FORVM, No. 251
November
1974

Gesundheitsverbrecher

Wider den medizinischen Hygienewahn

Die Ärzte sind zu einer ernsten Gefahr für die Gesundheit geworden. Depression, Infektion, Arbeitsunfähigkeit und Dysfunktion, von der Medizin hervorgerufen, verursachen heute mehr Leiden als alle Verkehrs- und Arbeitsunfälle zusammengenommen. Einzig der Schaden, den die industrielle Lebensmittelproduktion anrichtet, kann sich mit dem von den Ärzten angerichteten Unheil messen.

Die Medizin erzeugt industriell konservierte Invalide, kybernetische Patienten. Die sogenannten Gesundheitsberufe haben eine indirekt krankmachende Kraft, einen strukturell gesundheitsnegierenden Effekt. Sie verwandeln Schmerz, Krankheit und Tod aus einer persönlichen Herausforderung in ein technisches Problem und zerstören damit die Fähigkeit des Menschen, seine Lage zu meistern.

1 Die Rache des Fortschritts

Ivan Illich

In den letzten 20 Jahren ist der Preisindex in den USA um 74 Prozent gestiegen, die medizinischen Behandlungskosten aber sind um 330 Prozent hinaufgeschnellt. Während die öffentlichen Ausgaben für Gesundheitspflege sich verzehnfacht haben, sind die privaten Ausgaben für ärztliche Behandlung und Medikamente auf das Dreifache und die privaten Versicherungskosten auf das 18fache angewachsen. Die Kosten für öffentliche Krankenhäuser sind seit 1950 um 500 Prozent gestiegen. Die Pflegekosten in größeren Krankenhäusern haben noch schneller zugenommen und sich in acht Jahren verdreifacht. Die Verwaltungsausgaben sind auf das Siebenfache, die Laborkosten auf das Fünffache angewachsen. Ein neues Spitalsbett kostet heute 65.000 Dollar, wovon zwei Drittel auf die mechanische Ausstattung entfallen, die innerhalb von zehn Jahren oder noch früher entwertet oder überflüssig wird. Das Resultat: In dieser Periode beispielloser medizinischer und finanzieller Inflation hat die Lebenserwartung erwachsener männlicher Amerikaner abgenommen.

Das Gesundheitsgesetz (Health Act) in England verursachte eine ähnliche Kosteninflation, verhindert jedoch einige der krasseren Fehlausgaben, die in Amerika Gegenstand öffentlicher Kritik sind. In der Sowjetunion ist in der gleichen Zeit die Zahl der Ärzte und der Krankenhaustage je Einwohner auf das Dreifache gestiegen. In China ist das medizinisch-technologische Establishment, nach einer kurzen Periode moderner Entprofessionalisierung, in jüngster Zeit sogar noch schneller gewachsen. Das Ausmaß, in dem die Menschen von den Ärzten abhängig werden, hat anscheinend nichts mit der Staatsform zu tun.

In den Vereinigten Staaten sind diejenigen Mittel, die auf das Zentralnervensystem wirken, der am schnellsten wachsende Sektor des Drogenmarktes, auf sie entfallen 31 Prozent des Umsatzes. In den letzten zwölf Jahren ist der Pro-Kopf-Konsum von Alkohol um 23 Prozent, der von illegalen Opiaten um rund 50 Prozent und jener von ärztlich verschriebenen Tranquilizern um 290 Prozent gestiegen. Manche behaupten, dies sei auf die besondere Art und Weise zurückzuführen, in der amerikanische Ärzte ihre lebenslange praktische Ausbildung erhalten: 1970 gaben die amerikanischen Drogenerzeuger pro Arzt 4.500 Dollar für Reklame aus, und es gibt in den USA 350.000 Ärzte. Überraschenderweise steht der Pro-Kopf-Konsum von Tranquilizern auf der ganzen Welt in Korrelation zum Pro-Kopf-Einkommen, obwohl in vielen Ländern die Kosten der „wissenschaftlichen Weiterbildung“ des Arztes nicht im Preis der Droge inbegriffen sind. So ernst jedoch die Abhängigkeit der Menschen von Ärzten und Drogen auch ist, so ist sie doch nur eines der Symptome der Nemesis.

2 Regenzauber für Millionen

Die Medizin vermag nicht viel gegen die mit dem Altern zusammenhängenden Krankheiten zu tun. Sie ist machtlos gegen Gefäßkrankheiten, gegen die meisten Arten von Krebs, gegen Arthritis, multiple Sklerose, fortgeschrittene Zirrhose und sogar gegen den Schnupfen. In manchen Fällen können die Schmerzen, die alte Menschen leiden, gemildert werden. Meist aber führt die professionelle Behandlung von Altersleiden nicht nur zu einer Vermehrung, sondern, wenn sie erfolgreich ist, auch zu einer Verlängerung der Schmerzen. Es ist daher erstaunlich, wieviel Geld für Altersbehandlung ausgegeben wird. Zehn Prozent der Amerikaner sind mehr als 65 Jahre alt, doch entfallen 28 Prozent der Gesundheitsfürsorgeausgaben auf diese Minderheit. Die Zahl der Alten nimmt um drei Prozent schneller zu als die der übrigen Bevölkerung, aber die Pro-Kopf-Ausgaben für Altenpflege wachsen jährlich um sechs Prozent. Die Gerontologie frißt das Bruttonationalprodukt. Diese Fehlverwendung von Arbeitskraft, von Geld und sozialer Fürsorge wird unsagbares Leid verursachen, in gleichem Maße wie der Bedarf wächst und die Mittel knapp werden.

Seit Nixon und Breschnjew sich über die wissenschaftliche Kooperation bei der Eroberung des Weltraums sowie auf dem Feld der Krebsforschung und der Bekämpfung der Herzkrankheiten geeinigt haben, sind Herzstationen zu Symbolen friedlichen Fortschritts und zu Argumenten für Steuererhöhungen geworden. Sie erfordern dreimal so teure Ausrüstung und fünfmal soviel Personal wie normale Krankenfürsorge; zwölf Prozent der graduierten Pflegerinnen finden auf solchen Stationen Beschäftigung. Das zeigt, was professionell sanktionierte Unterschlagung bedeutet. Umfangreiche Untersuchungen, in denen die Resultate der Behandlung auf solchen Stationen mit denen der Hausbehandlung bei gleichem Leiden verglichen wurden, haben bis jetzt keine Überlegenheit der ersteren nachweisen können. Der therapeutische Wert der Herzstationen ist mit dem Nutzen von Raumflügen zu vergleichen: auf dem Fernsehschirm machen sie einen Regenzauber für Millionen Menschen, die ihr ganzes Vertrauen in die Wissenschaft setzen und aufhören, für sich selbst zu sorgen.

Ich war zufällig in Rio de Janeiro und in Lima, als Dr. Christian Barnard gerade auf seiner Tournee dorthin kam. In Brasilien wie in Peru war Barnard imstande, zweimal an je einem Tag ein großen Fußballstadion zu füllen, mit Massen, die seine makabre und nutzlose Kunst, Menschenherzen zu verpflanzen, hysterisch bejubelten. Kurz darauf bekam ich Dokumente zu sehen, die bewiesen, daß die brasilianische Polizei (als erste der Welt!) lebensverlängernde Medikamente in den Folterkammern verwendet.

3 Vorsorge ist Hygienewahn

Schwangere Frauen, gesunde Kinder, Arbeiter und alte Leute werden periodischen Kontrolluntersuchungen und zunehmend komplexen diagnostischen Prozeduren unterzogen. Das bestärkt die Menschen in der Überzeugung, daß sie Maschinen seien, deren Lebensdauer von gesellschaftlicher Planung abhänge. Eine Betrachtung von zwei Dutzend Untersuchungen zeigt, daß diese diagnostischen Prozeduren keine Auswirkung auf Sterblichkeit und Krankheitshäufigkeit haben. Faktisch verwandeln sie gesunde Menschen in besorgte Patienten, und die Gesundheitsrisken, die mit diesem Versuch einer automatisierten Diagnose verbunden sind, überwiegen den theoretischen Nutzen. Ironischerweise sind die asymptomatischen Störungen, die allein mit dieser Art Kontrolle entdeckt werden können, häufig unheilbare Krankheiten, bei denen Frühbehandlung zu einer Verschlechterung des Befindens führt.

Bis zu einem bestimmten Punkt ging es der modernen Medizin um therapeutische Technik — Entwicklung von Strategien für chirurgische, chemische oder diätetische Eingriffe in das Leben von Menschen, die krank sind oder es werden könnten. Da es den Anschein hat, daß diese Eingriffe nicht an Wirksamkeit gewinnen, nur weil sie teurer werden, tritt eine neue Form von Gesundtheitstechnik in den Vordergrund. Die Gesundheitssysteme legen bis jetzt das Schwergewicht auf kurative und präventive Medizin. Nun werden neue Systeme vorgeschlagen, bei denen der Akzent auf umweltbezogenem Gesundheitsmanagement liegen soll. Der Immunitätsfimmel weicht dem Hygienewahn.

Da das Gesundheitsversorgungssystem stets hinter den Anforderungen zurückbleibt, könnten Zustände, die heute als Krankheiten gelten, bald als kriminelle Anomalien gewertet werden. Obligate medizinische Intervention könnte durch zwangsweise Umerziehung oder Selbstkritik ersetzt werden. Die Konvergenz von individueller und umweltbezogener Hygienetechnik bedroht nun die Menschheit mit einer neuen Epidemie, in der ständig verkehrt wirkende Gegenmaßnahmen mit den Seuchen verschmelzen. Diesen krankbeitserregenden Zusammenfluß von technischen und nichttechnischen Funktionen der Medizin nenne ich tantalisierende Nemesis.

4 Neid der Götter: Hybris und Nemesis

Zu allen Zeiten haben sich die Menschen einen großen Teil ihrer Leiden selbst zugefügt. Die Geschichte ist eine Chronik von Versklavung und Ausbeutung. Sie handelt von Kriegen und Plünderungen, von Hungersnöten und Seuchen, die den Kriegen folgen. Krieg zwischen Staaten und Klassen war bisher die Hauptursache des selbstgemachten menschlichen Elends. Der Mensch ist daher das einzige Tier, dessen Entwicklung durch Anpassung an zwei Fronten bedingt war: Wenn er nicht den Elementen unterlag, mußte er sich dagegen wehren, von seinesgleichen gebraucht und mißbraucht zu werden. Er ersetzte die Instinkte durch Charakter und Kultur, um diesen Zweifrontenkampf führen zu können.

Homer erkannte eine dritte Front möglichen Verderbens — doch gewöhnliche Sterbliche galten als immun gegen diese Gefahr: Nemesis, der griechische Name für den Schrecken, war das Schicksal einiger weniger Heroen, die dem Neid der Götter zum Opfer fielen. Der gemeine Mann wuchs heran und starb in einem Kampf mit der Natur und dem Nachbarn. Nur die Elite wagte die Schranke zu überschreiten, welche die Natur dem Menschen gesetzt hat. Prometheus war nicht Jedermann, sondern ein Anomaler. Getrieben von Pleonexeia, radikaler Gier, überschritt er die Grenzen der Conditio humana. In Hybris oder schrankenloser Anmaßung holte er das Feuer vom Himmel und rief damit die Nemesis über sich. Er wurde an einen Felsen des Kaukasus geschmiedet. Ein Geier fraß an seinen Eingeweiden, und herzlos heilende Götter hielten ihn am Leben, indem sie ihm jede Nacht eine neue Leber gaben. Die Begegnung mit der Nemesis verlieh dem klassischen Heros die Mahnung an die unentrinnbare kosmische Vergeltung.

Heute ist die Nemesis alltäglich geworden; sie ist die Rache des Fortschritts. Paradoxerweise ist sie ebenso weit verbreitet wie Wahlrecht, Schulbildung, mechanische Fortbewegung und medizinische Pflege. Jedermann ist dem Neid der Götter zum Opfer gefallen. Die Spezies kann nur überleben, wenn sie lernt, mit dieser dritten Gefahr fertigzuwerden.

Das meiste vom Menschen erzeugte Elend ist heute ein Nebenprodukt von Unternehmungen, die ursprünglich dazu bestimmt waren, den einfachen Menschen in seinem Kampf mit den Härten der Umwelt und gegen die Willkür und Ungerechtigkeit der Herrschenden zu beschützen. Die Hauptquelle von Schmerz, Invalidität und Tod ist nun künstliche — wenn auch ungewollte — Belästigung. Die vorherrschenden Leiden — Hilflosigkeit und Ungerechtigkeit — sind Nebeneffekte von Fortschrittsstrategien. Die Nemesis ist nun so allgegenwärtig, daß man sie für einen Bestandteil der Conditio humana hält.

5 Bauer stirbt, Essen wird Gift

Schule, Verkehr, Rechtssystem, moderne Landwirtschaft und moderne Medizin illustrieren gleichermaßen das Wirken der selbsterzeugten Frustration. Das Lernen wird zum bewußten Lehren degradiert und schafft eine neue Art von Ohnmacht der armen Mehrheit, eine neue Art von Klassenstruktur. Jede Form obligaten, geplanten Lernens hat die Auswirkung, ganz gleich wieviel Geld, guter Wille, politisches Wachstum oder Pädagogische Rhetorik dafür aufgewendet wird.

Wird der Energieaufwand für die beschleunigte Fortbewegung des einzelnen über ein bestimmtes Maß hinaus getrieben, immobilisiert und versklavt die Verkehrsindustrie die Mehrheit der namenlosen Fahrgäste und bietet nur einer olympischen Elite (fragwürdige) Vorteile. Kein neuer Treibstoff, keine neue Technologie und keine öffentliche Kontrolle kann verhindern, daß die zunehmende Motorisierung der Gesellschaft in wachsendem Maß Belästigung, Abhängigkeit, Lähmung und Unbill produziert.

Jenseits eines gewissen Maßes von Investitionen in Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung muß es zu allgemeiner Fehlernährung kommen; die grüne Illusion zerfleischt die Leber des Konsumenten ärger als der Geier des Zeus. Keine biologische Technik vermag dies zu verhindern.

Jenseits eines bestimmten Punktes erzeugen Produktion und Anwendung medizinischer Mittel mehr Leiden, als sie heilen können. Soziale Sicherheit garantiert längeres Leben in Schmerzen — wirksamer als die unbarmherzigsten Götter. Der Fortschritt zieht eine Strafe nach sich, die nicht als sein Preis bezeichnet werden kann. Die Anzahlung stand auf dem Preiszettel und war eine meßbare Größe. Die Ratenzahlungen häufen sich zu einer Leidensmasse, die den Begriff „Preis“ weit überschreitet. Sie haben ganze Völker in einen Schuldturm gebracht, in dem die Qualen der Mehrheit die möglichen Gewinne einiger weniger bei weitem überwiegen. Der Bauer, der, statt sein Tuch selbst zu weben, sein Haus selbst zu bauen, seine Werkzeuge selbst anzufertigen, dazu übergeht, fertige Kleider, Zementblöcke und Traktoren zu kaufen, kann keine Befriedigung mehr finden.

Sein Nachbar, der weiterhin versucht, mit der traditionellen Art von Kleidung, Unterkunft und Produktion zu leben, ist dazu außerstande in einer Welt, in der die industrielle Nemesis vorherrscht. Dieses Dilemma ist das eigentliche Problem, das ich untersuchen will; unstillbare Gier und blinde Tollkühnheit sind nicht mehr heroisch, sie sind zu einem Teil der sozialen Pflichten des industriellen Jedermann geworden. Wenn der Bürger, gewöhnlich auf dem Weg über die Schule, in die moderne Marktwirtschaft eintritt, wird er zum Mitglied des Chors, der die Nemesis herbeiruft. Aber er schließt sich auch der Schar von Furien an, die auf jene losgelassen werden, die außerhalb des Systems stehen. Die sogenannten marginalen Teilnehmer, die sich nicht völlig in die Marktwirtschaft eingliedern, sehen sich der traditionellen Mittel, mit Natur und Nachbarn zurechtzukommen, beraubt.

An einem gewissen Punkt in der Expansion unserer großen Institutionen beginnen deren Klienten einen von Tag zu Tag steigenden Preis für ihren Bedarf zu zahlen, trotz der Gewißheit, daß sie unvermeidlich mehr zu leiden haben werden. An diesem Punkt der Entwicklung entspricht das vorherrschende Verhalten der Gesellschaft dem von Süchtigen. Die sinkenden Erträge sind nichts, verglichen mit dem wachsenden Schaden. Der „homo economicus“ wird zum „homo religiosus“. Seine Erwartungen werden heroisch. Die Schäden der ökonomischen Entwicklung überwiegen nicht nur den Preis, um den sie erkauft wurden; sie überwiegen auch alles Unheil, das Natur und Nachbar anrichten. Die klassische Nemesis war die Strafe für unbedachten Mißbrauch eines Vorrechts. Die industrialisierte Nemesis ist die Strafe für pflichtgetreue Partizipation an der Gesellschaft.

Auch der Schmerz ist für den industriellen Menschen nur noch eine technische Frage: Was muß ich in Ordnung bringen, um meinen Schmerz loszuwerden? Wenn der Schmerz anhält, dann liegt die Schuld nicht beim Universum, bei Gott, bei meinen Sünden oder beim Teufel, sondern beim medizinischen System. Leiden wird zum Ausdruck der Konsumentennachfrage nach höherer medizinischer Produktion.

Indem der Schmerz unnötig wird, wird er unerträglich. Bei dieser Haltung scheint es vernünftig, dem Schmerz zu entfliehen statt ihm zu trotzen, selbst um den Preis der Süchtigkeit. Es scheint auch vernünftig, den Schmerz selbst um den Preis der Gesundheit zu eliminieren. Es scheint weise, die Berechtigung aller nichttechnischen Probleme, die der Schmerz aufwirft, zu leugnen, selbst um den Preis der Entwaffnung all jener, deren Schmerzen nicht restlos beseitigt werden können. Eine Zeitlang kann man argumentieren, die Summe der betäubten Schmerzen in einer Gesellschaft sei größer als die Summe der neu erzeugten. Irgendwann aber setzt der „Grenzschaden“ ein. Die neuen Leiden sind unkontrollierbar, eine sinnlose, fraglose Folter. Nur die Wiedergewinnung der Bereitschaft und der Fähigkeit, zu leiden, kann den Schmerz wieder zu etwas Gesunden machen.

6 Operationen selber machen

Medizinische Eingriffe haben die Sterblichkeitsrate im ganzen nicht beeinflußt, sondern höchstens die Überlebenschancen von einem Bevölkerungsteil auf einen anderen verschoben. Die dramatischen Veränderungen im Wesen der Krankheit, von denen die Völker des Westens in den letzten 100 Jahren befallen wurden, sind hinlänglich bekannt. Die Industrialisierung bewirkte zuerst eine Zunahme, dann eine Abnahme der Infektionskrankheiten. Die Tuberkulose erreichte ihren Höhepunkt vor 75 bis 50 Jahren und ging dann zurück, bevor noch der Tuberkulosebazillus entdeckt oder Tbc-Bekämpfungsprogramme in die Wege geleitet worden waren. In England und in den Vereinigten Staaten traten an die Stelle der Tbc die Fehlernährungssyndrome, Rachitis und Pellagra, denen die Kleinkinderkrankheiten folgten, welche ihrerseits von den Zwölffingerdarmgeschwüren bei jungen Männern abgelöst wurden. Danach forderten die modernen Epidemien ihren Tribut — Koronarerkrankungen, Hypertonie, Krebs, Arthritis, Diabetes und geistige Störungen. In den USA scheint die Rate der Todesfälle infolge hypertonischer Herzschäden zu sinken. Trotz intensiver Forschung konnte kein Zusammenhang zwischen diesen Veränderungen in der Krankheitshäufigkeit und der medizinischen Berufspraxis festgestellt werden.

Die meisten jener modernen diagnostischen und therapeutischen Eingriffe, wo mehr Nutzen als Schaden entsteht, haben zwei Merkmale: sie sind überaus billig und können vom Patienten selbst oder mit Hilfe seiner Angehörigen vorgenommen werden. Der Preis der Technologie, die gesundheitsfördernde oder heilende Wirkungen zeitigt, ist so niedrig, daß die Mittel, die heute in Indien für moderne Medizin vergeudet werden, ausreichen würden, diese Heilmethoden für den ganzen Subkontinent verfügbar zu machen. Anderseits ist die Anwendung der häufigsten diagnostischen und therapeutischen Hilfsmittel so einfach, daß sie Menschen, die persönlich interessiert sind und die Weisungen gewissenhaft befolgen, mehr Nutzen zu bringen vermögen als medizinische Praxis.

Weder die Abnahme der großen epidemischen Krankheiten noch die Veränderung in der Altersstruktur der Bevölkerung noch auch das Steigen und Sinken der Absenzen an der Werkbank stehen in eindeutigem Zusammenhang mit der Krankenpflege oder auch nur mit der Immunisierung. Die Medizin hat weder ein Verdienst an der längeren Lebenserwartung noch die Schuld an der drohenden Übervölkerung. Eisenbahnen und Kunstdünger haben mehr zur Langlebigkeit beigetragen als neue Drogen und Injektionsspritzen. Die professionelle medizinische Praxis ist unwirksam und zugleich in wachsendem Maße gefragt. Diese technisch nicht gerechtfertigte Zunahme des Prestiges der Medizin ist nur ein magisches Ritual zur Erreichung von Zielen, die jenseits von Technik und Politik liegen. Man kann ihr durch Gesetze und politische Maßnahmen entgegenwirken, welche die Entprofessionalisierung der Heilkunst fördern.

Entprofessionalisierung der Medizin bedeutet nicht die Abschaffung von ärztlicher Spezialisierung, Fachkundigkeit, wechselseitiger Kritik und öffentlicher Kontrolle. Sie bedeutet jedoch die Ablehnung von Mystifikation, von transnationaler Dominanz einer orthodoxen Auffassung, der Ausschaltung von Heilkünstlern, die von ihren Patienten bevorzugt werden, aber kein Patent der ärztlichen Zunft besitzen. Entprofessionalisierung der Medizin bedeutet nicht Verweigerung öffentlicher Mittel für Heilzwecke, wohl aber ein Nein zur Verwendung solcher Mittel unter Anleitung und Kontrolle der Zunftmitglieder statt unter der Kontrolle des Konsumenten. Entprofessionalisierung bedeutet weder Eliminierung der modernen Medizin oder Unterbindung neuer medizinischer Methoden noch unbedingt die Rückkehr zu alten Praktiken, Ritualen und Mitteln. Sie bedeutet, daß kein professioneller Arzt die Macht haben soll, einem seiner Patienten ein größeres Maß an Heilkunst zuteil werden zu lassen als einem anderen. Und schließlich bedeutet Entprofessionalisiertung der Medizin nicht Außerachtlassung der besonderen Bedürfnisse, die Menschen in besonderen Augenblicken ihres Lebens haben: wenn sie auf die Welt kommen, sich ein Bein brechen, heiraten, gebären, invalid werden oder vom Tod bedroht sind. Sie bedeutet nur, daß die Menschen das Recht haben, in einer Umwelt zu leben, die an solchen entscheidenden Punkten des Lebens freundlich zu ihnen ist.

7 West- und Ostmedizin gleich krank

Wo immer die moderne medizinische Zivilisation eine traditionelle Heilkunst verdrängt hat, wurde ein neues Kulturideal vom Tod gezüchtet. In primitiven Gemeinschaften wird der Tod stets als Eingreifen einer personalen handelnden Kraft aufgefaßt: eines Feindes, einer Hexe, eines Ahnen oder eines Gottes. Christen und Mohammedaner des Mittelalters sahen in jedem Todesfall die Hand Gottes. Bis ungefähr 1420 hatte im Westen der Tod kein Gesicht. Das westliche Ideal des Todes, der naturgemäß zu allen ohne Unterschied kommt, ist relativ jungen Ursprungs.

Erst im Herbst des Mittelalters erscheint der Tod als Knochenmann mit eigener Machtvollkommenbheit. Und erst im 16. Jahrhundert entwickelten die Völker Europas als Antwort darauf „die Kunst und Fertigkeit, zu wissen, daß man sterben muß“. In den folgenden Jahrhunderten bereiten sich Bauer und Edelmann, Priester und Hure ihr Leben lang darauf vor, ihrem Tod würdig zu begegnen. Der böse, der bittere Tod wurde zum Ende statt zum Ziel des Lebens. Die Vorstellung, daß der natürliche Tod einen erst in gesundem Greisenalter ereilt, taucht im 18. Jahrhundert klassenspezifisch bei der Bourgeoisie auf. Die kostspieligen Versuche, das Leben zu verlängern, wurden zuerst bei Bankiers unternommen, deren Gesundheit durch die am Schreibtisch verbrachten Jahre erschüttert war.

Die krankmachenden technischen und nichttechnischen Folgen der Institutionalisierung der Medizin vereinigen sich, um eine neue Art von leidendem, anästhetisiertem und einsamem Überleben in einer weltweiten Krankenhausstation hervorzubringen. Entweder werden die natürlichen Grenzen des menschlichen Strebens bejaht, erkannt und in politisch determinierte Schranken umgesetzt, oder die einzige Alternative zum Aussterben ist das zwangsweise Überleben in einer geplanten technisierten Hölle.

In mehreren Ländern ist die Öffentlichkeit bereit, das Gesundheitssystem zu revidieren. Die Frustrationen, die sich aus privaten wie aus sozialisierten Systemen ergeben, ähneln einander erschreckend. Die Unterschiede zwischen den Beschwerden der Russen, der Franzosen, der Amerikaner und der Engländer sind belanglos geworden. In reichen wie in armen Ländern ist das Verlangen nach Reformierung der staatlichen Gesundheitsfürsorge beherrscht von Forderungen nach gleichem Zugang zu den Leistungen der Zunft, nach professioneller Expansion und Entprofessionalisierung, nach mehr Wahrhaftigkeit in der Propagierung des Fortschritts und nach Laienkontrolle.

Noch ist es Zeit, eine Debatte zu vermeiden, die ein frustrierendes System weiter stärken würde.

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