FORVM, No. 202/II/203/I
Oktober
1970

Goethe für Fortschrittliche

Lukács-Laudatio, Paulskirche, 28.8.1970

I. F., Philosoph, Soziologe, Politologe, Ordinarius der Goethe-Universität Frankfurt, Mitglied der Internationalen Redaktion des NF, befaßte sich — ursprünglich protestantischer Theologe — mit Marxismus schon zu Zeiten, als dieser in Adenauers Reich noch des Teufels war: als Herausgeber der „Marxistischen Studien“, später der Marx-Studienausgabe der Fischer-Bücherei. I. F. ist einer der ganz wenigen „Liberalen“, die den Ansturm der Studentenbewegung heil überlebten, nämlich mit durchgehaltener Öffnung nach links.

I. Ästhetik

Indem sie Georg Lukács ehrt, ehrt die Stadt Frankfurt zugleich sich selbst. Sie verleiht den Goethepreis einem weltberühmten und bedeutenden marxistischen Gelehrten, dessen politische Überzeugung kein Mitglied des Magistrates teilt. Sie beweist damit, daß sie zu jener progressiven, mutigen und toleranten Haltung zurückgefunden hat, die zum ersten Male bei der Zuerkennung des Goethepreisess an Sigmund Freud im Jahre 1940 zum Ausdruck kam.

Aber, auch wenn sich der Frankfurter Magistrat nicht mit dem Kommunisten Lukács einig weiß, mit dem humanistischen Antifaschisten steht er gewiß auf einer Seite. 25 Jahre nach dem Ende Nazideutschlands ist es gewiß an der Zeit, endlich auch in der Bundesrepublik einen Gelehrten öffentlich zu würdigen, der, wie wenige in der Epoche manifest gewordener Barbarei, an die besseren Traditionen auch und gerade des deutschen Bürgertums erinnernd, dafür gesorgt hat, daß die deutsche Kultur nicht mit dem damals herrschenden Ungeist identifiziert wurde.

Sein Freund Thomas Mann, ein anderer würdiger Träger des Goethepreises, hat es ihm stets gedankt.

Als eine Gelehrtengestalt von beeindruckender Größe ragt Georg Lukács in unsere Gegenwart herein. Seit 67 Jahren hat er auf den verschiedensten Gebieten der Ästhetik, Literaturwissenschaft, Philosophie, Ethik und Politik gearbeitet und publiziert. An zwei revolutionären Umwälzungen und jahrzehntelangen politischen Kämpfen hat er teilgenommen. Von der Gründung einer eigenen Bühne im Jahre 1904 über die Tätigkeit in der ungarischen Räteregierung des Jahres 1919 bis zur ungemein fruchtbaren wissenschaftlichen Arbeit des emeritierten Gelehrten, der sich um eine Erneuerung des kritischen marxistischen Denkens auf dem Gebiet der Ästhetik, Ethik und Ontologie bemüht, spannt sich der weite und widerspruchsreiche Bogen.

Gibt es eine Einheit in dieser Vielfalt der Aktivitäten und Lebensbezüge? Kann man ein Leitmotiv herauslösen, das immer wieder anklingt, sich — durch alle Entwicklung und Veränderung hindurch — erhält? Mir scheint, dieses einheitsstiftende Leitmotiv kann in Lukács’ Humanismus gefunden werden.

In einem Humanismus, der zunächst ästhetisch, schönheitstrunken und ichbezogen gefärbt war, um dann im Laufe der Zeit und unter dem Eindruck der politischen Kämpfe immer entschiedener sozial und revolutionär zu werden. Der junge Lukács dachte an eine literarische Tätigkeit, glaubte wie Wilhelm Meister an seine „theatralische Sendung“. Aber noch der Essayist, der 1911 „Die Seele und die Formen“ und 1916 „Die Theorie des Romans“ schrieb, war zumindest ebensosehr an der literarischen Form wie am Inhalt seiner Aussagen interessiert. Der Anfang der Theorie des Romans klingt beschwingt und faszinierend wie ein Gedicht in Prosa:

Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt. Alles ist neu für sie und dennoch vertraut, abenteuerlich und dennoch Besitz. Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus, denn das Feuer, das in der Seele brennt, ist von derselben Wesensart wie die Sterne ...

(S. 9)

Lukács’ Charakterisierung des großen Epos strömt noch heute beim Lesen jene verhaltene Sehnsucht aus, die er damals zusammen mit seinen Zeitgenossen, die das Klassische als eine mythische Frühzeit entdeckt hatten, empfand:

Wenn die Seele noch keinen Abgrund in sich kennt, der sie zum Absturz locken oder auf wegelosen Höhen treiben könnte, wenn die Gottheit, die die Welt verwaltet und die unbekannten und ungerechten Gaben des Geschickes austeilt, unverstanden aber bekannt und nahe den Menschen gegenübersteht, wie der Vater dem kleinen Kinde, dann ist jede Tat nur ein gutsitzendes Gewand der Seele. Sein und Schicksal, Abenteuer und Vollendung, Leben und Wesen sind dann identische Begriffe. Denn die Frage, als deren gestaltende Antwort das Epos entsteht, ist: Wie kann das Leben wesenhaft werden? Und das Unnahbare und Unerreichbare Homers stammt daher, daß er die Antwort gefunden hat, bevor der Gang des Geistes in der Geschichte die Frage laut werden ließ ...

(S. 11)

Man spürt, dieser Essay, der eine Geschichtsphilosophie der Formen großer Epik von Homer bis Goethe und Tolstoi skizziert, ist selbst ein Stück schöner Literatur. Der Autor sucht sich in ihm nicht nur darüber klarzuwerden, was den bürgerlichen Roman von vorbürgerlicher Epik unterscheidet und wie diese Unterscheidung mit der neuen Stellung des Individuums und seinem Verhältnis zur Gattung zusammenhängt, er genießt auch zugleich die schöne Form, in die er seine Gedanken gekleidet hat.

Zur Zeit seines Essaybandes „Die Seele und die Formen“ begeisterte sich Lukács — den meisten seiner Zeitgenossen weit voraus — für Kierkegaard und Novalis und ließ selbst den priesterlichen Ästheten Stefan George gelten. In dem Maße aber, in dem er sich — auf dem Umweg über Hegel und Georg Simmels soziologisch-geschichtsphilosophische Betrachtungsweise — von seinem individualistischen Ästhetizismus löste, begann er seine Faszination durch den schönen Klang der eigenen essayistischen Sprache zu verurteilen, unterwarf er seinen Stil einer strengen Ernüchterungskur. Die Sprache des Wissenschafters, Kritikers, Polemikers verlor ihren Schmelz, sie trat als bescheidenes Mittel in den Dienst des politisch-sittlichen Zweckes, der aufklärenden Belehrung.

II. Kommunismus

Die Wendung, mit der sich Lukács von seiner früheren Tätigkeit loslöste, um der revolutionären Arbeiterbewegung sich anzuschließen, war zweifellos ethisch motiviert.

Sie führte daher auch zu einer weit schärferen Verurteilung seiner eigenen Frühphase als es sonst der Fall gewesen wäre. Die vielfach mit Kopfschütteln registrierte Schärfe seines Urteils — etwa gegenüber Kierkegaard, George, Nietzsche, Rilke — läßt sich gewiß unter anderem auch aus dem entschlossenen Willen erklären, die Brücken zur eigenen Frühphase abzubrechen. Sie richtet sich gegen die eigene Vergangenheit.

„Omnis determinatio est negatio“, jede Bestimmung ist zugleich eine Verneinung. Man kann nicht zugleich voll und ganz der theoretischen Aufklärung und der politischen Aktion sich verschreiben und ästhetisierend die Schönheit des eigenen Stils genießen wollen. Was Freunde wie Ernst Bloch bedauerten, Georg Lukács konnte es als Emanzipation von bürgerlich-individualistischem Ästhetizismus und damit als Fortschritt empfinden.

Abschied nehmend von seiner Frühphase und ihrem beschwingten Stil war Lukács aber gewiß, seinen „aufrichtigen Jugendgedanken“ die Treue zu halten. Was er zunächst nur für sich selbst in der schönen Literatur gesucht hatte, das wollte er nun in der marxistischen literaturkritischen Theorie und in der sozialistischen Praxis für die ganze Gesellschaft finden und verwirklichen helfen.

Den Übergang bildet — wenn nicht biographisch, so doch gewiß systematisch — die Reflexion auf den emanzipatorischen Gehalt der klassischen deutschen Literatur und Philosophie.

In der Philosophie war es vor allem Hegel, der es Lukács erlaubte, die Verbindung herzustellen zwischen seiner philosophischen Ausbildung und der neuen politischen Aktivität. In der Dichtung war es in erster Linie Goethe. Von dessen „Wilhelm Meister“ schreibt er 1916: „So steht diese Innerlichkeit in der Mitte zwischen Idealismus und Romantik und wird, in sich eine Synthese und Überwindung beider versuchend, von beiden als Kompromiß abgelehnt“ (S. 142). Goethe versuchte hier eine „Art Gleichgewicht von Aktivität und Kontemplation“ zu erreichen, von Einwirkenwollen auf die Welt und Aufnahmefähigkeit ihr gegenüber“ (a.a.O.). Vielleicht ist es kein Zufall, daß der junge Lukács hier eine Formel gefunden hat, die man ebenso auf seinen Lebensweg anwenden könnte, auch wenn das Gleichgewicht ungleich auf die verschiedenen Lebensabschnitte verteilt war.

Goethes humanistischer Ansatz: einen Menschen zu allseitiger Entfaltung seiner Fähigkeiten und umfassender Wirkung gelangen zu lassen, und der gleichzeitige Wille zu nüchterner Realitätsgerechtigkeit führen zu stilistischen Schwierigkeiten, die das Überwiegen des „Wunderbaren“ und Geheimnisvollen im letzten Teil der „Lehrjahre“ zur Folge hatten. Die soziale Realität der zeitgenössischen Gesellschaft erlaubt — ohne Hinzuerfindung derartiger geheimnisvoller Organisationen und Personen, wie sie Goethe einführt — nicht die Entfaltung des humanen Individuums. Goethe muß, um sein Ziel zu erreichen, „bestimmte Teile der Wirklichkeit idealisieren und romantisieren“ (S. 149). Das Zeitalter war nicht „auf dieses Sinnesniveau heraufzuzwingen“ (S. 156). Was Kritiker Goethe als subjektive Schwäche angelastet haben, in Wirklichkeit war es Folge der objektiven Unmöglichkeit, im Rahmen der existierenden bürgerlichen Gesellschaft eine substantielle Gemeinschaft freier und entfalteter Individuen zu realisieren. Worauf die große humanistische Dichtung und Philosophie tendiert: die Befreiung und Entfaltung vollendeter Menschlichkeit in einer freien Gesellschaft, dafür entschließt sich Lukács 1918 im Rahmen der revolutionären Arbeiterbewegung zu kämpfen.

Er hat diesen Kampf nie mehr aufgegeben.

III. Proletariat

Sein bekanntestes Frühwerk, die Aufsatzsammlung „Geschichte und Klassenbewußtsein“ markiert den Übergang von Hegel zu Marx, den der junge Kommunist Georg Lukács zu Beginn der zwanziger Jahre vollzieht. Ähnlich wie er dies später Thomas Mann nachgesagt hat, vollzieht auch Lukács politisch raschere Konsequenzen aus der veränderten Weltlage als „auf weltanschaulichem und kritischem Gebiet“.

Das Buch „Geschichte und Klassenbewußtsein“ hat mehrere Generationen bürgerlicher radikaler Intellektueller fasziniert und für den Marxismus gewonnen. Seine Anziehungskraft hat es bis heute nicht verloren, auch wenn sein Verfasser schon wenige Jahre später, nach Kennenlernen der Marxschen Frühschriften sich von seiner damaligen Auffassung distanziert und sie einer entschiedenen Kritik unterworfen hat.

Grund dieser Faszination ist, daß Lukács in dem Hauptessay „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“ nachweist, wie alle theoretischen Probleme, auf die die große deutsche Philosophie von Kant bis Hegel stieß, durch die von Marx entwickelte Theorie und die aus ihr resultierende revolutionäre Praxis gelöst werden können.

Die klassische deutsche Philosophie sei, so erklärte Lukács, zwar bis zur „Substanz“ der sich verändernden Realität vorgedrungen, nämlich bis zur Geschichte, aber sie habe sich außerstande gezeigt, „das ‚Wir‘, das Subjekt der Geschichte, jenes ‚Wir‘, dessen Handiung die Geschichte wirklich ist, konkret“ aufzuzeigen (S. 161).

Hier habe sich die Hegelsche Philosophie „ins ausweglose Labyrinth der Begriffsmythologie verirrt“.

Lukács unternimmt es nachzuweisen, warum das so sein mußte. Dieses geschichtserzeugende „Wir“ oder „das Subjekt der Tathandlung“, wie sich Lukács Fichtesch ausdrückte, kann erst die Klasse erkennen, die es „von ihrem Lebensgrund aus in sich selbst zu entdecken befähigt war: das Proletariat“ (S. 164). Das Proletariat, sobald es sich zur seibstbewußten revolutionären Aktion vereinigt hat, wird realiter zu jenem Subjekt-Objekt, das Hegel lediglich in der mythologischen Form des Weltgeistes darstellen konnte.

Die Schwäche von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ scheint mir vor allem darin zu liegen, daß hier allein oder doch fast ausschließlich das Klassenbewußtsein — und obendrein ein ziemlich abstrakt definiertes — zum Motor der geschichtlichen Umwälzung gemacht wird. Es fehlt so gut wie ganz die Darstellung jener objektiv-dialektischen Strukturen, deren Dynamik und notwendiger Entwicklungstendenz nach Marx zuallererst die Schaffung revolutionärer Veränderungsmöglichkeiten zu danken ist.

Unter dem Banne Hegels sieht Lukács auch nicht, daß das entscheidende Ziel der revolutionären Umwälzung gerade die Sprengung jenes dialektischen Totalitätszusammenhangs ist, dessen „Subjekt“ als „sich verwertender Wert“ oder „Kapital“ Marx darstellend rekonstruiert hat. Zwischen den philosophischen Problemen der Klassiker und dem Selbstbewußtsein des Proletariats vermittelt bei Lukács nur der Begriff der Ware und der Selbsterkenntnis der Ware im Proletariat. Die Ware ist aber nur eine Erscheinungsweise des Wertes, und das Selbstbewußtwerden dieser Erscheinungsweise reicht nicht aus, um das System der Verwertung aufzuheben.

Das mag als Andeutung in diesem Zusammenhang genügen.

Lukács selbst hat — im Anschluß an die heftige Parteikritik an seinem Buch — vor allem seine Ablehnung der Natur-Dialektik und der materialistisch-realistischen Erkenntnistheorie kritisiert. Mir scheint, daß er in diesen Punkten eher recht gehabt hat.

Unberührt von eigener Kritik wie fremder scheint mir aber das Verdienst zu bleiben, daß Lukács die unüberwindbare Erkenntnisschranke der klassischen deutschen Philosophie aufgezeigt und auf die Möglichkeit ihrer Aufhebung in einer bewußt die Wirklichkeit umgestaltenden proletarischen Revolution hingewiesen hat. Dieser Zusammenhang ist auch bei Marx selbst nie so eindringlich aufgezeigt worden. Für Lukács stellt er zugleich die Brücke dar, über die er zum Marxismus gelangte.

IV. Goethe

Man kann sich fragen, warum Lukács nach der Kritik und Selbstkritik an „Geschichte und Klassenbewußtsein“ und anderen Schriften der zwanziger Jahre nicht begonnen hat, ein philosophisches Buch zu schreiben, um die erkannten Fehler zu überwinden oder durch Studien der Naturdialektik und der Ökonomie seine Wissensbasis zu verbreitern. Vermutlich hing diese theoretische Abstinenz unter anderem auch mit der zunehmenden Einschränkung der theoretischen Diskussionsfreiheit in der Stalinära zusammen, die einer Entfaltung marxistischer Theorie alles andere als förderlich war.

Georg Lukács aber wollte in der Kommunistischen Partei bleiben, weil er überzeugt war, daß allein sie ein Instrument revolutionärer Veränderung sein könne. Innerhalb der Partei und doch nicht ohne kritische Vorbehalte gegenüber der Stalinschen Führung war es naheliegend, daß er sich erneut auf jenes Tätigkeitsfeld zurückzog, das weniger unmittelbar von Stalinschen Sprachregelungen und Direktiven betroffen war als die allgemeine marxistische Theorie: auf die Literaturwissenschaft und Literaturkritik.

Lukács’ erneute Beschäftigung mit Literaturgeschichte und Kritik stand unter dem doppelten Zeichen des Kampfes gegen den heraufziehenden und siegreichen Faschismus in Deutschland und der — verdeckten und indirekten — Auseinandersetzung mit den Deformationen des sozialen und kulturellen Lebens in der Stalinzeit. In beiden Fällen wurden die klassischen Autoren der Vergangenheit zu Bundesgenossen. So entstanden in den dreißiger Jahren unter anderem zahlreiche Artikel, die später in den Sammelband „Goethe und seine Zeit“ aufgenommen und durch eine Festrede zu Goethes zweihundertstem Geburtstag abgeschlossen wurden.

Schon der Titel dieser Aufsatzsammlung ist ein kritisches Programm. Gegen den Goethekult der Gundolf-Schule und die Subsumierung der ganzen Epoche unter die Person Goethes durch H. A. Korff wird hier auf die Bedingtheit des Dichters durch seine Zeit verwiesen. Goethe selbst war sich dieser Bedingtheit wohl bewußt. Im hohen Alter sagt er einmal zu Eckermann:

Ich habe den großen Vorteil, daß ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so daß ich vom Siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der Französischen Revolution und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hierdurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werden.

Lukács versucht daher auch nicht einen „Geist der Goethezeit“ zu beschwören und — wie das eine mystifizierende Literaturwissenschaft zeitweilig zu tun versuchte — Klassik und Romantik zu einem einheitlichen Gebilde zu vermengen, sondern unternimmt es, Goethe in seiner Zeit nach dessen eigenen Intentionen und objektiven Möglichkeiten darzustellen.

In einer Auseinandersetzung mit Thomas Manns Stilisierung des Unterschiedes von Schiller und Goethe zu einem Gegensatz von „humanitär-revolutionärer“ und „antipolitisch-konservativer“ Haltung schreibt Lukács:

Die große Blütezeit der deutschen Dichtung und Philosophie ist eine Vorbereitungsperiode der bürgerlichen Revolution, und zwar eine solche, in der die objektiven Bedingungen der Revolution noch nicht gegeben waren. Der stürmisch ungeduldige, mitunter sogar dogmatischblinde Subjektivismus einiger großer Figuren dieser Periode ist also keineswegs ein Import aus Frankreich, sondern im Gegenteil das notwendige Produkt dieser deutschen Verhältnisse. Und im ergänzenden Gegensatz dazu sind die konservativen Bestrebungen anderer großer Gestalten dieser Periode (in erster Reihe Goethes und Hegels) stets Versuche, den gesellschaftlichen und kulturellen Inhalt der bürgerlichen Revolution, den Humanismus dieser Periode, auf nicht revolutionärem Wege durchzusetzen.

(Schicksalswende 1948, S. 258)

Lukács ist — wie man sieht — weit davon entfernt, Goethe als einen „Revolutionär“ umzudeuten, aber er sieht ihn doch auch nicht als reinen Konservativen. Das Bewahrenwollende in Goethes Haltung erscheint ihm zugleich als eine Abwehr gegenüber entmenschlichenden Tendenzen des heraufziehenden Zeitalters. Seine Ablehnung des subjektiven Aktivismus eines Fichte begreift er als Folge realistischer Einsicht in das Fehlen ausreichender, auf eine Veränderung des Status quo dringender sozialer Kräfte.

Georg Lukács hat die Literatur der deutschen Klassik von spießbürgerlicher Stilisierung ebenso frei gemacht wie von reaktionärer Mißdeutung. Er hat sie eingeordnet in den großen Zusammenhang der europäischen Emanzipationsbewegung von der Renaissance und Aufklärung bis zu den bürgerlichen Revolutionen.

Lukács blickt auf diesen Zusammenhang zurück vom Standpunkt einer sozialistischen Revolution, der er wünscht, sie möge erfolgreich vollenden, was im bürgerlichen Emanzipationsprozeß begonnen und — in Deutschland seit 1849 — liegengelassen, ja teilweise rückgängig gemacht wurde.

Lukács verschließt nicht die Augen vor Goethes „antiplebeischen Tendenzen“, aber er erkennt in dessen Werk auch jene Tendenzen, die in der Französischen Revolution und deren Abschluß durch Napoleon ihren politischen Ausdruck fanden.

Georg Lukács erneuert das Gedächtnis an die humanistische Klassik des deutschen Bürgertums in einem Augenblick, da große Teile der deutschen Bourgeoisie die politische Macht einem faschistischen Apparat überantwortet hatten. Er beschwört diese bessere Tradition einer „verspäteten Nation“, zu einem Zeitpunkt, da viele die gesamte deutsche Geschichte als eine zwangsläufige Einbahnstraße zum Faschismus interpretierten.

Das Bild der deutschen Geschichte, das Lukács entwirft, datiert den Ursprung der Fehlentwicklung der Nation genau auf das Jahr 1525 — auf die Niederlage im Bauernkrieg. Statt eines einheitlichen, sich allmählich verbürgerlichenden und demokratisierenden Nationalstaats wie die Franzosen erhielten die Deutschen damals eine Vielzahl faktisch souveräner Einzelstaaten, deren ökonomische und politische Begrenztheit dem politischen Leben auf Jahrhunderte hinaus die Prägung gab.

Deutschland wurde zur „verspäteten Nation“. Lediglich auf geistigem Gebiet hatte die Reformation den protestantischen Staaten eine gewisse Befreiung verschafft und damit die Grundlage für jenen kulturellen Aufschwung gelegt, der zwischen 1770 und 1830 deutsche Philosophie und Literatur zu europäischer Bedeutung emporhob.

Georg Lukács geht es darum, nicht nur die Deutschen, sondern alle an diese Glanzepoche zu erinnern und sie von dem folgenden Verfall deutlich abzugrenzen. Eindeutiger als irgendein anderer Literaturhistoriker oder Kulturkritiker optiert er für die Klassik und gegen die Romantik. Auch in dieser Hinsicht folgt er Goethe und Hegels Ästhetik.

Zu den Fehlurteilen, die Lukács durch seine Darstellung der deutschen Klassik korrigieren möchte, gehört aber auch die Behauptung, zwischen Sturm und Drang — etwa dem Werther — und Aufklärung bestehe ein ausschließender Gegensatz. Ebenso wie der reaktionäre Versuch, den Unterschied von Romantik und Klassik zu verwischen, dient auch die Errichtung einer Mauer zwischen Aufklärung und Sturm und Drang der Isolierung einer sogenannten „deutschen Bewegung“ vom westeuropäischen Geistesleben und dem Ausspielen einer angeblich wesenhaft konservativen deutschen Kultur gegen die aufklärerische Zivilisation des Westens.

Indem Lukács diese Fehldeutungen korrigiert, sorgt er zugleich dafür, daß die engen internationalen Beziehungen der deutschen Klassik wieder deutlich sichtbar werden. Dabei kann er an Franz Mehrings ‚„Lessing-Legende“ anknüpfen, die erfolgreich die Behauptung widerlegt hatte, Lessing sei „antifranzösisch“ gewesen, weil er für Shakespeare und gegen Corneille optierte. In Wahrheit war die Kritik Lessings wie des jungen Goethe am französischen Klassizismus eine Kritik an der künstlichen aristokratischen Kultur der deutschen Duodezhöfe und schloß die Hochachtung, ja Begeisterung für französische Autoren wie Diderot oder Rousseau keineswegs aus.

„Zwischen Lessings Kampf gegen die Kälte der tragédie classique und seiner Proklamierung der Rechte des Verstandes etwa in Fragen der Religion besteht nicht der geringste innere Widerspruch“, schreibt Lukács (Goethe und seine Zeit, 1948, S. 22). Die Konstruktion einer nationalistischen Gegnerschaft gegen die französische Kultur dient den reaktionären Literaturhistorikern letztlich dazu, die deutsche Klassik von ihren humanistisch-emanzipatorischen Tendenzen loszulösen und zum Mittel der Rechtfertigung für Obskurantismus und nationalistische Mythen zu machen.

V. Werther

Da ein Kritiker unlängst Lukács die These unterstellt hat, Goethes Werther sei „ein Schrittmacher auf dem Weg zur Französischen Revolution und ein treibendes Element der Weltgeschichte des Klassenkampfes ... obwohl sein Held wie sein Verfasser davon nichts wüßten“, ist es vielleicht angebracht, Lukács’ Interpretationsweise gerade an diesem Beispiel etwas näher zu erläutern. Die weltweite Wirkung des Werther war gewiß allein schon ein Indiz dafür, daß die von Goethe gestaltete Problematik keine bloß individuelle, sondern eine für die sich damals rasch entwickelnde bürgerliche Gesellschaft typische war. Es war die Problematik der „allseitigen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit“ (S. 25).

Die „Rebellion“ Werthers gegen die Konventionen seiner Umwelt ist zwar nur die eines besonderen Individuums, aber in ihr kommen „die inneren Widersprüche des revolutionären bürgerlichen Humanismus“ exemplarisch zur Sprache. Vor allem ist das der „Widerspruch zwischen menschlicher Leidenschaft und gesellschaftlicher Gesetzlichkeit“ (S. 30), wobei diese gesellschaftliche Gesetzlichkeit zum Teil als anerkannte Norm vom Individuum verinnerlicht worden ist.

Goethe hat übrigens durchaus auch einen Zusammenhang zwischen dem rebellischen Charakter des Rechts auf Selbstmord und der politischen Revolution gesehen. In einem längeren theoretischen Gespräch, das Werther mit dem Bräutigam seiner Geliebten über das Recht auf Selbstmord führt, zieht er als Analogie hierzu das Recht eines Volkes auf Revolution heran: „Ein Volk, das unter dem unerträglichen Joch eines Tyrannen seufzt, darfst du das schwach heißen, wenn es endlich aufgärt und seine Ketten zerreißt?“ (S. 30, bei Lukács zitiert).

Trotz solcher Analogiemöglichkeiten kann aber nicht davon die Rede sein, daß Lukács den jungen Goethe zum Anwalt einer plebeischen Revolution gemacht hätte. Die Revolution erscheint bei ihm gleichsam nur eingehüllt in der Gestalt des „neuen Menschen“, „der im Verlauf der Vorbereitung der bürgerlichen Revolution entsteht“ (S. 31). Werther ist die Gestalt gewordene Emanzipation des bürgerlichen Individuums von feudaler und absolutistischer Konvention.

Dieses neue Menschentum steht aber „zugleich auch in Gegensatz zum Spießertum“, das heißt zu einer Beschränktheit, die der neu entstehenden bürgerlichen Gesellschaft selbst entspringt, ohne daß deren Unvermeidlichkeit von den klassischen Exponenten bürgerlicher Kunst und Philosophie schon erkannt werden könnte. Nur am Rande des Werther taucht als hoffnungsvoller Kontrast zu feudaler Borniertheit und beschränktem Spießertum das einfache Volk auf.

Werther selbst aber erscheint Lukács als eine Art „Repräsentant des volkstümlich Lebendigen“, womit er meines Erachtens über die verifizierbare Ausdeutung ein wenig hinausgeht. Damit aber, so meint Lukács, „proklamierte der junge Goethe — obwohl er persönlich kein politischer Revolutionär gewesen ist — die volkstümlich-revolutionären Ideale der bürgerlichen Revolution“ (S. 32).

Es ist sicher legitim, wenn die Interpretation des historischen Sinnes und der Bedeutung eines Kunstwerkes über das Selbstverständnis des Autors hinausgeht, wenn sie aufzeigt, was er gestaltet hat, ohne es unter Umständen selbst zu wissen. Daß Goethe aber den versteckten politischen Sinn des Werther später durchaus gesehen hat, zeigt ein Gespräch mit Eckermann, in dem er sagt:

Die Wertherzeit gehört dem Lebensgang jedes einzelnen an, der mit angeborenem freien Natursinn sich in die beschränkenden Formen einer veralteten Welt finden und schicken lernen soll.

Lukács hat sicher recht, wenn er Goethe eine Überschätzung der permanenten Bedeutung des Werther-Problems zuschreibt und zugleich in dieser Äußerung einen Hinweis auf das für die bürgerliche Institution der Ehe typische Problem erblickt. Der innere Widerspruch der bürgerlichen Ehe, der im Werther gestaltet wird, besteht darin, daß „sie auf individuelle Liebe basiert“, während „ihr ökonomisch-soziales Dasein in unlösbarem Widerspruch zur individuellen Liebe“ steht (S. 37). Damit bekommt der tragische Untergang Werthers allgemeine Bedeutung.

Im Unterschied zu späteren Gestaltungen des Problems in der Zeit nach der Französischen Revolution empfindet Lukács den Tod Werthers „durch die Ungebrochenheit und Gradlinigkeit seiner Tragik“, die mit den „geschichtlich notwendigen Illusionen“ der heroischen vorrevolutionären Periode zusammenhing, als einen Untergang von „strahlender Schönheit“ (S. 39).

Goethe hat die Werther-Periode bald überwunden, aber nicht in dem Sinne, daß er, „klug geworden, mit der Wirklichkeit sich abgefunden hätte“, wie die meisten Goethe-Biographien meinen. „Goethe hat den Zerfall der heroischen Illusionen der vorrevolutionären Periode erlebt und in eigenartiger Weise trotzdem an den humanistischen Idealen festgehalten, sie in einer anderen, umfassenderen und reicheren Weise im Konflikt mit der bürgerlichen Gesellschaft dargestellt“ (S. 39/40). Lukács denkt hier vor allem an den Wilhelm Meister, aber auch an den zweiten Teil des Faust.

VI. Hölderlin

Im Unterschied zu Goethe hat Hölderlin die heroische Phase des vorrevolutionären und revolutionären Bürgertums dichterisch und existentiell festgehalten und ist an dem Widerspruch zwischen der Utopie des jakobinischen Citoyen und der historischen Realität der bourgeoisen Gesellschaft zugrunde gegangen. Lange bevor in der Bundesrepublik durch die bedeutenden französischen Germanisten Robert Minder und Pierre Berteaux der Zusammenhang zwischen dem Werk Hölderlins und der Französischen Revolution bekannt gemacht wurde, hat Georg Lukács in einem 1934 veröffentlichten Artikel über den „Hyperion“ Hölderlin als einen verspäteten und vereinsamten Anwalt heroisch-bürgerlicher Freiheitsideale geschildert. Während Lukács sonst den literarischen Urteilen Goethes häufig folgt, hat er im Falle Hölderlins ihn heilsam korrigiert. Zusammenfassend erklärt er zum Hyperion:

Hölderlin stellt dem Goetheschen ‚Erziehungsroman‘ zur Anpassung an die kapitalistische Wirklichkeit einen ‚Erziehungsroman‘ zum heroischen Widerstand gegen diese Wirklichkeit entgegen. Er will die ‚Prosa‘ der Welt des ‚Wilhelm Meister‘ nicht romantisch poetisieren wie Tieck oder Novalis, sondern stellt dem deutschen Paradigma des großen Bourgeoisromans den Entwurf eines Citoyenromans gegenüber. ‚Hyperion‘ trägt auch stilistisch die Male der aussichtslosen Problematik dieser Gattung an sich. Der Versuch, den Citoyen episch zu gestalten, mußte scheitern. Aber aus diesem Scheitern erwächst ein einzigartiger lyrisch-epischer Stil: der stilistische Objektivismus einer tiefen Anklage gegen die Gesunkenheit der bürgerlichen Welt, nachdem das Licht der heroischen ‚Selbsttäuschung‘ erloschen ist.

(Goethe und seine Zeit, S. 197)

Es ist gewiß kein Zufall, daß Ernst Bloch von allen Arbeiten des Literaturhistorikers Lukács den Essay über Hölderlins Hyperion am höchsten schätzt. Während er in der Beurteilung der Klassik wie der großen romantischen Philosophen und Dichter von Lukács sich erheblich unterscheidet, scheint er mit dem Bilde einverstanden zu sein, das Lukács von Hölderlin entwirft.

Aber vielleicht ist diese Übereinstimmung nur Folge einer Fehldeutung. Ernst Bloch erblickt in der „Utopie des Citoyen“, die Hölderlin entwirft, eine verheißungsvolle Antizipation künftiger Erfüllung, Lukács erscheint sie als elegischer Abgesang einer historisch überholten Geschichtsepoche. Vielleicht darf man aber im Hyperion beides sehen: elegischen Schmerz über unwiederbringbar Verlorenes, Uneinlösbares und zugleich Vorausdeutung auf mögliches künftiges Gelingen in aufgehobener Gestalt.

VII. Faust

Den Höhepunkt erreicht die Lukácssche Goethe-Interpretation in seinen Faust-Studien. Vermutlich als erster marxistischer Autor hat Lukács die Parallele zwischen Hegels Phänomenologie des Geistes und Goethes Faust gesehen und herausgearbeitet. In den 1940 geschriebenen Faust-Studien, aber auch in seiner Monographie „Der junge Hegel“, weist er wiederholt auf die Parallelen zwischen diesen beiden bedeutendsten Werken der deutschen Klassik hin:

Historisch läßt sich Hegel in seiner Zeit nur mit Goethe auf eine Stufe stellen. Es ist kein Zufall, daß in den Vorarbeiten zur ‚Phänomenologie des Geistes‘ sich lange und ausführliche Auseinandersetzungen mit Goethes ‚Faust‘ finden. In beiden Werken kommt ... das Bestreben zum Ausdruck, ... die Entwicklungsmomente der menschlichen Gattung bis zu ihrer damals erreichten Stufe enzyklopädisch zu umfassen und in ihrer ... Eigengesetzlichkeit darzustellen. Nicht umsonst hat Puschkin den ‚Faust‘ eine ‚Ilias des modernen Lebens‘ genannt, und der geistreiche Ausdruck Schellings über seine eigene Philosophie des Geistes, der sie als eine Heimkehr des Geistes, als eine ‚Odyssee des Geistes‘ bezeichnet, paßt viel mehr auf die ‚Phänomenologie‘ als auf irgendein Werk Schellings ...

(Lukács, Werke Bd. 8, S. 691 f.)

„Es wäre lächerlich und pedantisch“, so schließt Georg Lukács sein Buch über den jungen Hegel, „zwischen den großen Werken Goethes und der Philosophie Hegels mechanische und in Einzelheiten gehende Parallelen zu ziehen. Aber der Weg, auf dem Goethe seinen ‚Wilhelm Meister‘ oder ‚Faust‘ findet, ist in einem großen historischen Sinne derselbe Weg, den der Geist in der Hegelschen ‚Phänomenologie‘ durchläuft“ (a.a.O., S. 693).

VIII. Adorno

Lassen Sie mich nur noch einen wesentlichen Aspekt der Lukácsschen Faust-Interpretation etwas ausführlicher rekapitulieren, um ihn mit einer — teilweise widersprechenden — Deutung durch Theodor W. Adorno zu vergleichen. Es geht um den Schluß des zweiten Teils dieses großen Welt-Gedichtes. Faust hat sich der Praxis der Naturbeherrschung zugewandt.

Aber diese Praxis, der wirkliche, der einzig mögliche Ausweg des Menschengeschlechts aus dem teuflisch-magischen Chaos des Mittelalters, ist vom Geist des Mephistopheles noch stärker bedroht als die individuelle Liebe.

(Goethe und seine Zeit, S. 271)

Diese Bedrohtheit der naturbeherrschenden Praxis durch Mephistopheles deutet Lukács als einen dichterisch gestalteten Hinweis auf die enge und historisch notwendige Verbindung zwischen technischer Produktion und kapitalistischer Wirtschaft. Mephistopheles erscheint — unter anderem auch — als Symbol für die mit dem technischen Fortschritt verbundene negative Seite der neuen Produktionsweise. Er ist „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft“, aber er ist zugleich auch jenes Moment der komplexen Realität, das das Gute: den technischen Fortschritt — nicht ohne das Böse: Entmenschlichung, Partikularisierung, Entfremdung — zustande kommen läßt. Nach der Philemon-und-Baucis-Episode und dem Erscheinen der alle menschliche Tat als sinnlos und vergeblich ausgebenden Sorge faßt Faust die Bilanz seines Lebens zusammen und stellt das Programm für dessen Vollendung auf:

Noch hab’ ich mich ins Freie nicht gekämpft.
Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen,
Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen,
Stünd’ ich, Natur, vor dir ein Mann allein,
Da wärs der Mühe wert, ein Mensch zu sein ...

Aber die Hoffnung auf Realisierbarkeit dieses Zieles ist gering:

Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll,
Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll.

Mit der mephistophelischen Magie und dem allgegenwärtigen Spuk hat Goethe letztlich die dynamische und zugleich zerstörerische Seite des Kapitalismus symbolisiert: „Eine Entwicklung der Produktivkräfte in der bürgerlichen Gesellschaft ist aber nur kapitalistisch möglich“, und aus diesem Grunde ist auch „Fausts Versuch, sich innerlich von der Magie abzuwenden, vergeblich. Darum ist sein Traum von der lichten Zukunft der Menschheit nur ein Traum. Aber der Inhalt dieses Traums ist sehr wichtig. Faust ist, wie Goethe, Gegner jeder Revolution. Hier jedoch, wo er wenigstens subjektiv mit der mephistophelischen Magie bricht, kommt zum erstenmal ... der bewußte Wunsch zum Ausdruck: auf der Grundlage der Freiheit für diese Ziele gemeinsam mit seinen Mitmenschen zu kämpfen“ (a.a.O., S. 277).

Im gleichen Augenblick aber, da Faust davon träumt, durch Landgewinnung Räume für Millionen zu eröffnen, um „nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen“, graben die Lemuren auf Mephistopheles Befehl sein Grab.

Dieser durch nichts gemilderte Gegensatz entspricht genau jener geistigen Doppelseitigkeit in der Beurteilung des kapitalistischen Fortschritts, die wir bei Goethe wiederholt feststellen konnten. Goethe bringt, ohne das ökonomisch-soziale Leben des Kapitalismus durchschauen zu können, mit dichterischer Intuition dessen widerspruchsvolle Rolle in der Menschheitsentwicklung zur Gestalt. Der grausige Rhythmus der Vernichtung, der den Zukunftstraum Fausts begleitet und kommentiert, drückt Goethes Meinung gerade in der Ungelöstheit, in der Unlösbarkeit dieser Dissonanz adäquat aus.

(a.a.O., S. 278)

Vom höchsten Standpunkt des bürgerlichen Bewußtsein aus sind diese Widersprüche nicht zu lösen. Die Größe Goethes aber wie diejenige Ricardos und Hegels erblickt Lukács darin, daß sie die Widersprüche der neuen Produktionsweise „in ihrer durch nichts gemilderten Unlösbarkeit hingestellt ... haben“ (S. 279). Weil es für Goethe eine objektive Lösung nicht geben konnte, bleibt das „subjektive Moment der Entscheidungspunkt für Fausts Erlösung“. Goethe selbst hat die bekannten Zeilen „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ im Gespräch mit Eckermann als Schlüssel zum Verständis des Ganzen bezeichnet.

Dem widerspricht Adorno in seinen Noten zur Schlußszene des Faust entsehieden. Faust hat das „Verweile doch, du bist so schön“ gesprochen, der Vertragstext ist erfüllt, Mephisto hat die Wette gewonnen. „In der Welt, in der es mit rechten Dingen zugeht, in der Gleich um Gleich getauscht wird — und die Wette selbst ist ein mythisches Bild des Tausches — hat Faust verspielt ...“ (Noten zur Literaiur II, S. 16).

Die Rettung von Fausts „Unsterblichem“ wird nur durch das Eingreifen christlich-himmlischer Transzendenz ermöglicht, auf deren kompositorische Notwendigkeit auch Lukács schon verwies. Adorno spricht von „einer höheren Instanz, die der Immergleichheit von Credit und Debet Einhalt gebietet“. Es ist „die Gnade, auf welche das trockene ‚gar‘ im Text verweist: wahrhaft jene, die vor Recht ergeht; an der der Zyklus von Ursache und Wirkung zerbricht. Der dunkle Drang der Natur steht ihr bei, aber gleicht ihr nicht ganz ...“

Noch das Naturverhältnis der Begierde, das dem Zusammenhang der Verstrickung angehört, enthüllt sich als das, was dem Verstrickten entrinnen hilft. Die Metaphysik des Faust ist nicht jenes strebende Bemühen, dem im Unendlichen die neukantianische Belohnung winkt, sondern das Verschwinden der Ordnung des Natürlichen in einer anderen.

(a.a.O., S. 16 f.)

Wie die Lukácssche Interpretation benützt auch die Adornosche marxistische Kategorien. Sie versteht die Welt des Mephistopheles, in die Faust verstrickt ist, wie Lukács als beginnenden Kapitalismus. Aber während Lukács — näher an Goethes Selbstverständnis bleibend — in der Hervorhebung des sittlichen Strebens die, notwendig unbefriedigende, Lösung des Dramas erblickt, verweist Adorno auf das eigentümlich mit antikischer Sinnesbejahung vermengte Moment der „von oben kommenden“, aber gleichwohl durch geschlechtliche Bezierde sollizitierten Gnade.

Für beide Autoren ist charakteristischh, was an Goethe bei ihnen zurücktritt: bei Adorno das Moment des optimistischen Strebens und Tatwillens, bei Lukács die anti-asketische Bejahung der Sinne. Mir scheint in diesem Punkte zumindest wäre eine Verständigung möglich gewesen, auch wenn die unterschiedlichen Akzente aus der abweichenden Grundkonzeption der beiden Gelehrten resultierten.

IX. Brecht

Goethe hat den Begriff der Weltliteratur geprägt und Karl Marx hat ihn als Indiz für die heraufziehende Weltgemeinschaft gewertet, die durch die Herstellung eines kapitalistischen Weltmarktes und die damit verknüpfte Aufhebung lokaler Beschränktheiten vorbereitet wurde. Georg Lukács hat sich nie auf die Literatur eines Landes und einer Sprache beschränkt. Von Anfang an war er gleich aufgeschlossen für die ungarische, deutsche, französische, englische, italienische, spanische und russische Literatur.

Lukács kennt in seinen Arbeiten keine nationalen Gegensätze und Idiosynkrasien. Weltliteratur ist für ihn eine praktizierte Realität. Große Dichtung nimmt an einem die Geschichte durchziehenden Kampf teil, dem Kampf um tiefere Erkenntnis und humane Verwandlung der Welt. Aber Dichter brauchen deshalb noch keine bewußten politischen Kämpfer zu sein, Lukács verlangt es von ihnen nicht. Er glaubt, daß es genügt, wenn sie ehrlich und realistisch die historisch-gesellschaftliche Wirklichkeit wiedergeben, weil diese Wirklichkeit selbst die beste Erzieherin zu revolutionärer Veränderung ist.

Ohne es zu wissen — betont Lukács — leisten die großen bürgerlichen Realisten ihre Beiträge zu einer dem historischen Fortschritt dienenden Aufklärung. Der snobistische Royalist Balzac schildert im Kosmos seiner „Comédie Humaine“ den Zerfall der französischen Feudalgesellschaft und die Brutalität der entstehenden bürgerlichen Welt. Selbst bei dem Naziautor E. E. Dwinger fand Lukács die gleichsam gegen die bewußte Intention des Verfassers realistisch-gelungene Schilderung eines Rotarmisten.

Man hat gegen diese Lukácssche Theorie Bedenken angemeldet. Vereinfacht und verabsolutiert wäre sie gewiß irreführend, aber als erkenntnisfördernde Verallgemeinerung eines interessanten Sachverhalts verdient sie Beachtung und nähere Analyse. Unter Lukács’ Kritikern hat vor allem Brecht wichtige Argumente gebracht. Er zweifelt daran, daß unter den gänzlich veränderten sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen des Spätkapitalismus jene traditionelle bürgerliche Art des Realismus noch ausreichen könnte, die Wirklichkeit zu erfassen. Brecht trat gegen Lukács für die Zulassung neuer und experimenteller Methoden des Schreibens ein und sprach — gegen Lukács gewandt — von der „Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise“. Namentlich die Verurteilung von Montage und innerem Monolog schien Brecht ungerechtfertigt.

Wir können den Streit, der unter ungünstigen äußeren und inneren Bedingungen zu Beginn der Naziära im Ausland geführt wurde, hier nicht entscheiden. Ich kann Lukács gegen Brecht nicht verteidigen, wohl aber die Motive seines Kampfes gegen den sogenannten avantgardistischen Formalismus zu begreifen versuchen: Erfüllt von der Furcht, mit dem Verlust der älteren künstlerischen Formen könnten auch deren humane Gehalte verlorengehen, hat sich Lukács oft allzu kritisch, allzu skeptisch gegenüber „produktionstechnischen“ Neuerungen auf künstlerischem Gebiet gezeigt.

Man kann sich kaum denken, daß Lukács als Leser Kafkas oder James Joyces nicht fasziniert war, und er hätte gewiß genügend rhetorisches Geschick besessen, um diese Faszination marxistisch zu legitimieren. Aber Lukács ging es nie darum, als besonders brillanter oder sublimer marxistischer Literaturkritiker zu gelten — wenn es eine Eigenschaft gibt, die ihm vollständig abgeht, dann ist es die Eitelkeit —, er wollte lediglich zu seinem Teil dafür sorgen, daß die zeitgenössische linke Literatur sittlich verantwortlich, verständlich volkstümlich und ästhetisch bedeutend wird.

Was manchen als klassizistische Konventionalität erschien, das kann auch als Ausdruck einer volkspädagogisch verantwortungsbewußten Haltung gedeutet werden, der es nicht auf diffizile Gefühlsanalysen, sondern auf die Vermittlung von Einsichten ankam, die der sozialen Umwälzung dienen können. Bertolt Brecht, der seine Stücke, Gedichte und Prosaschriften zu genau diesem Zweck gemacht hat, war deshalb besser zu seiner Kritik legitimiert als die meisten der sogenannten Avantgardisten, denen es nur auf das Geltendmachen ihrer subjektiven Besonderheit ankam.

X. Klassik

Die wissenschaftliche Leistung aber, für die wir an diesem Tage und bei dieser Gelegenheit Georg Lukács zu danken haben, ist seine Interpretation Goethes und Hegels und ihre Einbeziehung in den großen Zusammenhang der neuzeitlichen Emanzipationsbewegung von der Renaissance bis zur bürgerlichen Revolution. Das Scheitern der deutschen bürgerlichen Revolution und die gleichzeitige Unterdrückung so vieler anderer Revolutionen, unter anderem auch der in Ungarn, hat die Hoffnungen des progressiven deutschen Bürgertums zunichte gemacht. Einer der Gründe der Niederlage war — wie Karl Marx betonte — die fehlende Solidarität der deutschen Demokraten mit den ungarischen und slawischen im österreichischen Völkergefängnis. Es entbehrt nicht eines beziehungsreichen historischen Reizes, wenn heute — hier in der Paulskirche — ein großer ungarischer Gelehrter mit dem Goethepreis ausgezeichnet wird, der zugleich ein sozialistischer Revolutionär ist.

Das Scheitern der deutschen bürgerlichen Demokratie und der Herstellung eines Nationalstaates „von unten“, die Errichtung des deutschen Reiches durch „Blut und Eisen“ und der Rückzug des deutschen Bürgertums auf das, was Thomas Mann „machtgeschützte Innerlichkeit“ genannt hat, haben Bedeutung und Sinn der klassischen Dichtung und Literatur bis zur Unkenntlichkeit verändert. Im Bild des „Olympiers“ wurden alle „Niederlagen, alle Kompromisse in Goethes Lebensführung ... als ‚Weisheit, als ‚menschliche Vollendung‘ verherrlicht.“

Kultur wurde zum Statussymbol des Kleinbürgers und zur erbaulichen Illusion des apolitischen Privatmanns heruntergebracht. Ihr fordernder Charakter, ihr lebensgestaltender Anspruch gingen verloren. Aus Goethe wurde ein ebenso hohles und ebenso wirkungsloses Prunkstück der nationalen Kultur gemacht wie die Gipsstatuen, die zu Hunderttausenden auf Klaviere und kleinbürgerliche Vertikos sich verteilten.

Georg Lukács hat dieses beschränkte und beschränkende Goethe-Bild destruiert. Die junge Generation, die nicht nur in Deutschland seit einigen Jahren stürmisch nach einer radikalen Veränderung des materiellen und kulturellen Lebens der Gesellschaft drängt, könnte von der verlebendigenden Aneignung der klassischen deutschen Literatur und Philosophie durch Lukács eine wertvolle Förderung erfahren. „Die sogenannte Unsterblichkeit eines großen Dichters“, sagte Lukács zu Goethes 200. Geburtstag, „ist ... nichts anderes als die stets erneute Reproduktion seiner lebendigen Wirksamkeit“ (Goethe und seine Zeit, S. 332).

Es genügt nicht, die Welt verändern zu wollen, man muß auch — wenigstens in Umrissen — wissen, wie die neue Welt aussehen soll, für die man kämpft. Die Umrisse der ökonomischen und sozialen Gestalt dieser Zukunft waren für Lukács durch den marxistischen Sozialismus bestimmt, zugleich aber erhoffte und erwartete er von dieser sozialistischen Gesellschaft, daß sie — den bürgerlichen Emanzipationsprozeß über die formelle Demokratie hinaus vollendend — die Einlösung aller Versprechen der klassischen Dichtung und Philosophie des Bürgertums bringen werde. Diese Verbindung des politisch-sozialen Ziels mit dem sittlichen hat Lukács weder zum utopischen Sozialisten noch zum steril-moralisierenden Kritiker gemacht, aber sie hat ihn stets davor bewahrt, vor den Fakten zu kapitulieren, als endgültig und gut hinzunehmen, was doch bestenfalls eine Stufe auf dem Weg zum Ziel sein konnte.

In Geschichte und Klassenbewußtsein führt Lukács die Kategorie der „objektiven Möglichkeit“ ein. Sie bezeichnet das von den sozialen Strukturen her Mögliche, das aber noch bewußter Anstrengung bedarf, um in Wirklichkeit überführt zu werden. Kapitalistische Gesellschaften hatten und haben zum Teil wohl noch heute die objektive Möglichkeit in sich, faschistisch zu werden. Aufgeklärte und politisch aktivierte Individuen und Klassen können verhindern, daß diese Möglichkeit abermals Wirklichkeit wird. Ähnliches gilt — nach beiden Seiten — zum Guten wie zum Bösen vermutlich auch für sozialistische Gesellschaften. Für ihre Humanisierung hat Georg Lukács seit den dreißiger Jahren direkt und indirekt gearbeitet.

Goethe und die gesamte humanistische Tradition wurde ihm bei dieser Arbeit — wie beim Kampf gegen den Faschismus — zum Helfer.

Nichts kann einen Zeitgenossen, so scheint mir, des Goethepreises würdiger machen als die Tatsache, Goethes Werk durch seine Arbeit mit dem konkreten Kampf der Gegenwart verbunden und damit wirksam erhalten zu haben. Georg Lukács hat es getan.

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