ZOOM 3/1996
Juni
1996

Ghetto – Geheimes Leben einer Stadt

Zwei Belgrader Filmemacher bannen den wütenden Protest isolierter Belgrader Rockmusiker in beklemmende Bilderfolgen. „Geto — Tajni Zivot Grada“ (Ghetto — Secret Life of a City) – eine schonungslose Abrechnung mit dem Belgrader Regime.

Nach fast vollständigem Abbruch der Beziehungen wurde der Dialog mit Restjugoslawien wieder aufgenommen. Im Palais Liechtenstein fand eine internationale Konferenz mit kultureller Begleitveranstaltung statt. Einerseits im Symposium „Beli Grad – Die weiße Stadt“, wo die intellektuelle Opposition mit RegierungsvertreterInnen zusammenprallte. Andererseits auf kultureller Schiene: „Out Of Chaos“ präsentierte serbische KünstlerInnen, die sich mit den Folgen des westlichen Boykotts auseinandersetzten.

Eindeutiger Höhepunkt war jedoch der Film „Ghetto – Geheimes Leben einer Stadt“. Mladen Maticevic und Ivan Markov widmen ihren Film der trotz schlechter Bedingungen florierenden Underground-Szene Belgrads. „Ghetto“ zeigt das kreative Potential der Hauptstadt Restjugoslawiens. Ein anklagendes Dokument, das die Ursachen des Braindrains von Jugendlichen und Intellektuellen klar den Machthabern zuordnet. Selbst der durch ein verändertes Belgrad führende Hauptdarsteller, Goran Cavajda, u. a. Schlagzeuger der Rockband Elektricni Orgazam, der als Integrationsfigur wie kein anderer die subkulturelle Szene repräsentiert, ist nach Tasmanien ausgewandert.

ZOOM bringt einen Auszug aus einem Gespräch mit den beiden Regisseuren.

ZOOM: Wie ist der Film entstanden?

Mladen Maticevic: Unser Gedanke war, einen Film über die Situation in Belgrad zu drehen. Wir wollen zeigen, daß Belgrad zwei Gesichter hat: Das eine ist Alltagspolitik mit leidenden Menschen, das andere besagt, daß Belgrad trotz der schlechten Lage über große KünstlerInnen und Rock ’n’ Rollbands verfügt. Es stellte sich heraus, daß ein Road Movie dies am besten könnte. Also suchten wir uns eine Person heraus, die durch Belgrad führt. Dann nahmen wir Kontakt mit weiteren KünstlerInnen und Bands auf und drehten die Szenen. Erst danach schrieb ich gemäß unserer Gefühlslage den Text.

Ivan Markov: Weil wir den Film vor zwei Jahren drehten und sich die politische Situation änderte, der Krieg beendet wurde.

MM: Wir änderten den Text, weil die Lebenssituation generell immer noch sehr schlecht ist. Es schaut nur anders aus, wenn die Umstände andere sind. Es wird versucht, alles zu übertünchen.

IM: Trotz Kriegsende haben viele Leute immer noch zu wenig zu essen. Nur auf den ersten Blick schaut’s ein bißchen besser aus.

MM: Es gibt keine Perspektive. Die Wirtschaft liegt danieder, weil sie nur in den Händen der Regierung konzentriert ist. Du kannst wirtschaftlich nichts bewegen, wenn du nicht mit der Regierung, der sozialistischen Partei kooperierst.

Es schaut ein bißchen freundlicher aus, weil du nicht mehr zum Krieg eingezogen werden kannst. Die Menschen leben aber in sehr schlechten Umständen, denn Jugoslawien hatte einen akzeptablen Lebensstandard aufzuweisen, viel besser als im damaligen Ungarn oder der CSSR.

Wie habt Ihr euch 1991 gefühlt, als Jugoslawien zerbrach? Ihr konntet in eurer Ohnmacht nichts tun, außer Protest zu erheben.

MM: Die Leute hielten große Demonstrationen ab. 1991 kam es deshalb zu großen Zusammenstößen mit dem Regime. Sie forderten eine Machtablöse, wollten den Krieg in Kroatien und Bosnien stoppen. Speziell in Belgrad gibt es eine groß Anzahl von Menschen, die den Krieg nicht wollten.

IM: Wobei für uns kaum ein Unterschied zwischen Milosevic, Tudjman und Izetbegovic besteht, sie sind alle dieselben.

MM: Sind alle dieselben Bastarde. In Belgrad gibt es zwei Sorten von Menschen. Die einen, die Milosevic unterstützten, und die anderen, die in Opposition waren. Die Opposition war sehr stark, vor allem 1992, als 300.000 Leute demonstrierten. Aber Europa bemerkte das nicht. Es schaut ja fast so aus, als ob Europa Milosevic in seiner Obhut hätte.

IM: Wir demonstrierten für die Freiheit der Rede, für freie Information, freies TV.

MM: Zuvorderst aber für ein Ende des Krieges. Aber nichts passierte, weil bei der erstbesten Gelegenheit die Panzer gerufen wurden.

IM: Das passierte zuerst in Serbien, noch vor dem Krieg. Am 9. März 1991 setzte die Armee Panzer in Belgrad ein.

Der erste Armeeeinsatz war einer gegen das eigene Volk?

MM: Ja, konstant haben dann Leute, die gegen das Regime sind, das Land verlassen. 500.000 Leute, besonders junge zwischen 18 und 25, Intellektuelle, WissenschafterInnen verließen Serbien.

IM: Mit dem Video wollen wir zeigen, daß es in Belgrad immer noch KünstlerInnen, Rock ’n’ Roll-Bands, einen Underground gibt. Was viele Leute nicht wissen.

MM: Wir haben das Gefühl, daß viele Menschen im Ausland nicht wissen, daß es solche Leute wie uns gibt. Belgrad war ein riesiges Kulturzentrum, mit einer Menge an Ausstellungen, Konzerten. Viele Leute aus der Szene sind jetzt Flüchtlinge, die Häuser putzen oder kellnern. Regisseure, Schriftsteller, Ingenieure. Dieser Film will verständlich machen, daß, wenn man einer Person aus Belgrad im Westen begegnet, sie vielleicht eine ist, die in unserem Film hätte mitspielen können. Vielleicht ist der Kellner im Restaurant ein Rocksänger, der große Gedanken und Ideen wälzt. Einer, der sein Land, seine Sprache zurücklassen mußte.

Ist das euer erster Film?

MM: Der erste Film dieser Länge. Wir haben kürzere, Dokumentationen, Videoclips, TV-Shows gedreht.

Mit politischem Inhalt?

MM: Nein, „Ghetto“ ist nicht wirklich politisch gemeint. Aber wenn du in Belgrad etwas über dein Leben erzählen willst, tangierst du unvermeidlich Politik.

Im Staats-TV kann der Film aber sicher nicht gezeigt werden.

MM: Natürlich nicht. Er spuckt auf das Staatsfernsehen.

IM: Es war unser Wunsch. Wir wollten sagen, daß wir sie (das Regime, Anm.) nicht mögen.

MM: Wir wollten sagen: Fuck you, wir sind keine Sozialisten, wir wollen den Krieg nicht. Wenn wir Sozialist sagen, meinen wir das Regime. Sie haben überhaupt keine politische Idee, weil sie nur am Machterhalt interessiert sind.

Deswegen rührte mich Euer eine fast ausweglose Wut ausdrückender Text, dem ihr dem Protagonisten, Goran Cavajda, in den Mund legt. Die Machthaber instrumentalisieren die Leute, und diese merken die Propaganda oft nicht einmal.

MM: Man kann die Menschen nicht generell tadeln, man kann sie rügen, nicht politisch bewußt zu sein. So etwas könnte mehr oder weniger in jedem Land passieren. Leute aus Österreich oder Deutschland haben eine falsche Vorstellung davon, wie der Konflikt entstand. Daß die Serben den Krieg begonnen hätten. Das waren die Regierungen in Zagreb und Belgrad, um die Macht zu kriegen. Weil wir nicht hingingen, konnten wir zu einem gewissen Prozentsatz noch schrecklicheren Dingen Einhalt gebieten. Solltest du nach Jugoslawien kommen, solltest du mit jenen Menschen Kontakt haben, die Gegner des Regimes sind.

IM: Wir wollen auch gerne von Leuten aus Zagreb hören, was ihnen widerfahren ist.

Tudjman ist ja noch um einiges restriktiver.

MM: Da besteht ein großer Unterschied. In Zagreb hätte dieser Film nicht gedreht werden können. Wenn du dich in Belgrad über Milosevic aussprichst, wirst du nicht abgeführt. Heute sahen einige Leute, die dem Regime angehören, unseren Film.

Was haltet ihr eigentlich vom aus Bosnien stammenden Regisseur Emir Kusturica, von seinem Film „Underground“?

MM: Wir finden ihn aus verschiedenen Gründen nicht gut. Einige sind künstlerischer Natur, ein anderer ist, daß er in gewisser Weise der Repräsentant des serbischen Regimes ist.

Wurde der Film in Serbien gedreht?

IM: Das ist nicht ausschlaggebend, auch nicht, daß er von Serbien mitfinanziert wurde. Der springende Punkt ist, daß er – das ist meine private Meinung – als derart berühmter Filmemacher eine unabhängige Position einnehmen hätte müssen. Er verkauft Europa, was Europa von uns zu sehen bekommen will. Aber wir sind nicht alle so. Kusturica repräsentiert Leute wie uns nicht. Wir oder andere Regisseure repräsentieren Leute, wie wir sie sind. Deswegen mögen wir Kusturica nicht.

Im Gegensatz zu Kusturica könnt ihr tatsächlich wenig bewirken. Wie aber kann mensch dieses Regime loswerden?

MM: Dieses Regime ist sehr clever. Wir glauben sogar, daß es Unterstützung von Westeuropa und Amerika erhält. Sonst hätten die westeuropäischen Staaten die demokratische Opposition in Serbien unterstützt. Aber sie taten es nicht. Man kann daher nicht nur die Leute in Serbien tadeln.

Bis heute nicht, nur die George-Soros-Foundation hilft.

MM: Ja, aber Soros gewährt kulturelle Hilfe. Als 300.000 Menschen 1992 vor der Nationalversammlung und dem TV-Gebäude demonstrierten, rief ich eine Freundin in New York an. Sie hat aber nichts davon im TV gesehen. Jetzt realisieren wir, daß es einen Grund gab, daß das nicht gezeigt wurde. Wäre das überall eine Headline gewesen, hätten alle gesagt: Gut 300.000 haben demonstriert, diese Stadt hat ein großes Potential! Diese Stadt kann Milosevic nicht leiden, weil sie ihn schlecht findet.

Jetzt aber ist er an der Macht, hat das ganze Geld, hat die ganze Armee und Polizei hinter sich.

IM: Milosevic – wir sprechen die ganze Zeit schon über Politik – ist darüber hinaus einer, der sein eigenes Volk nicht mag.

MM: Nationalismus war ihm nur Werkzeug. Jetzt ist er der nette Herr, Mr. Peacekeeper, der Friedensverhandler. Fuck, morgen wird er vielleicht Rock-’n’-Roll-Sänger sein, wenn er es braucht.

IM: Er wurde im selben Jahr wie Mick Jagger geboren.

Am Ende des Films wurde der Glaube an Gott in den Vordergrund gerückt. Damit habt ihr klar die Grenze zwischen Gut und Böse gezogen. Geschah dies, um Hoffnung zu zeigen?

IM: Ja, wir wollen Hoffnung geben.

Vorspann zum Film

"Das ist Belgrad, eine Stadt, die nichts Gemeinsames mehr hat mit der Hauptstadt des ehemaligen Jugoslawien. Obwohl sie vom Dach meines Hauses gleich ausschaut wie vor zehn oder fünfzehn Jahren, sehen die Dinge da unten ganz anders aus. Diese Stadt liebte ich einst, weil mein Leben in ihr eine große Party war. Manchmal bedauerte ich, daß es nicht Amsterdam war, doch öfter war ich glücklich, daß es nicht Ostberlin war. Heute begreife ich, daß diese Mitte super für’s Leben war ... Und dann wurde es finster ... Am Anfang, vor sieben, acht Jahren, hat niemand begriffen, worum es ging. Ein Haufen Menschen schmiß sich in diesen Tumult rein, die anderen wurden melancholisch. Niemand ahnte, daß in die Stadt der Teufel selbst kommt. Als die Dinge klarer wurden, war’schon zu spät. Die Stadt war zwischen ’uns’ und auf ’ihnen’ geteilt. ’Sie’ besetzten, mit roter Rose hinter dem Ohr, alle wichtigen Ämter und dachten sich Feinde aus, und dann stürzten sie alle anderen in die Hölle.

Am Anfang gab es von ’uns’ genug, um sich zu widersetzen, und ich werde nie begreifen, warum wir gescheitert sind ... Ich hatte keinen Schiß vor Panzern oder Scharfschützen ... wir konnten sie zerschlagen, aber unsere Anführer machten sich in die Hosen ... vielleicht wollten sie auch gar nichts verändern ... Unsere Energie erschöpfte sich bei diesen Überlegungen, und Belgrad verwandelte sich in ein KZ.

Seitdem regieren ’sie’, und wir überleben. Einige von uns hauten ins Ausland ab, und andere sind still geworden. Am schlimmsten sind diejenigen dran, die sich mit Art und Rock ’n’ Roll befassen ... Wer nicht mitmachen wollte, wurde zur Seite geschoben. Die ’Kulturinstitutionen’ ziehen sie raus, nur wenn sie ein Alibi brauchen. Und dann werden sie wieder begraben. Obwohl diese Künstler super Sachen machen, weiß man über die meisten nirgendwo Bescheid. Wenn sie jemand kennenlernen wollte, könnte er es nicht. Denn diese Menschen leben und arbeiten ganz chaotisch. Es gibt weder eine Institution noch ein Medium oder einen Raum, der sie umfassen würde. Und nur wenige Freunde können sie finden. Wenn ich genug habe, genug von diesem Dach habe, gehe ich sie besuchen."

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