FORVM, No. 179-180
November
1968

Für eine gerechte Doderer-Fama

Seine Beisetzung, die einem Staatsbegräbnis glich, war bereits Teil einer entstehenden Legende, war fürstlich, formvoll und fromm. Nie, sagte man, sei einem österreichischen Dichter von den Zeitgenossen so viel Ehre erwiesen worden; an Doderer habe man wieder gutgemacht, was an den vielen Schriftstellern von Grillparzer bis Musil gesündigt wurde. Der Unterrichtsminister kam am Grab eigens auf den Beitrag dieses Autors zur „Wesensbestimmung des Österreichers“ zu sprechen — der Vertreter der Zweiten Republik erwies dem Mann der Feder damit die offizielle Reverenz für seine Bemühung um das Selbstverständnis Österreichs. Diese Geste war bedeutsam und bezeichnend, galt sie doch dem Dichter, der mit seinen literarischen Mitteln Österreich vielleicht treffender repräsentiert hatte, als es die Staatsbürokratie mit all ihren Empfängen und Reden je konnte.

So weit, so würdig. Der Abschied liegt zurück, der Nachlaß beginnt zu erscheinen, die Fama von dem großen österreichischen Dichter gewinnt an Konturen. Welche Konturen? Doderer war eine komplexe Schriftstellergestalt, und die Frage ist angebracht, in welches Schubfach man ihn nun hineindrängt. In den Nachrufen und Kornmentaren kommt es noch deutlicher zum Ausdruck: Doderer wird zu einem Synonym für Österreich gemacht, man fühlt sich bei ihm wieder in der farbenvollen Tradition, seine Bücher verewigen jene übernationale Substanz des Donauraumes, die mit dem Fall der Monarchie nur scheinbar verlorenging. In Rezensionen und Feuilletons über Österreich nımmt man die Strudlhofstiege, die Dämonen, die Wasserfälle von Slunj zur Richtschnur, um Wirklichkeit und Totalität des Österreichischen aufzuweisen. Man stellt Doderer in die Reihe der Hofmannsthal, Kafka, Schnitzler, Kraus, Roth, Musil und Broch, in denen sich der Genius dieser Landschaft literarisch versammelte, als Erbe und Vertreter einer Epoche, die spätestens mit Maria Theresia begann und mit dem Glanz des übernationalen Reiches noch das erste Drittel des 20. Jahrhunderts beleuchtete. Man hält sich an ihn als den Garanten einer unverminderten Lebendigkeit österreichischer Form und Daseinsweise, weil er seine Bücher fast nur in Österreich spielen ließ, nimmt ihre Aussage für eine Chronik jener Lebensart und Geistigkeit, wie sie scheinbar schon Hofmannsthal in seinen Schriften gegeben hatte, bis hin zum Schwierigen. Man geht zurück bis Grillparzer und Nestroy, um diese Tradition zu fixieren, und nimmt von ihm das alte Österreich in gleicher Weise wie von Musil, Roth und Herzmanovsky entgegen.

Für einen Staat, dem es seit Jahrhunderten schwergemacht wird, ein Verständnis seiner selbst zu finden, ist dies nicht abwertend gemeint. Sowohl die Erste wie die Zweite Republik brachten viel Zeit damit zu, eine Repräsentation dessen zu finden, was Österreich nach dem Untergang der Doppelmonarchie eigentlich darstelle, und es kann nur positiv stimmen, wenn man dort, wo die staatlichen Symbole schwach erscheinen, einen Künstler zum Kronzeugen anruft. Ohnehin gilt auch sein Ruf nicht uneingeschränkt. Das Umständliche, fast Schrullige seiner Sprache, die enge Verwandtschaft seiner Stoffe mit Wiener Gesellschaftsklatsch, die merkwürdige Typik seiner Figuren haben ihm gerade auch in seinem eigenen Land und Umkreis viel Kritik eingetragen, man verübelte ihm, die Österreicher nun gerade in dieser merkwürdigen Weise im Gemälde zu fixieren. Dazu kommt die Blickrichtung auf Wien, und man hat ihn in den Provinzen, wo man sich viel unter Tirol oder Steiermark, jedoch wenig unter Österreich vorstellt, den Wienern gern abgetreten, als einen Lokalautor, so, wie man selber dergleichen besitzt.

Nicht uneingeschränkt lebt also sein Ruf als Verkörperer jenes „modus austriacus“, den er selbst häufig im Munde führte. Es ist nicht leicht, allen gerecht zu werden, und Doderer hätte als eigenwilliger Mensch gesagt: es ist auch gar nicht notwendig. Immerhin läßt sich feststellen, wenn man sein Werk überblickt, daß er sich sehr bewußt um die besondere Aussage über Österreich bemüht hat, auf die er seit der Geschichte seines noch jungen Ruhmes festgelegt wird. Aus expressionistischen Anfängen herauswachsend und mit den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit belastet, sprachen seine Publikationen zunehmend intensiv von diesem Thema, und Doderer als Tagebuchschreiber, Romancier, Essayist und Redner bewegte sich durchaus aktiv und überlegt an diese vordere Front der Österreichbesinnung und -pflege. Man kann sagen, daß er damit in der Tat mehr Erfolg hatte als irgendeiner der genannten Schriftsteller; weder Hofmannsthal noch Musil erzielten Breitenwirkung und waren sicherlich auch nicht in diesem Sinne an einer Darstellung bestimmter Lokalität interessiert. Er hatte mehr Erfolg, und das ist, auf einer solch „seriösen“ Grundlage wie der seiner Romane (und nicht mit Musik- oder Theaterkunst), in Österreich gewiß ein Phänomen von eigenem Wert.

Er hat auf diesen Erfolg lange genug warten müssen. War er auch in Wien einem kleinen Kreis vertraut genug, so dauerte es doch bis zur Veröffentlichung der Strudlhofstiege und der Dämonen, daß er zu dieser Anerkennung gelangte. Bezeichnenderweise lief sein Ruhm über das Ausland, vornehmlich Westdeutschland, in seine Heimatstadt zurück; im Ausland kamen seine Bücher der Welle des erwachenden Interesses für die Donaumonarchie gerade gelegen. Und hierauf sei verwiesen, wenn gefragt wird, ob die Richtung, in die seine Fama läuft, seinem Werk gerecht wird. Auch wenn er selbst bewußt aktiv den übernationalen und überzeitlichen Aspekt Österreichs in vielen Äußerungen gepflegt hat, ist fraglich, ob damit ganz ausgeschöpft ist, was er eigentlich vertreten und geschrieben hat, und wofür er im literarischen Rückblick der Jahrhundertmitte einzustufen ist. Das Echo aus dem Ausland, das in ihm nur zu gern (ob es ihn nun verstand oder — viel häufiger — nicht verstand) die Inkarnation des überzeitlichen Österreich sehen wollte, trieb und treibt manche Einheimische nur zu schnell zu jenen Formen der Verehrung an, in denen er, sit venia verbo, einer heiligen Kuh ähnlich wird, die, um das gewagte Bild zu vollenden, gemolken wird, wenn immer es um Österreich und seine Unverwechselbarkeit geht.

Um dessentwillen, was Doderer in seinem Werk wirklich gestaltet hat, sei darum nach einer gerechten Fama gefragt. Denn es ist nicht nur der Preis und die chronistische Fixierung eines angenehm-tiefgründigen Österreich, das man für Festreden und literarische Feuilletons braucht. Doderer ist in einem viel „realeren“ Sinne Österreicher, als er selbst glauben ließ. Allerdings ist er es dort, wo er nicht den bewußten „modus austriacus“ ausspielte. Er ist es als ein Zeitgenosse der Zwischenkriegsperiode und der Nachkriegszeit, der sich mit den politischen und gesellschaftlichen Bewegungen ehrlich herumschlug, und der — was für die Intensität seiner Auseinandersetzung zeugt — darüber in seinen Romanen den anderen Zeitgenossen mit aufgehobenem Zeigefinger ins Gewissen redete. Die Dämonen, die ihm vollends Anerkennung verschafften, sind nun einmal von seiner politischen Verirrung in den dreißiger Jahren nicht zu trennen, sie sind das Zeugnis für die Rückgewinnung des Heimito von Doderer aus den Klauen des Nationalsozialismus. Woran er nach seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft nach dem enttäuschenden Ersten Weltkrieg im politisch bewegten Mitteleuropa teilnahm, was er bis zu einem extremen Grade an gesellschaftlicher Ideologie akzeptierte, was er dann abschüttelte und durch neue Bindung ersetzte, und wohin er nach dem Brand der deutschen Militärmaschinerie geistig und moralisch im Nachkrieg gelangte, das ist für sein Bild viel wesentlicher als der Duft jener Rosa chymica austriaca gewisser rhetorischer Beschwörungen.

Seminarfähige Menschwerdungen

Doderers zentrale Werke sind die Strudlhofstiege und die Dämonen, beide in den fünfziger Jahren erschienen, beide die Zwischenkriegszeit reflektierend. Es sind historische Romane, die jedoch das Historische unter einem sehr distanzierten Form- und Moralraster erscheinen lassen. Die überaus große Aufmerksamkeit, die er der genauen geographischen und zeitlichen Fixierung widmet, führt in die Irre, wenn man sich allein bei ihr aufhält. Mit einer Vielzahl von Romangestalten, die eine persönliche „Menschwerdung“ erleben und seelisch-moralisch „geheilt“ werden, zielt der Autor über die Historie hinweg auf einen ungeschichtlichen Bereich. Die Zeitchronik bleibt im Hintergrund, wenn es um die „Menschwerdungen“ von Leonhard Kakabsa, Major Melzer, René von Stangeler, Kajetan von Schlaggenberg, Mary K. und Jan Hertzka geht. Was wie ein Panorama der Ersten Republik aussieht, wird mit diesen Gestalten zu einem Panorama privater Verirrungen und Heilungen, das weniger spezifische Zeiterscheinungen der zwanziger Jahre bloßlegt, als Allgemeingültiges über die „ideologische“ Gefährdung des einzelnen aussagt. Es handelt sich keineswegs, wie von der Kritik immer wieder behauptet wurde, um ein Totalpanorama Wiener, geschweige denn österreichischer Gesellschaft, vielmehr ist eine schmale Schicht gehobener (und etwas verspäteter) Wiener Bürgerjugend geschildert, die auch mit einigen hinzugehörigen Handwerkern, einem bildungswilligen Arbeiter und einigen teils verbrecherischen, teils erschreckten Kleinbürgern für die in Bewegung gekommene Gesellschaft jener Jahre nicht repräsentativ angesehen werden kann. Führt man diese Perspektivenverengung auf ihren autobiographischen Ursprung zurück, dann wird sie verständlich, verliert aber die Erweiskraft für die österreichische Historie, die ihr zu oft nachgesagt wird. Die Lokalisierung um den Justizpalastbrand wirkt als treffende geschichtliche Pointe, ist aber keineswegs so breit dimensioniert, daß sie das politische Geschehen in Österreich beispielhaft umschlösse. Im Gegenteil: sie lenkt den heutigen Leser von den eigentlichen Ereignissen ab, indem sie gar nicht in historischen Kategorien verwandt ist, sondern in ganz eigentümlich moralischen. Das bedarf einer genaueren Erläuterung, zumal moralische Absichten im allgemeinen einer positiven Wertung sicher sein können.

Wenn man die privaten „Menschwerdungen“ in ihrem Verhältnis zu den öffentlichen Vorgängen in den Dämonen betrachtet, so fällt das Mißverhältnis allein schon nach der Seitenzahl sofort auf. Ein guter Kenner von Doderers Romantheorie weiß, daß dies auch seine Absicht war. Ihm ging es darum, jenes Leben zu beschreiben, „das dem Geschichtsschreiber, diesem feierlichen Kerl, entgeht, und das es trotz und neben und zwischen aller ‚Geschichte‘ gibt als das allein wirkliche, in welchem allein die Entscheidungen fallen“. Welche Entscheidungen fallen nun in den privaten Schicksalen und in dem, was er aus der gesellschaftlichen Sphäre mit der Demonstration 1927 hinzugenommen hat? Die Schicksale der Geyrenhoff, Hertzka, Mary K., Kakabsa usw. sind zunächst kaum historisch angelegt, diese Gestalten erfahren die Möglichkeiten persönlicher „Menschwerdung“ je nach persönlicher Anlage. Aber dabei bleibt es nicht. Mit der Konsequenz eines Ingenieurs kombiniert und komponiert der Autor die Gegenüberstellung von Privatem und Öffentlichem am Ende zu einer faßbaren Formel. Nach dem Riesenkomplex seines Romanes, nach den Verknüpfungen und Verflechtungen entläßt er den Leser mit dem epischen Erweis, daß die private Sphäre geheilt wird, während die öffentliche Sphäre rettungslos den Massen, der Ideologisierung und dem Feuer verfällt. Das ist zweifellos ein moralischer Schluß. Und in der Tat dient alles, was um den Justizpalastbrand passiert, diesem Schluß: René von Stangeler zeigt seine neugewonnene Souveränität als „Mensch“, indem er seine Schritte an diesem Tag behutsam um den Schauplatz der Auseinandersetzung herumlenkt; der frühere Arbeiter Kakabsa verschließt die großen Flügeltüren der Universität, des Reiches der Bildung und der Menschlichkeit, vor den vorüberziehenden Arbeitern; Frau Mayrinker bringt im Gegensatz zur Gesellschaft ihr Feuer in der Küche schnell unter Kontrolle.

Nicht der Ausschnittcharakter, der einem solchen Roman innewohnen muß, ruft den Kritiker auf den Plan, sondern die scheinbar so „objektive“ Manier, mit der eine private Moral als „Chronik“ der zwanziger Jahre ausgegeben wird. Was in ausgedehntester Komposition „befestigt“ und als Form „objektiv“ gemacht wird („Wiedereroberung der Außenwelt“), ist die Entscheidung gegen alles Gesellschaftlich-Öffentliche, für die Integrität der apolitisch-privaten Existenz. Die Ausführlichkeit und Leichtverständlichkeit, mit der Doderer die Wiener Szenerie lesbar macht, täuscht. Sie ist nur Ausstattung. Es dominiert vielmehr die persönliche Erfahrung mit Ideologie und kurzsichtigem gesellschaftlichem Engagement, die Doderer wie so viele Zeitgenossen in den dreißiger Jahren erlebte. Und die ihn nach seinem tiefen Fall zu der Auffassung brachte, alle gesellschaftlichen Postulate abzulehnen und zu denunzieren als politische Verführung zum Unmenschlichen. „Alle politischen Gesinnungen unserer Tage“, schrieb er danach in sein Tagebuch, „mögen da immer noch, und besonders bei Gebildeten, die’s erwischt hat, als vernünftige Meinungen sich kostümieren, sind in Wahrheit irrationale Phänomene, dämonisch, voller Zucht und Zwang ...“ Eine derartige Äußerung wirkt weit weniger extrem, wenn man sie unter den Auspizien des Nachkriegs und der fünfziger Jahre betrachtet. Als das große Erschrecken durch die Reihen ging, war alles Öffentliche suspekt, und man begab sich in seinen Privatgarten, um ungestört zu bleiben. Die Entwicklung der Nachkriegsjahre aus dem fruchtbaren Erschrecken in die Apolitik großer Koalitionen war mit dieser Einstellung engstens verbunden, und Österreich wie Westdeutschland bringen heute langsam die Ernte ein für diese allzulange Abstinenz, für diesen Aufenthalt im eigenen Garten. Nicht zufällig ging Doderers Stern in diesen Jahren auf und überstrahlte all jene Größen der Feder, die diese Rückzugsmode nur mitmachten, ob existentialistisch, surrealistisch oder in Kafka-Nachfolge, und Günter Blöcker hatte recht, ihn „in einer Zeit der ausgebleichten Texttheorien und der dünnen Erzählerstimmen“ einen „Erwachsenen“ zu nennen, bei dem das Zuhören noch eine Wohltat sei.

Doch auch mit diesem hohen Respekt vor seinem epischen Talent kann man nicht umhin, ihn mit seiner erzählerischen Aussage dieser Nachkriegsphase zuzurechnen und zu fragen, ob er wirklich so einschneidend die Vergangenheit des Landes heraufgeholt und geklärt hat. Aus der Verirrung innerhalb einer politischen Ideologie weisen seine „Menschwerdungen“ nicht unbedingt nach vorn. Sie sind erzählerisch wohl präzis entwickelt, von Mary K. über René von Stangeler bis zu Leonhard Kakabsa, aber sie lassen den Leser stutzen, wenn mit ihnen zugleich eine eindeutige Denunzierung der öffentlichen Verantwortung einherläuft, und es läßt erstaunen, wenn der Autor im Namen dieser selben öffentlichen Verantwortung so ohne Zögern gepriesen wird. Er meinte es selbst ohne Zweifel recht grob, auch wenn zugestanden sei, daß er seine Ablehnung des „Zeitalters“ später in den Merowingern mit grimmig-phantastischem Humor milderte. Aber die geheime Zentralfigur dieses Buches, Pelimbert, der sich von allem Zeitgeschehen fernhält, um die Lächerlichkeit des „Zeitalters“ nicht noch zu vermehren, weist durchaus auf den Schluß der Dämonen zurück, wo Doderer mit Ausnahme des Ungarn Imre von Gyurkicz alle dargestellen Wiener ein Happy-End ihres bürgerlichen Privatschicksals erleben läßt, während die öffentliche Sphäre, vom Mob und den Massen vergiftet, in den Abgrund gerät. Eine Deutung Österreichs und seiner Gesellschaft? Oder ein Idyll?

Doderer hat mit seiner Wiederaufrichtung seelischer Integrität Resonanz gefunden, seine „Menschwerdung“ ist seminarfähig, seine moralische Verpflichtung des Schriftstellers zieht manchen Literaturinterpreten in Bann. Es droht aber die Gefahr, daß man sein Engagement an der Geschichte dort ausklammert, wo es echt und lebendig war. Die reiche theoretische Ausrüstung seines Werkes, mit blendenden und kontroversen Einsichten versehen, könnte den Blick dafür verstellen, was denn der Autor eigentlich mit den Ereignissen gemacht hat.

Österreich als Stilformel

Doderer ist Österreicher in einem recht anderen Sinne, als es mancher (Offizielle oder Inoffizielle) meint, der ihn schnell mit den Namen Hofmannsthal, Musil, Kraus und Broch verbindet. Er ist es in seiner sehr persönlichen und sehr ehrlichen Auseinandersetzung mit dem Österreich der dreißiger und vierziger Jahre, wo er offener und damit verletzlicher gekämpft und gedacht hat als mancher Landsmann, wo er nach der bitteren Erfahrung im gesellschaftlichen Bereich sein Schreiben zu einem Instrument ausformte, eine Moral zu verkünden, die dieser bitteren Erfahrung gerecht zu werden versuchte. Er hat bei diesem Prozeß zunehmend die Stationen seines Lebens mit eingebaut, hat, wie es nur selten geschieht, die lokale Szenerie zu einer würdigen Bühne gemacht. Wenn er dabei zu einer Wiederbesinnung über Österreich gelangte, so ist das, trotz mancher Parallele, einem anderen Geschichtsgefühl zuzurechnen als bei den genannten Autoren. Er ist gewiß einer der letzten genauen Kenner Altösterreichs gewesen und in seinem epischen Totalitätsdrang Nachkomme eines großen Reiches, doch spricht er bereits von einem anderen Ufer aus, wo der „modus austriacus“ zu einer bewußten Stil- und Denkformel wird, die unter der Erfahrung von Erster und Zweiter Republik jenes alte, übernationale und überzeitliche Österreich mehr oder weniger als farbenvolle Bühnenausstattung gebraucht. Was gespielt wird, ist ein anderes Österreich. Ob es dasjenige ist, das den offiziellen Feiern Glanz verleiht, ist fraglich.

Anderseits läßt sich bezweifeln, ob das Österreich, das man bei der künstlerischen Generation der Jahrhundertwende in besten Händen glaubt, für das Selbstverständnis des heutigen Österreichers viel Hilfe gibt. Wo die nationalen Grenzpfähle eingerammt und angemalt werden müssen — und das ist der Fall, wenn eine Regierung sich innen und außen nach den noch heute geläufigen Regeln Respekt verschaffen will —, weckt der übernationale Anspruch zu leicht befremdliche Assoziationen. Wien selbst vermag sich als überlebendes Zentrum auf jene übernationale Wirkung berufen, die seine Kultur einst auszeichnete — wobei es in der aktuellen Politik allerdings nur als Hauptstadt einiger Alpenprovinzen agieren kann. Für Österreich insgesamt jedoch birgt diese Berufung nur wenig Integrationswert, solange diese Alpenprovinzen gerade mit der Wiener Kultur nichts zu tun haben wollen. Hier dürfte der mühseligere, weniger glanzvolle, aber erfolgreichere Weg gerade über die Erfahrungen der Ersten und Zweiten Republik führen, aus denen ein Gemeinsamkeitsgefühl der Gewohnheit hervorseht. Die Ironie will, daß dies vorerst weder Wien noch die Bundesländer gern anerkennen. Immerhin ist diese Ironie gesamtösterreichisch.

Bemalte Grenzpfähle

Was an jener Generation der Jahrhundertwende „echt“ österreichisch war, läßt sich nur schwer in der Münze von Schlagworten und Festsprüchen auszahlen. Die Dichter und Künstler meinten immer etwas anderes, und Hofmannsthal war (wie Grillparzer) nicht unbedingt dort ein besserer Österreicher, wo er über Österreich gesprochen hat; Hermann Broch verfolgte die genannte Wiener Kultur mit Kritik und Ablehnung, wo immer er konnte. Am klarsten wird es bei Albert Paris Gütersloh und seinem eminent österreichischen Werk sichtbar, das sich gegen das Etikett Österreich nachdrücklich sträubt. Vielleicht liegt in diesem Sträuben, in dieser Ignoranz ein Grund dafür, daß dieser Dichter, der gewiß jener Generation zuzurechnen ist, so wenig „offiziell“ geworden ist. Um dieser Tradition willen sollte Heimito von Doderer nicht dort am tiefsten als Österreicher verstanden werden, wo er Österreich als ideelle Wirklichkeit bis zum philosophierenden Kaiser Marc Aurel auf Wiener Boden zurückleitete, sondern dort, wo er die erste Nachkriegszeit durchlebte, sich mit dem Nationalsozialismus einließ, 1938 radikal abschwor, die Konsequenzen zog und erzählerisch ganz ins Private und Antipolitische emigrierte — zur Moral des „Auswegs“ gelangend.

Ohnehin hat er in seinem Alter von spezifischen Bekenntnissen Abstand genommen, Selbst die kategorischen „Menschwerdungen“ treten zurück. Doderer fand in den Arbeiten an seinem letzten großen Projekt, dem Roman No 7, zu einer gelösten, offenen und sehr einfachen Aussage über den Menschen. „Dichterworte und aphoristische Glanzlichter — davon haben wir zum Erbrechen genug“, notierte er im Hinblick auf den Grenzwald, der zu seinem dichterischen Vermächtnis wurde und — so schmal er zu sein scheint — in dieser Hinsicht eine ergreifende Wandlung des Autors bekundet. Österreich ist längst nicht mehr die zwingende Szene, wenn es ihm um jene Bezirke geht, „wo das Leben wirklich geschieht“. Die Schlacken der Geschichte, die er immer überwinden zu müssen glaubte, fallen von selbst ab — nun aber auch für den Leser akzeptabel, und er findet zu der gelassenen Einsicht: „Ausbreiten und durchscheinend sein lassen: das ist die ganze Romankunst, wenn nur einmal das schmähliche Direkt-Autobiographische überwunden ist (ich empfand es immer als Hemmung, am meisten bei den ‚Dämonen‘, wo die Überwindung im Zuge der Arbeit sich erst einstellte).“ Für ein gerechtes Bild dieses Schriftstellers kann man diese Notizen nicht deutlich genug hervorheben. Er sah selbst seine Verirrungen und Verwirrungen. Er war dabei, mit dem neuen Roman sich das „Denkmal der errungenen Freiheit zu errichten“. Man sollte Doderer auf dem Wege der Niederlage und der Selbstüberwindung sehen, nicht in einem erhebenden Vergangenheitsklischee fixieren.

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