, der weiß, daß durch seine Tat keiner seiner Kameraden überleben konnte, in New York darauf, ob es nicht vielleicht doch einem von ihnen gelungen sei, nach Amerika zu entkommen. Im Häftling Landauer, der nach furchtbaren Folterungen starb und Wagenseils Befehl, Selbstmord zu begehen, verweigerte schildert Torberg den von seiner Tradition entfremdeten Juden. Landauer war nahe daran, Wagenseil umzubringen, und Aschkenasy sagte über ihn nach seinem Tod:

Es ist gut, daß er es nicht getan hat. Es ist gut, daß sein Opfer rein geblieben ist vor dem Herrn. Mein ist die Rache und die Vergeltung, spricht der Herr. [35]

Wagenseil war ein Antisemit im engsten Sinn des Wortes, der alle Phrasen von der jüdischen Weltverschwörung doch, aber auch sagte, daß die Juden gar keine Wahl hätten, gut oder böse zu sein. Ebenso sprach Aschkenasy wiederholt davon,

wie auswegslos wir auf die göttliche Rache angewiesen wären? Und daß wir nur um ihretwillen noch lebten? Nur weil wir keine Wahl hatten — das war es: keine Wahl zwischen unsrer Rache und der Rache des Herrn? Und also dem Herrn die Rache überließen, und also ‚gut‘ waren, ob wir wollten oder nicht? [36]

Einer der Höhepunkte der Erzählung ist das innere Ringen zwischen dem Icherzähler und Aschkenasy um die Gültigkeit dieses Prinzipes der jüdischen Ethik und Geschichte auch in dieser Situation:

Man muß sich entscheiden, werde ich ihnen sagen. Es ist nicht so, wie Aschkenasy gesagt hat: daß wir keine Wahl haben. Nur unsere Feinde glauben das und unsere Verfolger, ich weiß es, einer von ihnen hat es mir selbst gesagt. Und das ist es auch, was sie so sicher macht: daß wir immer nur auf die göttliche Rache vertrauen, immer nur, immer wieder, immer noch, seit Jahrtausenden. Aschkenasy hat euch gesagt: dies ist unser Sieg, und darumsind wir noch am Leben. Gut, wir sind am Leben, es läßt sich nicht leugnen. Aber woher wissen wir, daß wir anders nicht mehr am Leben wären? [37]

Der Icherzähler setzte fort, daß seine letzten klaren Gedanken, bevor er auf Wagenseil schoß, waren: „Ich habe die Wahl und Mein ist die Rache.“ [38] Und danach kommentierte er:

Ich hätte mich ja nachher sofort selbst erschießen müssen. So war es ja nicht gemeint: daß ich nachher fliehe. Ich wollte ja nur die Wahl nachholen, die von Landauer auf mich übergegangen war. Ich wollte Selbstmord begehen, und vorher noch jenen umbringen. So war es ja nicht gemeint: daß ich ihn umbringe, um mein Leben zu retten ... Ich hatte die Wahl, und ich habe falsch gewählt. Ich habe Rache genommen, und meine Rache wird gerächt werden. Denn Mein ist die Rache, spricht der Herr ... Der Rabbinatskandidat Joseph Aschkenasy hat es gewußt. Und er hat auch gewußt, daß es auf das Opfer ankommt. Ich aber habe dem Herrn die Rache entwunden, und habe Ihm nicht einmal das Opfer gebracht, das Ihm gebührt. Das, sehen Sie, das hätte Ihn vielleicht besänftigt. Ihn, und die Geißeln, die Er über uns geschickt hat. Wenn ich mich umgebracht hätte — das hätte meine Gefährten vielleicht gerettet.

Der letzte Satz der Erzählung lautet: „‚Ich bin Joseph Aschkenasy‘, sagte er“. [39] Damit enthüllt sich das Ringen um Rache und Widerstand zwischen dem Icherzähler und Aschkenasy als ein Selbstgespräch und als die Skrupel und Zerrissenheit eines einzigen Menschen, der sowohl als religiöser Jude als auch als Häftling in einem Konzentrationslager handelte.

Hermann Broch beschrieb 1943 in einem Brief an Torberg am beeindruckendsten die ethische Bedeutung und Substanz dieser Erzählung gerade im Jüdischen:

Denn Ihr Geschichtel ist ganz ausgezeichnet. Indes, so außerordentlich die künstlerische Leistung ist, zu der Sie da vorgedrungen sind ... ich brauche doch nicht ohnweiters nachzugeben und darf diese Qualitäten ungeachtet ihrer Stärke beiseite schieben, weil mir eine andere, nämlich die ethische, wesentlich wichtiger ist: daß Sie die stillschweigende Übereinkunft der Juden zur non-resistance hervorgehoben haben, diese unheimlichste ihrer ungeschriebenen Gesetzestraditionen, der sich alle Juden, von wo immer sie herstammen, gleichgültig ob mutig oder feig, zu fügen haben und fügen, das kann Ihnen gar nicht hoch genug angerechnet werden; hier liegt das spezifisch Unheidnische des jüdischen Schicksals, und von hier aus weist es in die Zukunft. [40]

Von 1943 bis 1946 schrieb Torberg den Roman Hier bin ich mein Vater, der erstmals 1948 im Verlag Bermann-Fischer in Stockholm erschien, aber nur in Österreich und der Schweiz, nicht in Deutschland ausgeliefert wurde, da nach Meinung des Verlages das deutsche Lesepublikum noch nicht reif für ihn genug war. [41] Das Buch, das für Robert Neumann der erschütterndste Emigrantenroman war, den er kannte, beschreibt die Geschichte des Wiener Juden Otto Maier, der zu einem Nazispitzel wurde, weil ihm versprochen wurde, daß daduch sein Vater aus dem Konzentrationslager befreit werden würde. [42] Auch hier geht es wieder um die Frage der Schuld und der Sünde, die Maier vermeintlich deswegen auf sich nahm, um seinen Vater aus der Hölle zu retten.

Maier hat seinen Vater, den er als einen guten Menschen beschreibt, der sich als Arzt der jüdischen Gemeinde in der Zeit der Verfolgung gratis zur Verfügung stellt, geliebt. Als er in das KZ Dachau kommt, gerät Maier in eine fatale psychologische Abhängigkeit zu seinem einstigen Schulfreund Macholdt, nun ein höherer SS-Führer, der ihm versprach, sich für die Entlassung seines Vaters einzusetzen, das heißt, wie er sich ausdrückte, diese als Gegenleistung einzukassieren, wenn er dafür etwas Außergewöhnliches bekäme. [43] Auch als nach längerer Zeit, in der Maier ihn mit Hinweisen versorgt, nicht geschieht, erscheint es ihm als „ganz natürlich, daß Macholdt, ehe er sich mit seiner Gegenleistung einstellte, ein Höchstmaß von Leistung aus mir herausschinden wollte. Und dieses Höchstmaß hatte ich eben noch nicht erreicht.“ [44] Dann fand eine Freundin von Maier heraus, daß sein Vater in Dachau verstorben war und konfrontiert ihm mit dieser bitteren Wahrheit. Maier konnte es erst glauben, als er den Brief der Lagerverwaltung sah. Aber auch danach beschließt er, das Spiel weiterzuspielen. Macholdt sendet ihn nach Paris, um einen letzten Auftrag zu erfüllen und dabei fragt ihn Maier direkt, ob er ihn nicht zum Narren halte, und erhält zur Antwort, daß sein Vater, wenn die Sache in Paris klappe, binnen vierundzwanzig Stunden bei ihm sein werde. Maier dachte sich danach ein Wunschbild der Vergeltung und der Entsühnung, einen persönlichen Ausweg aus, den in Paris in die Tat umsetzten wollte. Er plante, in den französischen Geheimdienst einzutreten und gegen die Nazis zu arbeiten.

An einer Stelle des Romans läßt Torberg Maier den eigentlichen Grund für seine Handlungsweise meisterhaft formulieren. Die Geschichte des Nazispitzels erweist sich damit als die exemplarische Tragödie eines assimilierten Juden, dem das Judentum nichts mehr bedeutet und der statt dessen die Werte der antisemitischen Umwelt angenommen und internaisiert hat:

Immer und seit je ist es mir doch nur darum gegangen, von den andern, die keine Juden waren, so behandelt zu werden, als ob auch ich keiner wäre; so behandelt zu werden, wie ein normaler Mensch. Nämlich: wie ein nach Ihren Begriffen normaler Mensch. Das war der kleine Denkfehler, der mir dabei unterlief: daß ich mich immer nach ihren Begriffen gerichtet habe. Es ist mir nie der Gedanke gekommen, daß mit diesen ihren Begriffen etwas nicht stimmen könnte. Ich habe mein Judentum immer als Defekt akzeptiert, und die es mich fühlen ließen, immer als Ankläger. Ich habe nie zu vermuten gewagt, daß da vielleicht die Ankläger selbst an einem Defekt litten. [45]

Der späte Höhepunkt des Romans ist das Gespräch zwischen Maier und seinem alten Religionslehrer Jonas Bloch, der einst in der Schule nicht ernst genommen wurde. Bloch wollte ihm nicht, wie Maier vermutete, sagen, daß er ihn für einen Lumpen hielt, er bestätigte auch nicht alle harten Selbstvorwürfe Maiers, sondern er wollte ihm einfach mitteilen, daß er sehe, wie er leide, und daß er mit ihm leide. Dann versucht Maier doch seine Handlungsweise — mit nicht ganz unzutreffenden Argumenten — zu rechtfertigen und lehnt sich damit wieder gegen die Situation des jüdischen Volkes auf:

Wir nicht. Nur die andern. Die dürfen mit den Nazi paktieren. Die dürfen ihren Staatsmännern auch noch zujubeln, wenn sie ihnen den Pakt schriftlich nach Haus bringen. Und die sind also nicht verächtlich. Aber ich, nicht wahr, ich bin ein Schandfleck und ein Aussatz. Weil es mir um keine Kolonien gegangen ist und um keinen Welthandel und um keinen ungestörten Rentenbezug — sondern nur um das Leben meines Vaters. So ist das doch ... Daß gerade wir, die Schwächsten von allen — gerade wir, die von allen verfolgt und getreten werden — daß gerade wir Juden immer zu einer höheren Moral verpflichtet sein sollen. Gegen diese Verpflichtung wehre ich mich. [46]

Bloch versucht daraufhin, seinem einstigen Schüler die so völlig andere, eben nicht nach den Maßstäben dieser Welt, der Normalität und ihrer Gewalt, nach der Maier sich orientierte und die er für sich erstrebte, metaphysische Situation des Judentums zu erklären:

Merkst du nicht, daß einer, der sich gegen eine moralische Forderung auflehnt, sie gerade dadurch schon anerkennt? Ob du willst oder nicht: auch du bemühst dich um diese höhere Moral, die man von uns Juden verlangt — und die wir selbst von uns verlangen müssen, immer, und wenn wir in Not und Verzweiflung sind, dann erst recht. Anders können wir Not und Verzweiflung ja gar nicht bewältigen ... Wir wehren uns ja gerade mit unsrer Moral. Gerade mit unsrem Glauben daran, daß eines Tags Moral vor Gewalt gehen wird. Daß eines Tags ... das Gute über das Böse siegen wird ... vielleicht werden eines Tages die andern unsre Moral haben. Das ist möglich. Aber daß wir eines Tags ihre Gewalt hätten, ist unmöglich. Dagegen hat Gott für alle Zeiten vorgesorgt. Wir werden heimkehren nach Zion, wir werden den Tempel bauen — und werden ihre Gewalt nicht haben, sondern immer nur unsre Moral ... Und das ... ist unsre Auserwähltheit. Nicht daß wir besser wären als die andern — nur daß es uns leichter ist, gut zu sein. Damit es uns aber allzu leicht sei, werden wir verfolgt.

Am Ende konnte auch Bloch Maier in seiner Verzweiflung nicht helfen und sagte ihm, daß niemand die Macht dazu habe, aber auch niemand das Recht, ihn zu verurteilen. [47] Kurze Zeit nach diesem Gespräch wurde Maier von den französischen Behörden verhaftet; seine Kontaktpersonen zum französischen Geheimdienst erwiesen sich als Betrüger und sein letzter Ausweg war damit gescheitert. Das Buch ist wieder ein Binnenroman; der Bericht Otto Maiers, der im Gefängnis Selbstmord beging, wird 1946 in Paris einem Emigranten zum lesen gegeben.

Das Erstaunliche an diesen beiden Werken, die so tiefgründig die Prinzipien und Gesetze des Judentums in der Zeit seiner schlimmsten Verfolgung und in der inneren Zerrissenheit des einzelnen darstellten, war, daß Torberg sie zu einer Zeit geschrieben hatte, in der er noch nicht das wahre Ausmaß der jüdischen Katastrophe und der Zustände in den Konzentrations- und Vernichtungslagern kannte. Die Handlungen der beiden Bücher, die so realistisch die Zeit schilderten und deren Wahrheitsgehalt sich später so bestätigte, wurden von Torberg frei erfunden und beruhten auf keiner Vorlage oder Begebenheit in der Realität. Ja Torberg war erschüttert darüber, als er nach dem Krieg erfuhr, daß es Nazispitzel wirklich gegeben hat. [48]

Der nichtjüdische österreichische Schriftsteller Herbert Eisenreich, dem wir einige der wichtigsten Deutungen von Torbergs Werk verdanken, war es auch, der am besten diesen eminent und besonders jüdischen Charakter dieser beiden Bücher, aber auch das ethische Grundprinzip und den geistigen Sieg des Judentums über den Nationalsozialismus beschrieb:

In diesen Büchern seiner mittleren Jahre steht Friedrich Torberg schlechthin buchstabentreu auf den sittlichen Fundamenten des Judentums, als da sind: das Gesetz, und Recht und Gerechtigkeit, und die Selbstkritik; all dies verstanden als Mittel zum Zwecke des Heils der Menschheit ... Das eigentlich Ungeheuerliche der Zeit um 1945 war nicht die Ermordung, genauer: die nüchtern planmäßige Vertilgung von fünf Millionen Juden (sic) ... Das eigentlich Ungeheuerliche war die Reaktion der überlebenden Juden. Andere Völker, die unter dem nazistischen Terror gelitten hatten ... sie alle haben Vergeltung geübt, und zwar ohne die Frage nach Schuld oder Unschuld, und manchmal bis zum Exzeß. Das Böse, das ihnen angetan worden war, hat das in ihnen schlummernde Böse evoziert ... Allein die Juden, obwohl sie weitaus am meisten gelitten, haben dem unvorstellbaren seelischen Druck, nun Rache zu üben oder auch nur nach Rache zu rufen, praktisch ausnahmslos standgehalten. Ja, mehr noch: Juden waren an karitativen Maßnahmen für die hungernden, frierenden Deutschen führend beteiligt. Juden sind ins zerstörte Deutschland zurückgekehrt, um zu helfen: beim Wiederaufbau, und mehr noch beim Wiedergewinn nationaler Selbstachtung. Juden haben den Deutschen den Weg geebnet zurück in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker ...

Hitler und seine Mordbuben haben der Judenheit zwar eine biologische, nicht aber eine moralische Katastrophe zufügen können. Die moralische Katastrophe hat die Christenheit erlitten ... Die Juden haben die ihre — im doppelten Wortsinn: bei Gott — selber bewältigt, und obendrein beispielhaft. [49]

Der Roman Hier bin ich mein Vater wurde in Österreich 1958 von Ernst Schönwiese und Joseph P. Strelka als Hörspiel mit Otto Schenk, Hermann Thimig und Guido Wieland dramatisiert und 1970 für das Fernsehen mit der Starbesetzung mit Erika Pluhar, Peter Vogel, Helmut Lohner, Otto Schenk und Kurt Meisel verfilmt. [50]

Torberg sah im Nachkriegsösterreich seine öffentliche Aufgabe und Funktion explizit darin, als letzter deutsch-jüdischer Schriftsteller, (womit er sich zum Glück geirrt hatte) der die unwiderruflich zerstörte deutsch-österreichisch-jüdische Symbiose, die er in den beiden authentischen und vielgelesenen Anekdotensammlungen Die Tante Jolesch und Die Erben der Tante Jolesch beschrieb, zu bezeugen: „Wenn ich überhaupt noch eine jüdische Funktion habe, dann ausschließlich die, mein öffentliches Wirken so zu gestalten, daß möglichst viele Nichtjuden den Tod des letzten deutsch-jüdischen Schriftstellers als Verlust empfinden; ob trauernd oder aufatmend ist mir gleichgültig, sie sollen nur merken, daß etwas zu Ende gegangen ist, wofür sie keinen Ersatz haben ...“ [51]

Auch sein großes Alterswerk, der Roman Süßkind von Trimberg, den er bereits Jahrzehnte früher konzipiert hatte, war als das zeitlose Gleichnis eines jüdischen Schriftstellers in der ihm fremden, deutschsprachigen Umwelt einem explizit jüdischen Thema gewidmet. Als „Jud vom Dienst“, wie er sich ebenfalls bezeichnete, nahm er bei zahllosen Veranstaltungen und Anlässen zu seinem und zum Erbe des europäischen Judentums und zum Staat Israel Stellung, ja „es gab“, wie das B’nai Brith Journal nach seinem Tod schrieb, „keinen Vortrag, kein Interview, keine Fernsehübertragung, in welcher Torberg seine Zugehörigkeit zum Judentum nicht betont und herausgestellt hätte.“ [52] Die vielgelesene vernichtende Kritik der fragwürdigen jüdischen Witzesammlung Salcia Landmanns und sein Vortrag über das philosemitische Mißverständnis waren weitere Höhepunkte seines jüdischen Engagements. Noch in seinem Todesjahr 1979 besuchte Torberg zum zum letzten Mal Jerusalem auf Einladung Teddy Kolleks und wohnte drei Wochen lang im offiziellen Gästehaus der Stadt.

Die Wiener jüdische Gemeinde und die Wiener B’nai B’rith waren nicht umsonst besonders stolz auf ihr prominentes Mitglied und schrieben anläßlich der Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises: „Durch diesen Großen Staatspreis für Friedrich Torberg wird ein Werk geehrt, ... dessen Wirkung nicht zuletzt auch das Ansehen der jüdischen Gemeinde, der unser Dichter und Autor angehört, vermehren und in alle Welt tragen wird.“ [53] Und Anton Pick, der damalige Präsident der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde, schrieb anläßlich von Torbergs siebzigstem Geburtstag: „Wir sehen in Torberg den letzten in der Reihe der jüdischen Romanciers in Österreich, wir achten in ihm den bewußten Juden, der in deutscher Sprache schreibt, wir schätzen in ihm den Mann, der zwei Epochen jüdischen Lebens in sich vereinigt und der die Brücke bildet zwischen einer alten und einer neuen Zeit des europäischen Judentums.“ [54]

Wie ich zu zeigen versuchte sind in den beiden exemplarischen und extremen Fällen Hans Weigel und Friedrich Torberg die beiden gegensätzlichen Möglichkeiten der jüdisch intellektuellen Existenz im deutschen Sprachraum unter den Bedingungen der Zeit nach Auschwitz, die der Anpassung und Selbstverleugnung oder die des Selbstbewußtseins und der jüdischen Selbstverwirklichung, genau verwirklicht und aufzeigbar.

[1Franz Patzer, Walter Obermaier, (Hg), Hans Weigel, Leben und Werk, Wien 1988, S.17

[2Das Land der Deutschen mit der Seele suchend, 1983, S.67

[3Weigel an Torberg, 28.2.1946, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Nachlaß Friedrich Torbergs.

[4Weigel, Liebe Freunde, Ende April 1946, Nachlaß Torberg

[5Friedrich Torberg, In diesem Sinne, Briefe an Freunde und Zeigenossen, Berlin 1988, S.413/414

[6Weigel an Torberg, 12.7.1946

[7Torberg an Weigel, 24.7.1946

[8Weigel an Torberg, 16.8.1946

[9Der Neue Weg, 1.2.1946; Wiener Kurier, 13.10.1945

[10Der Neue Weg, 1.2.1946; Wiener Kurier, 13.10.1945

[11Heute, 26.3.1960

[12Heute, 19.3.1960

[13Heute, 13.3.1960

[14Kleine Zeitung, 8.5.1988, profil, 19.11.1979

[15Kleine Zeitung, ohne Datum, Sammlung Viktor Matejka, Wien, Literaturhaus

[16Kleine Zeitung, 4.2.1979

[17Kronen Zeitung, 7.6.1967

[18Kleine Zeitung, 23.2.1977

[19Kleine Zeitung, 5.5.1981

[20Kleine Zeitung, 13.6.1982

[21Salzburger Tagblatt, 30.1.1978

[22Man derf schon, Graz, 1986, S.93

[23Man kann nicht ruhig darüber reden, Graz, 1986, S.110

[24Ebd., S.12, 52, 127

[25Die Welt, 30.8.1986

[26Die Furche, 29.8.1986

[27Weigel 1986, S.15, profil, 5.9.1986, nachgedruckt auch in Gerhard Bronner, Kein Blattl vor’m Mund, Wien 1992

[28profil, 20.10.1986

[29Hans Weigel, Abendbuch, S.67, Tausend Todsünden, S. 31

[30Hans Weigel, Das Land der Deutschen mit der Seele suchend, 1983, S.130. Deutsche Nationalzeitung, 23.12.1983

[31Parte von Hans Weigel, Sammlung Literaturhaus

[32Arthur Baar, Hakoah, Zürich, S.278

[33Torberg in Brith Hakoah, Ramat Gan, Dezember 1974

[34Max Brod, Der Prager Kreis, Frankfurt am Main 1979, S.196

[35Friedrich Torberg, Mein ist die Rache, in: Golems Wiederkehr, München, 1968, S.38

[36Ebd., S.56/57

[37Ebd., S.67

[38Ebd., S.73

[39Ebd., S.75

[40Friedrich Torberg, In diesem Sinne ..., Berlin 1988, S.23

[41Friedrich Torberg an Peter André Bloch, 28.1.1975, Nachlaß Torberg, Wiener Stadt- und Landesbibliothek

[42Robert Neumann, Deutsche Post, Nr 7, 1970

[43Friedrich Torberg, Hier bin ich mein Vater, Frankfurt am Main, 1966, S.121

[44Ebd., S.164

[45Ebd., S.234

[46Ebd., S.241

[47Ebd., S.242-245

[48Alfred Joachim Fischer, Interview mit Friedrich Torberg, Berliner Allgemeine jüdische Wochenzeitung, September 1988

[49Herbert Eisenreich, in: Der Weg war schon das Ziel. Festschrift für Friedrich Torberg, hrsg. von Joseph P. Strelka, München 1978, S. 46-49

[50Nachlaß Friedrich Torbergs, Mappe 8/1, Wiener Stadt- und Landesbibliothek

[51Friedrich Torberg, In diesem Sinne ..., an Max Brod, 1955, S.75

[52B’nai B’rith Journal, Nr.7, Jänner 1980

[53Das jüdische Echo, Nr.1, Vol. XXVIII

[54Gemeinde, 20.9.1978

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