FORVM, No. 247/248
Juli
1974

Geld aus Opfer

Historisch-Mythologisches in der Triebstruktur des Geldes

Die Welt-Inflation verwandelt das Geld aus einem rationalen Äquivalent mathematischer Berechenbarkeit in einen mysteriösen Zeiger kapitalistischer Krisenzuckungen. Wunderglaube und Magie tauchen wieder auf. Was da dran ist, erklärt der Berliner Anthropologe Horst Kurnitzy: daß das Geld nämlich ursprünglich im religiös-rituellen Bereich entstanden ist und daß diese Ursprünge weiterwirken.

Der Artikel erscheint demnächst im Rahmen des Buches Triebstruktur des Geldes von Horst Kurnitzky im Wagenbach Verlag, Berlin (170 Seiten, DM 8,50, öS 66,30).

Tiger-Porzellanschnecke,
galt einerseits als Vagina-Symbol, wurde und wird aber auch als Geld benutzt (Kauri-Muscheln: Asien, Ozeanien, Afrika, Europa)

1 Muscheln = Vaginalgeld

Ich will nachweisen, daß bisher jede gesellschaftliche Assoziation von Menschen auf einem Opfer, nämlich auf Triebverzicht, aufbaut und daß die primären ökonomischen Organisationsformen sich diesem Triebverzicht verdanken. Warum das gesellschaftliche Reproduktionsverhältnis auf dieser Basis aufbaut, das wissen wir nicht. Es gibt zwar die unterschiedlichsten Spekulationen: Ich erinnere nur an die von Darwin entlehnte Urhordentheorie Freuds, die sich jedoch in der Analyse als Ursprungsmythos entpuppt. Es gibt bislang jedenfalls keine Zivilisationstheorie, die eine einleuchtende Erklärung für die Notwendigkeit einer in dieser Form auf Triebverzicht aufbauenden Assoziation der Menschen vorlegen konnte.

Genauer handelt es sich bei den primären Formen des Triebverzichts um die Unterdrückung inzestuöser Triebwünsche, und zwar zunächst um die Urformen des Inzests zwischen Mutter und Sohn. Was Inzest jeweils ist und was nicht, wird in jedem Fall durch die Formen der gesellschaftlichen Organisation bestimmt. Jedoch diese primäre Verdrängung ist allen Gesellschaften gemeinsam und verkörpert zugleich eines der ersten gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Denn der verdrängte Trieb erfährt zunächst seine Verkörperung im weiblichen Geschlecht, das als primäres Opfer zugleich ein auf Zeugung und Geburt basierendes Produktionsverhältnis repräsentiert. Die so oft bezeugten weiblichen Idole aus prähistorischer Vergangenheit, die Fruchtbarkeitsgöttinnen etc., sind vermutlich nichts anderes als ein Ausdruck der Verdrängung bzw. Reduzierung der weiblichen Sexualität auf Zeugung und Geburt und nicht etwa ein Zeugnis von Macht und Freiheit der weiblichen Gesellschaftsmitglieder, wie es einige Autoren von den mutterrechtlich organisierten Gesellschaften behaupten. Zeugung und Geburt sind die Begriffe einer ersten Ökonomie, die die Frau als Mutter symbolisch repräsentierte.

Deshalb ist der Begriff der weiblichen Sexualität auch nur eine Konstruktion; sie ist, was die uns bekannten menschlichen Assoziationsformen betrifft, immer unterdrückt und verdrängt worden; ihre Konstruktion steht darum in unmittelbarem Zusammenhang mit der menschlichen Emanzipation überhaupt, ebenso mit der Resurrektion der Natur. Denn jede Gesellschaft reproduziert ihr Naturverhältnis in ihrem Verhältnis zur eigenen Naturbasis. Alle bekannten gesellschaftlichen Organisationsformen haben gemeinsam, daß ihre innere soziale Organisation, die zu einem großen Teil in der Unterdrückung unmittelbarer Triebwünsche besteht, geradezu die Voraussetzung für eine erfolgreiche Beherrschung der äußeren Natur zum Zwecke der Ausbeutung ist. Naturbeherrschung ist grundsätzlich nur möglich vermittels der Beherrschung und Unterdrückung der konkreten Triebnatur des Menschen. Das hat die Geschichte der Entwicklung der Produktionsverhältnisse bislang bewiesen. So stand die Mutter als Idol und Verkörperung primärer gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse der Emanzipation der weiblichen Sexualität von Anfang an im Wege. Historisch geht das mit Sicherheit zurück bis in die Zeiten des Homo sapiens, dessen Bestattungsformen Beweise für die Existenz eines an Zeugung und Geburt orientierten gesellschaftlichen Reproduktionsverhältnisses lieferten. Ich meine damit besonders die in Gräbern aus dieser Zeit gefundenen Kaurischnecken, die als Vaginasymbol zugleich diese primäre Ökonomie verkörperten. Diese Opfer, die möglicherweise zunächst in Opfern weiblicher Gesellschaftsmitglieder bestanden, was wir aus mythologischen Darstellungen erfahren, wurden jedoch sehr bald durch Tieropfer und im Falle weiblicher Opfer insbesondere Schweineopfer ersetzt.

Das Schwein war (neben dem Hund) eines der ersten Opfertiere in Europa und Asien und in alter Zeit wohl auch in Ägypten und als solches Substitut eines wahrscheinlich voraufgegangenen realen Opfers weiblicher Gesellschaftsmitglieder, die wiederum stellvertretend die verdrängte inzestuöse Sexualität verkörperten. Ich wiederhole es: Das gesellschaftlich vermittelte Naturverhältnis, das auf der Beherrschung und Unterdrückung der äußeren Natur aufbaut, ist zugleich durch die Unterdrückung und Verdrängung der gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Naturbasis selber gekennzeichnet. Diese primäre Verdrängung wird zunächst in der Verdrängung der weiblichen Sexualität real; dafür erscheint als erstes Kulturprodukt die Frau, genauer die Mutter, als die Verkörperung dieser Ökonomie. Nun ist der „Fortschritt“ nicht mehr aufzuhalten. Dieser ersten Verdrängung folgen, durch die zwangsläufige Wiederkehr des Verdrängten provoziert, immer neue Verdrängungen, eine scheinbar endlose Kette von Opfersubstituten, die jetzt den ganzen Reichtum unserer Kultur ausmachen; sie sind, um mit Marx zu reden, zwar die Negation des wirklichen Reichtums, trotzdem sind es die Lebensmittel der Gesellschaft: die Wiederkehr der verdrängten Naturbasis, eine zweite Natur.

Darüber hinaus wird dieses Naturverhältnis noch einmal in den Symbolen seiner als eines ökonomischen Prinzips verkörpert, den auf der ganzen Welt als Urformen des Geldes bekannten Muscheln und Schneckenhäusern, insbesondere den Kauris (proculi), die nichts anderes darstellen als Manifestationen der auf dem Prinzip von Zeugung und Geburt basierenden Ökonomie. Allerdings symbolisieren sie auch die Ambivalenz dieser Triebökonomie, denn als Mittel gegen den bösen Blick und zu Wahrsagezwecken deuten sie zugleich auch die gefährliche Nähe regelloser Sexualität an. Folgerichtig hatte z.B. Mohammed ihre Verwendung verboten. Wir sehen in diesen Muscheln und Schnecken redende Formen eines primären Opfersubstituts und, als die Verkörperung des gesellschaftlich vermittelten Naturverhältnisses, Vorformen des Geldes. Ich erinnere mich daran, daß das Wort Geld ursprünglich nichts anderes als Opfer bedeutet. Diese ersten Formen des Geldes tauchen zunächst in zwei wichtigen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt bestätigenden und ihn immer wieder neu herstellenden Ritualen auf, nämlich im Heirats- und Totenritual. Beide stehen in enger Verbindung miteinander. Beide sind Manifestationen des gesellschaftlich vermittelten Naturverhältnisses und garantieren darin den Fortbestand der Gesellschaft.

Im Heiratsritual wird die Kultur „bereichert“, ihre Macht gegenüber der Natur ausgedehnt, der gesellschaftliche Zusammenhalt durch ein von Menschen geschaffenes Kunstwerk stabilisiert: die Ehe, die gleichsam als Versöhnung mit dem Tod darin dem Totenritual verbunden ist. Im Totenritual wird dann diese Kultur gegen die ihr Recht fordernde Natur verteidigt, der Tod geleugnet, möglicherweise zu einem besseren Leben stilisiert. Hier wird der ganze Aufwand gesellschaftlicher Selbstbestätigung im Ritual vorgeführt. Aber zuerst wird für ein Stammesmitglied gelegentlich der Initiation eine derartige Versöhnung mit dem Tode im Ritual dargestellt. Denn hier stirbt der (animalische) Noch-Nicht-Mensch, der Knabe oder das Mädchen, und wird als vergesellschaftetes Wesen im Ritual wiedergeboren.

Im Heiratsritual wird ein Opfer gebracht, nämlich der Verzicht auf den Inzest, symbolisiert durch das Heiratsgut, zu dem auch Muscheln und Schneckenhäuser gehören sowie eine Reihe von Kulturprodukten, die sich diesem Verzicht verdanken, und der Opfernde erhält dafür ebenfalls ein Kulturprodukt: die Frau, deren Sexualität nun, auf ihre Gebärfähigkeit reduziert, zum allgemeinen Schema der gesellschaftlichen Reproduktion avançiert ist, so daß sich der Unterdrückung, wenn nicht Zerstörung der weiblichen Sexualität — Freud spricht von einer solchen Zerstörung des Ödipuskomplexes, also des Inzestwunsches, und für nichts anderes als Inzest steht die nicht vergesellschaftete Frau im Bewußtsein der Gesellschaft — nun die Kulturprodukte, d.h. die Lebensbasis der Gesellschaft, verdanken. So ist die Frau, als erstes Kulturprodukt, Besitz des Mannes und zugleich auch gewissermaßen sein transitionales Objekt und Fetisch zugleich. Denn sie ersetzt ihm auch die Mutter und wird mit der dem Verhältnis zur Mutter angehörenden Ambivalenz von ihm behandelt. Dieser gleichen Verdrängung und Unterdrückung verfällt auch die Natur, die als prima materia beherrscht werden muß, um ausgebeutet werden zu können: sie wird dadurch zum Lebensmittel und Rohstoff und ist als solcher selbst schon zweite Natur.

2 Bratspieß und Obolus

Jedoch nicht nur im Heiratsgut, als Verkörperung des gesellschaftlich vermittelten Naturverhältnisses, treffen wir die ersten Formen des Geldes an; es spielt auch bei Totenfesten und Grabbeigaben eine wesentliche Rolle, weil auch hier und in gesellschaftlich noch bedeutenderer Weise das gleiche Naturverhältnis artikuliert wird: es wird das gewissermaßen durch den Tod beschädigte Naturverhältnis wiederhergestellt. Denn der Tod, auch das hat die Psychoanalyse u.a. verstehen gelehrt, wird gerade auf niederster Stufe gesellschaftlicher Assoziation nicht als natürlich, sondern immer als verschuldet begriffen. Freud hat das in der Analyse des Ödipuskomplexes im Zusammenhang mit der Untersuchung des Totemismus am Beispiel des hypothetischen Urvatermordes dargestellt. Jede Trauer ist die Trauer um einen Ermordeten und — denn um das Naturverhältnis geht es ja hier — jeder Tod, zumal als Mord, ein gefährlicher Einbruch der Natur in die gesellschaftliche Organisation. Er gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der durch komplizierte Rituale wiederhergestellt werden muß, weil sonst die Herrschaft über die Natur nicht mehr sichergestellt wäre. Dazu sind Opfer notwendig, denn nur sie garantieren den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der das Fortbestehen der Gesellschaft ermöglicht. Die Formen der gesellschaftlichen Organisation spiegeln ihren Reichtum wider. So gehören zu den Totenfeiern neben den Opfern, die wir zunächst erwarten, noch andere, die Basis der gesellschaftlichen Reproduktion darstellende Rituale, wie die Spiele, die selbst wieder auf das nämliche Opfer anspielen, es evtl. „spielen“ und im Altertum von keinem derartigen Fest wegzudenken waren; selbst für die Toten gewonnener Schlachten wurden derartige Spiele veranstaltet, nicht anders als jene für das Gedeihen der Saat.

Darüber hinaus gibt es keine Wettbewerbsmöglichkeit, die nicht in irgendeiner Form in die Spiele aufgenommen wurde. Ich erinnere noch einmal an die unter dem Stichwort Ödipusmythos zusammengefaßte Konstitution der Gesellschaft: Ödipus kämpfte mit seinem Vater Laios, wenn auch unbewußt — auch das ist charakteristisch für die gesellschaftliche Verfassung — um die Mutter. Das ist das Grundmuster jeder Konkurrenzsituation. Durch den Sieg fällt ihm die Mutter zu, die aber dem vergesellschafteten Ödipus versagt bleibt und zugleich der Verdrängung verfällt. Darauf baut gerade die Kulturleistung auf. Freud hat das mit dem Bild der mit dem Urvater um die Mütter kämpfenden Brüder dargestellt. Sie versagen sich, nachdem sie den Vater getötet haben, die Mütter, und damit wird der auf sie gerichtete Trieb für Sublimierungsleistungen frei.

Diese Verbindung von Verdrängung und Sublimierung in Kultur ist die triebökonomische Basis aller Produktionsverhältnisse, die wir bislang aus der Geschichte kennen; sie wird in den Spielen in ritualisierter Form dargestellt. Auch hier fällt dem aus der Konkurrenz siegreich Hervorgehenden nicht sein unmittelbares Triebziel zu, denn das wird geopfert. Dadurch verwandelt sich Natur in Kultur. Der Sieger bekommt zunächst seinen Teil des Opfersubstituts: vom Opferbraten. Da aber dieser Prozeß der Substitution zu immer neuen Substituten treibt, geht das Anrecht auf ein Stück Opferbraten, das, in Griechenland z.B., zunächst noch in Bratspießen, den Obeloi, ausgedrückt wurde, über auf Münzen, wie wir sie aus der Antike kennen. Laum hat das für die griechische Antike nachgewiesen und auch gezeigt, daß die sogenannten Viehwährungen sich diesem kultischen Zusammenhang verdanken.

Das im Totenkult sich manifestierende gesellschaftlich vermittelte Naturverhältnis, das dieses Verhältnis von Verdrängung und Sublimierung gewissermaßen zum triebökonomischen Grundgesetz hat, wirkt weiter in Warentausch, Fernhandel und Markt. So wenig wie das Opfer außerhalb des Opferzusammenhanges, so wenig kann die Opferbasis des Geldes außerhalb des Totenrituals, z.B. in seiner Verbindung von Totenfeier, Messe und Markt, gesehen werden.

Noch im Mittelalter mußte z.B. die katholische Kirche in England und Irland die Märkte und Jahrmärkte, wie sie von den christianisierten Kelten auf den Kirchfriedhöfen an Freitagen und besonders am Karfreitag veranstaltet wurden, durch Androhung harter Strafen verbieten. Wir verdanken diese Kenntnis T. F. G. Dexter, der in seinem Buch „The pagan Origin of Fairs“ nachgewiesen hat, daß die Märkte in England und Irland älter sind als die christliche Kirche, denn die keltische Urbevölkerung hatte bereits auf ihren Gräberfeldern dem Totenkult entstammende Tauschfeste und Spiele veranstaltet, die sie nun, christianisiert, beibehalten wollte. Märkte sind eher 4.000 als 800 Jahre alt, schreibt Dexter, und sie stehen seit alter Zeit im Zusammenhang mit dem Totenkult.

Bemalte Opferschweine
für den Brautkauf (Hagenberg, Neuguinea)

3 Handel mit Opfertieren

Aus den Opfern und Spielen, die auf den Gräberfeldern veranstaltet und als Totenfeste gefeiert wurden, entwickelte sich schließlich die säkularisierte Form der Religion: die Tauschgesellschaft. „Ein irischer Jahrmarkt war möglicherweise zunächst eine ganz lokale Angelegenheit. Jedoch mit verbesserten Kommunikationsformen hörte er auf, lokal zu sein, und Händler brachten ihre Waren von weit her zum Verkauf. Dadurch bekam der Jahrmarkt zusätzlich einen Handelsaspekt. Der Jahrmarkt begann also mit der Religion, wurde dann zu Religion und Spielen: dann kam der Handel dazu, und die religiöse Herkunft wurde mehr und mehr vergessen, und der Jahrmarkt wurde zu Handel und Spielen, eine Phase, die durch die englischen mittelalterlichen Jahrmärkte hinlänglich repräsentiert wird.“ Dazu bringt Dexter noch Beispiele, nicht nur aus Irland, England und Schottland, sondern z.B. auch aus dem antiken Griechenland, aus Ägypten und dem Vorderen Orient, die allesamt die substantielle Verbindung von Märkten und Spielen im Zusammenhang mit Totenfesten belegen und entweder auf Gräbern, in oder vor Tempeln stattfanden, und zeigt damit, daß die Praxis des gesellschaftlichen Produktentausches einem Opferritus entstammt, der dem Zusammenhalt einer auf Triebverzicht aufbauenden Gesellschaft triebökonomisches Fundament ist.

Wie sehr die Opfer das Fundament der gesellschaftlichen Synthesis bilden, beweist die Tatsache, daß ein Ausschluß von der Teilnahme am gemeinsamen Opfer als Degradierung aufgefaßt wurde und einer schweren Strafe, die der Rechtsacht gleichkam, entsprach, also gewissermaßen dem, wenn auch vielleicht nur temporären, Ausschluß aus der Gesellschaft. Daß das Opfer den Zusammenhalt der Gesellschaft garantiert und der Ausschluß vom Opfer einem Ausschluß aus der Gesellschaft gleichkommt, ist auch in unserer gegenwärtigen Gesellschaft an ihrem Verhältnis zur Arbeit, die ja als allgemeines Opfer anerkannt ist, abzulesen. Nicht nur in den gewerkschaftlichen Forderungen des Rechts auf Arbeit, sondern auch in den Äußerungen sozialistischer und kommunistischer Organisationen über das sogenannte Lumpenproletariat wird diese ausschließende Tendenz sichtbar. Denn das von diesen Organisationen verurteilte Lumpenproletariat konstituiert sich eben nicht aus den Arbeitslosen, die eigentlich arbeiten wollen und für die ein Arbeitsplatz erkämpft werden soll, sondern aus Individuen, die es ablehnen, am allgemeinen Arbeitsprozeß teilzunehmen und sich damit selbst aus der Opfergemeinschaft ausschließen.

Wie für die Märkte auf den keltischen Gräberfeldern spielte auch für die Märkte im christlichen Mittelalter die religiöse Praxis der Gesellschaft eine fundamentale Rolle. „Handel und Gottesdienst waren miteinander aufs engste verknüpft“, schreibt Kulischer:

Die Worte ‚Messe‘, ‚feriae‘ werden zur Bezeichnung sowohl des Gottesdienstes, als des Jahrmarktes gebraucht.“ Der Zusammenhang mit dem Totenkult, auf den auch die mittelalterlichen Märkte nicht verzichten konnten, findet in dem Verhältnis von Markt und Reliquienwesen seine anschaulichste Bestätigung. Denn mit der Entwicklung des Handels und der Märkte in Europa hat das Reliquienwesen eine nie dagewesene Blüte erfahren. Diese Hinterlassenschaften toter Heiliger, stellvertretend für sie selbst, spielten für die Märkte eine immer größere Rolle; sie wirkten in einem ökonomischen und in einem spirituellen Zusammenhang Wunder. „Basel, Straßburg, Konstanz, Köln, Aachen, Nürnberg, Prag, Utrecht, Westminster, Deventer, York — verdanken ihr Emporkommen im Handel vor allem ihren Reliquien, die Wallfahrten der Gläubigen von nah und fern veranlaßten. Deswegen suchten die Kirchen sich durch Erwerb von Reliquien Ansehen zu verschaffen. Die Kunde von den Wunderzeichen machte den Wallfahrtsort nicht nur zu einem religiösen Verkehrszentrum, sondern auch zu einem vielbesuchten Marktorte.

Zuweilen wird als Zweck der Marktgründung am Klosterort direkt angegeben, das zusammenströmende Volk solle die Möglichkeit haben, hier zugleich irdische und himmlische Bedürfnisse zu befriedigen. Wisby auf Gotland, das sich rasch zu einer wichtigen Handelsstadt emporschwingt, heißt ‚Stadt des Heiligtums‘.

Aber erst als die Märkte unter den Schutz des Krummstabs gestellt werden, d.h. durch die Verkündung des „Gottesfriedens“ durch die katholische Kirche — vordem war die Entwicklung des Handels wegen der zu engen Verbindung mit dem Raub noch allzu unsicher —, war die gesicherte Entwicklung des Handels und Gewerbefleißes im Okzident möglich, freilich unter der Bedingung, daß das aggressive Potential, das zur Natur einer auf Tausch basierenden Gesellschaft gehört, auf einen äußeren Feind fixiert wurde. Die katholische Kirche hatte mit der Organisation der Kreuzzüge — sie waren gewissermaßen die Voraussetzung der Entwicklung der Märkte in Europa — zum erstenmal in ihrer Geschichte einen Aggressionskrieg gerechtfertigt.

Mit der Emanzipation des Handels von seiner religiösen Basis, in den Anfängen des Kapitalismus in Europa, blieb er doch, als Tauschritual, noch immer die wesentliche triebökonomische Voraussetzung für den bewußten Zusammenhalt der Gesellschaft, indem er als Tauschritual auf den gesellschaftlichen Opferzusammenhang verwies.

Ägyptisches Wandgemälde aus Theben:
ägyptisches Ringgeld wird gegen Weißgoldgewichte in Form ägyptischer Opfertiere aufgewogen

4 Im Gelde leben Weib und Natur

Wenn auch im Gelde immer noch das verdrängte weibliche Geschlecht und dessen Pendant, die unterworfene Natur als Rohstoff, verkörpert wird, es also nach wie vor den auf Verdrängung und Unterdrückung aufbauenden Reichtum repräsentiert, so hat doch der historische Fortschritt der gesellschaftlichen Reproduktionsverhältnisse, die nunmehr die allgemeine gesellschaftliche Arbeit als die Quelle allen Reichtums erscheinen lassen, die Arbeit in Form ihrer allgemeinsten Verausgabung, als Lohnarbeit, gemessen in Arbeitszeit, in ein unmittelbares Verhältnis zum Gelde gesetzt. Ein Bewußtsein von der Arbeit als Opfer gab es in der Antike schon — ich erinnere nur daran, daß die Sklaven der Sklavenhaltergesellschaften, wie das Arbeitstier, vormals geopfert wurden, die Sklaverei also einem sublimierten Kannibalismus gleichkommt —, das Wort operare heißt arbeiten und opfern zugleich. Jedoch erst mit Einführung der Lohnarbeit wird die Arbeit zur bewußten Basis der gesellschaftlichen Reproduktion. Lohnarbeit ist heute die allgemeine Basis der kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaften, die Quelle ihres Reichtums.

Wenn auch in den frühesten Anfängen der gesellschaftlichen Entwicklung das Symbol des gesellschaftlich vermittelten Naturverhältnisses immer schon bearbeitet war — ich meine, daß schon die Muscheln und Schneckenhäuser erst als bearbeitet (und wenn auch nur auf Schnüre gereiht) in den gesellschaftlichen Tauschprozeß oder äquivalente Rituale eingingen —, so war das Bewußtsein der Arbeit, als zur gesellschaftlichen Reproduktion notwendig, doch nicht die Basis der ökonomischen „Theorie“. Sie basierte noch vollends auf dem Schema von Zeugung und Geburt als einer Theorie der Fruchtbarkeit. Sklavenarbeit war nur ein Teil der in den Dienst genommenen äußeren Natur und nicht Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Erst mit den Anfängen der Manufaktur trat die Arbeit, und zwar als entfremdete Lohnarbeit, bewußt in das Zentrum der ökonomischen Vorstellungen und der ihnen korrespondierenden Praxis.

Diese neue Basis der Ökonomie setzte sich aber kaum so naturwüchsig durch, wie allgemein angenommen wird. Erst vermittels der Anwendung außerökonomischer Zwangsgewalt, durch Bajonette von Polizei und Militär, wurde das Volk in die Fabriken getrieben und machte so einen „Lernprozeß“ durch, an dessen Ende ihm die entfremdete Arbeit zur selbstverständlichen Notwendigkeit geworden war. Jetzt erst war sie die wirkliche, weil praktische und anerkannte, im allgemeinen Bewußtsein selbstverständliche Substanz des Werts und damit als Basis des Opferzusammenhangs dieser Gesellschaft auch begriffen in der von der Reformation bis in die faschistischen Konzentrationslager gültigen Weisheit: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. So konnte Marx in seiner Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse dann auch schreiben: „Wir kennen jetzt die Substanz des Werts. Es ist die Arbeit. Wir kennen sein Größenmaß. Es ist die Arbeitszeit.“ Da jedoch die Arbeit, genauer die Arbeitskraft, selbst als Ware vom Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt verkauft wird, hat sie zugleich im Geld auch ihre allen Waren immanente Erscheinungsform. „Weil alle Waren als Werte vergegenständlichte menschliche Arbeit, daher an und für sich kommensurabel sind, können sie ihre Werte gemeinschaftlich in derselben spezifischen Ware messen und diese dadurch in ihr gemeinschaftliches Wertmaß oder Geld verwandeln. Geld als Wertmaß ist notwendige Erscheinungsform des immanenten Wertmaßes der Waren, der Arbeitszeit.“ Als Repräsentant des allgemeinen Tauschwerts aller Waren verkörpert das Geld die Arbeitszeit und darin zugleich die Vermittlung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, also auch dessen Triebstruktur, nur daß dieses Verhältnis jetzt in einer Abstraktion, nämlich Triebverzicht in seiner allgemeinsten Form als entfremdete menschliche Arbeit, gemessen in Arbeitszeit, verkörpert wird. Aber auch hier repräsentiert das Geld das allgemeine Selbstbewußtsein: den auf einem Opferzusammenhang gründenden gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wir verstehen jetzt die Abstraktion, in der die Marxsche Darstellung, allen materialistischen Beteuerungen zum Trotz, immer noch befangen bleibt, weil sie die Totalität der gesellschaftlichen Synthesis in einer logischen Darstellung begreift und dabei die Tatsache, daß sich auch diese Logik aus der Abstraktion von Opferzusammenhängen entwickelt hat, die hier als Tauschabstraktion zu verstehen ist, nicht zur Kenntnis nimmt. Mit anderen Worten, daß jede Ökonomie ein triebökonomisches Fundament hat, bleibt jener logischen Darstellung verschlossen. Sie kennt nur das Kapital als alles verschlingendes Triebsubjekt und konstituiert eine Triebsphäre außerhalb des konkreten Trieblebens der Menschen. Das ist die idealistische Schranke eines auf Opferabstraktionen aufbauenden Materialismus oder, um im Beispiel der Marxschen Darstellung zu bleiben: um vom Abstrakten zum Konktreten aufzusteigen, indem die Begriffe mit allen Bestimmungen gefüllt werden, bedarf es auch der Darstellung der triebökonomischen Momente der Bewegung der Waren und des Geldes; fehlt auch nur eines der zur Konkretisierung des Begriffs notwendigen Momente, so ist der Begriff eben nicht konkret, sondern abstrakt geblieben.

In der logischen Darstellung ist das Geld die Inkarnation der höchsten Steigerung des Warenfetischismus, sein allgemeinster und zugleich letzter Ausdruck. Erst im Kapitalismus dringt das Geld in alle gesellschaftlichen und privaten Sphären des Menschen ein, schreibt Marx. Wir aber wissen, daß das Geld nicht nur der letzte, sondern zugleich auch der erste Fetisch war, weil es mit Beginn der Assoziation von Menschen, deren gesellschaftlich vermitteltes Naturverhältnis sich immer um den Fokus des Inzesttabus zentrierte, als erster Substitut der geopferten Sexualität auftrat und dem Tabu immer schon mit allen dem Inzest zugehörigen, also zugleich den die gesellschaftliche Organisation sprengenden Affekten begegnet wurde.

5 Natur aus Gesellschaft: Warum uns das Salz schmeckt

In diesem Zusammenhang stehen auch die Waren, die nach Marx zunächst Geldfunktion annahmen, weil sie einem allgemeinen Bedürfnis entsprechend die häufigsten waren, wie z.B. Rinder und Salz. Marx hatte sie noch allein unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit für die industrielle Gesellschaft gesehen. Sie entsprachen in der Tat einem allgemeinen Bedürfnis, aber nicht dem von aufgeklärten Konsumenten, sondern dem nach Garantie des gesellschaftlichen Zusammenhaltes im Opfer. Rinder wurden zunächst überhaupt nur zu Opferzwecken gezüchtet. Damit aber waren sie zugleich auch Bestandteil der Basis der gesellschaftlichen Reproduktion. Als stellvertretendes Opfer waren sie die Ernährer der Gesellschaft, deren Ernährung, d.h. Reproduktion, über Opfer vonstatten ging — allerdings eine Form der Reproduktion, die auf Verdrängung aufbaut.

In den gleichen Funktionszusammenhang gehört das Salz, das von Marx als eine frühe Form des Geldes erwähnt wird. Es durfte, wie wir wissen, bei keinem Opferbraten fehlen und diente, z.B. in Ägypten, zur Einbalsamierung der Toten. Früher noch, als man „Geschmack“ am Salz fand, wurde zweifellos seine konservierende Wirkung erkannt. Was Marx jedoch hier als Voraussetzung des Bedürfnisses nach Salz annimmt, nämlich seine Nützlichkeit zur Geschmacksverbesserung der Speisen z.B., ist erst ein historisches Produkt. Denn das, was wir heute Geschmack nennen und woran wir Geschmack finden, ist Ergebnis der auf Verdrängung und Sublimierung aufbauenden gesellschaftlichen Entwicklung, nicht aber ihre Voraussetzung. Das gilt für alle Formen der Sinnlichkeit, wie wir sie heute antreffen, daß sie nämlich als historisches Produkt zu begreifen sind. Das Salz erwies zunächst seine Nützlichkeit beim Opfer. Es war selten, schwer zu bekommen, wurde als kristallisierte Form des Meeres mit der alles gebärenden Urmutter identifiziert und zugleich als Göttersamen vorgestellt und war darin hilfreich, die Mechanismen der gesellschaftlichen Reproduktion zu artikulieren. Erst später, in einer anderen Form der Sublimierung der verdrängten Sexualität, in der gastrisch-sexuellen Sphäre, entwickelten sich die Sinne des Geschmacks, für die das Salz dann seine heute bekannte Rolle zu spielen begann; seine Rolle als Geld aber hatte es damit bereits verloren.

Als Verkörperung des gesellschaftlich vermittelten Naturverhältnisses bestimmt Marx das Geld als „das Gemeinwesen“, jedoch als ein äußeres, „nicht aus dem Menschen als Menschen und nicht von der menschlichen Gesellschaft als Gesellschaft hervorkommende(s) allgemeine(s) — Mittel und Vermögen“. Darin offenbart sich eine idealistische Position, die das Geld nicht als Vergegenständlichung eines Verhältnisses begreifen will, als einen Gegenstand, der als Verkörperung des gesellschaftlich vermittelten Naturverhältnisses für das einzelne Individuum wie für die menschliche Gesellschaft gleichermaßen konstitutiv ist. Nicht erst die Nationalökonomie produziert das Bedürfnis des Geldes, sondern die auf Triebverzicht aufbauende Organisation der menschlichen Gesellschaft. Denn als Verkörperung ihres Naturverhältnisses ist Geld „das Gemeinwesen“. Darin war das Geld auch niemals nur bloßes Zirkulationsmittel, das sich aus seiner nützlichen Knechtgestalt zum Herrscher und Gott in der Welt der Waren aufgeschwungen hat, wie es Marx darstellt. Sondern es war immer schon Mittel und Gott zugleich, schmutzig und rein; als Verkörperung des gesellschaftlich vermittelten Naturverhältnisses garantierte es den auf Triebverzicht aufbauenden Zusammenhalt der Gesellschaft, z.B. als Teil des Opferbratens oder in Gestalt der Obeloi, stellvertretend für die getötete Göttin oder den getöteten Gott und zugleich als Wiederkehr der verdrängten Sexualität; als Fetisch zog es alle mit dem verdrängten Trieb verbundenen Begierden auf sich.

Das ist der Fetischismus, der infolge der Verdrängung der inzestuösen Triebwünsche als Wiederkehr des Verdrängten eben nicht nur den Waren anklebt; sie sind alle nur Repräsentanten oder Substitute des Geldes, das als Vergegenständlichung des verdrängten Triebziels nun alle Affekte auf sich lenkt: auch den „Sinn des Habens“, den Marx nur als Produkt des Kapitalismus begreift und nicht als Produkt der Entwicklung einer auf Triebverzicht aufbauenden Gesellschaft, in der der „Sinn des Habens“ nichts anderes als die scheinbare Aufhebung der Verdrängung darstellt. Scheinbar, weil die Regression auf die Analsphäre — in der die Psychoanalyse etwa den „Sinn des Habens“ ansiedeln würde —, die auf die Unterdrückung der Inzestwünsche erfolgt, nur einem Ausweichen vor der unausweichlichen Verdrängung gleichkommt, gewissermaßen der Verdrängung der Verdrängung. Dieser Prozeß ist endlos, zumal in der warenproduzierenden Gesellschaft.

Worauf es ankäme, wäre also eine nicht nur theoretische, sondern auch praktische Annahme des Verdrängten oder mit anderen Worten: Sind Produktionsverhältnisse möglich, die eine verdrängungsfreie Sublimierung darstellen? Marx und Engels haben noch in ihren frühen, von Feuerbach inspirierten Schriften diese Fragestellung ausgesprochen: Engels etwa, wenn er in seinen „Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie“, 1844, von dem „großen Umschwung, dem das Jahrhundert entgegengeht, der Versöhnung der Menschheit mit der Natur und mit sich selbst“ schreibt, oder Marx, wenn er in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“, aus dem gleichen Jahr, die befreite, kommunistische Gesellschaft mit folgenden Worten darstellt: „Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.“ Das, denke ich, koinzidiert mit dem Freudschen Terminus von der „Annahme des Verdrängten“.

Eine realistische Kritik der politischen Ökonomie sollte diese Fragestellung aufgreifen und in ihrer Darstellung der Totalität der Produktionsverhältnisse die triebökonomische Basis nicht unterschlagen. Denn die theoretische und praktische Lösung dieser Frage, die Aufhebung des Opferzusammenhangs dieser Gesellschaft in der Versöhnung des Menschen mit sich und mit der Natur, also auch die konkrete Annahme des Verdrängten, wird entscheiden, ob eine befriedigende Organisation der Gesellschaft, die ein befriedigendes und friedliches Leben ihrer Mitglieder garantiert, möglich sein wird. Nicht die Abschaffung des Geldes ist das zentrale Problem, sondern die Aufhebung des im Geld verkörperten, sich als Opferzusammenhang darstellenden gesellschaftlich vermittelten Naturverhältnisses.

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