FORVM, No. 202/I
Oktober
1970

Goethe mal Marx

Rede zur Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt, 28. August 1970, verlesen in der Paulskirche (da Lukács gesundheitshalber in Budapest bleiben mußte). — Vgl. Günther Nenning, „Georg Lukács oder Die Flucht in die Ästhetik. Zu seinem 85. und zum Goethepreis“, NEUES FORVM, August/September 1970. — Dortselbst auch Literaturliste „Georg Lukács im NEUEN FORVM“ (zwölf Titel). — Zu kommenden Heften: Lukács-Laudatio von Iring Fetscher, Lukács-Kritik von Peter Jirak.

I.

Wenn ich hier spreche, so ist das erste, was sich mir aufdrängt: die für mich, meine Arbeit und mein Verhältnis zur Welt zentral wichtige Beziehung zu Goethe, seinem Werk, zu seiner Lebensführung und Weltanschauung. Die Auszeichnung mit dem Goethepreis hat deshalb für mich ein vielfaches Gewicht. Ich will versuchen, den Dank für diese hohe Ehre einigermaßen angemessen auszudrücken.

Bitte, verstehen Sie, daß ich autobiographisch, mit Erinnerungen an meine längst vergangene Jugend beginne. Mein erster ernst zu nehmender Essay aus dem Jahre 1907 behandelte zwar unmittelbar Novalis; da jedoch dessen Lebensphilosophie den zentralen Gehalt dieses Aufsatzes ausmacht, ist darin — man kann sogar sagen: hauptsächlich — bereits von Goethe als einem Maß des Menschseins in diesen Zeiten die Rede. Und ich kann ruhig sagen, daß meine Auseinandersetzung mit Goethes Lebensführung und Weltgestaltung auch später in meinem Denken und in meiner Arbeit diese Bedeutung nie verloren hat. Es genügt, auf mein nächstes Buch, „Die Theorie des Romans“ hinzuweisen, um diesen Zusammenhang zu belegen.

Ich fühle mich also zur Annahme der hohen Auszeichnung insofern literarisch-moralisch berechtigt, als die intensive Beschäftigung mit Goethes Lebenswerk bis heute meine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bestimmt.

II.

Freilich sind in dieser langen Zeitspanne eines an geistigen Krisen reichen gesellschaftlichen Übergangs auch bei mir grundlegende Wandlungen in der Stellungnahme zu Zeit und Welt eingetreten. Vor allem bin ich vor mehr als einem halben Jahrhundert Marxist geworden. Das provoziert die Frage, wie sich ein Marxist zu Goethes Lebenswerk verhält.

Ich will mich hier nicht auf philologische Fragen einlassen. Wer sich dafür interessiert, mag in den Memoiren des Marx-Schwiegersohnes Lafargue und des vielfach problematischen Marx-Schülers Wilhelm Liebknecht nachschlagen. Er wird dort finden, daß die permanente Beschäftigung mit Goethe für Marx ein wichtiges Moment seines geistigen Lebens war.

Werden, was philologisch zumeist geschieht, in der Unmittelbarkeit wirksame Motive in den Vordergrund gestellt, so ist es leicht, Goethe als einseitigen Verherrlicher sogenannter „organischer“ Entwicklungen, Marx als dem Revolutionär „um jeden Preis“ allen Übergang ausschließend einander gegenüberstellen. Es erweist sich allerdings, daß eine solche Interpretation mehr für die — lange Zeit einflußreiche — Interpretation Goethes durch Börne als auf Goethes welthistorische Gesamtphysiognomie zutrifft. (Daran ändert sich auch dadurch nichts, daß ein so bedeutender Mann wie der ungarische Nationaldichter Petöfi dieser einseitig verfälschenden Interpretation anhing.

Bei so großen Kontrasten, kann der wesentliche Gehalt leicht bis zum Verschwinden verblassen, ohne daß er wirklich verborgen wäre. In der zum Selbstbewußtsein erwachenden geistigen Vorhut des deutschen Volkes ist — bereits vor Goethe — die Tendenz vorhanden, aus den geistigen Kämpfen der Aufklärung und der großen Revolution das hervorzuheben, was später — nicht immer angemessen bewußt — als neue Etappe der menschlichen Gattungsmäßigkeit hervortrat.

Es bleibt das unsterbliche Verdienst der französischen Entwicklung, daß sie, gerade indem sie eine wirkliche Revolution ideologisch vorbereitete und später durchzuführen half, immer wieder mit scharfer Selbstkritik auch die neue Problematik der damals noch im Entstehen begriffenen, immer reiner hervortretenden Gattungsmäßigkeit entlarvte. Es genügt, an die Rameau-Dialoge Diderots zu erinnern, die Goethe nicht zufällig schon aus dem Manuskript übersetzt hat und die ebensowenig zufällig das einzige belletristische Werk sind, mit dem Hegel sich in der „Phänomenologie“ gründlich auseinanderzusetzen gezwungen sah. Es soll aber in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden, daß Lessing seinen „Nathan“ — ohne Diderots Werk zu kennen — darauf ausgerichtet hat, für die tiefe negative Dialektik dieser Entwicklungsetappe eine positive Lösung anzubieten, freilich nicht auf dem Boden unmittelbarer Aktualität, wohl aber auf dem der Weltgeschichte der Menschengattung.

Das tief in der „deutschen Misere“ versunkene deutsche Volk war zwar außerstande, als politische, aktuell mobilisierende geistige Kraft, der Aufklärung praktisch zu folgen und sich später an die große Revolution anzuschließen. Dafür war jedoch geistiger Mittelpunkt seiner intellektuellen Vorhut: das welthistorisch Neue an Aufklärung und Revolution, dessen entscheidende Möglichkeiten, dichterisch wie denkerisch ins Weltbild einer bewußt, historisch gewordenen Gattungsmäßigkeit einzubauen. Das bedeutet einerseits eine Konkretisierung dieser Tendenzen, sie in einem individuellen, nicht mehr transzendenten Weltbild zu verankern, andererseits, der großen historischen Erschütterung dieser Ereignisse folgend, eine Historisierung dessen, was früher bloß als abstraktes Postulat der Vernunft mit dem Alltag des feudalen oder halbfeudalen Lebenskreises kontrastiert werden konnte.

III.

Diese notwendig knappen Bemerkungen können eine umfassende Darstellung so wichtiger Problemkomplexe kaum skizzieren. Die deutsche Geschichtsphilosophie von Herder bis Hegel, die Naturphilosophie Goethes und seiner großen Zeitgenossen, arbeitet in dieser Richtung. Es wäre vulgarisierend-vereinfacht, zu übersehen, welch große Verdienste Goethe — gewissermaßen als bedeutender Vorläufer Darwins — deshalb zukommen, weil er die mit Transzendenz unlösbar verknüpfte abstrakte Statik der Natur überwand und sich zum Problem einer historischen Entwicklung — als Genesis des Menschen — erhob.

Die hier vollzogene methodische Wende läßt sich aber glücklicherweise auch in einzelnen Formulierungen Goethes verdeutlichen. Sie beziehen sich auf die revolutionierende Lehre Spinozas vom „amor dei intellectualis“. Die alten Lehren über eine metaphysische Beziehung der Ethik zu Lohn und Strafe wurden hier scharf bekämpft — letzten Endes im Interesse einer irdischen, gattungsmäßig gewordenen menschlichen Praxis, die nunmehr, Lohn und Strafe als nicht real beiseite schiebend, in ihrem menschlichen (gattungsmäßigen) Gehalt das alleinige reale Kriterium ihres Selbstwerts erkannte. Spinozas Einfluß auf Goethe ist bekannt. Denken Sie beispielsweise an den Satz, den Goethe seiner — durchschnittlich bürgerlich gesehen gar nicht besonders tugendhaften — Philine in den Mund legt: „Und wenn ich dich liebhabe, was geht’s dich an?“

Es geht hier um mehr, als zunächst sichtbar wird. In der problematisch gewordenen Poliskultur wurde der Weise und seine Ataraxie als vorbildlich der schlechtgewordenen Wirklichkeit gegenübergestellt. Schon die Anfänge des Christentums zeigen die Tendenz, diesen Zug in demokratisierendem Sinne zu verallgemeinern und alle Menschen auf diese Haltung zu verpflichten. In den Staatskirchen mußte daraus eine wahre Karikatur der Ethik werden.

Die Ataraxie des Weisen nicht bloß zur gesellschaftlichen Allgemeinheit zu verändern, sondern ihren ursprünglich kontemplativen Charakter zur Grundlage der menschlichen Praxis in ihrer Gattungsmäßigkeit werden zu lassen — das konnte erst in der großen moralisch-geistigen Umwälzung zum allgemeinen Entwicklungsbedürfnis werden, in jener Umwälzung, die durch die zunehmende Vergesellschaftung der Gesellschaft und durch die Entstehung der Individualität charakterisiert wird, eine Wende, die nach Marx daraus folgt, daß in den Beziehungen des einzelnen zur Gesellschaft die naturgeschichtlichen Überreste abgestreift werden.

Konkreter: Das unmittelbar gegebene Dilemma des Handelns in der bürgerlichen Gesellschaft ist das Dilemma einer Wahl zwischen unmittelbarem und darum abstraktem Egoismus und einem postulierten und darum gleichfalls abstrakten Altruismus. Erst der Mensch, der in seinen Handlungen — auch gegen seine eigene Partikularität — sich als Gattungswesen zu verwirklichen bestrebt ist, kann im innersten Innern seines Selbst bewegt sein, ohne sich abstrakt-konventionellen Normen zu unterwerfen. Nur dieser Mensch kann sich so seiner eigenen Gattungsmäßigkeit annähern. Das hat, allerdings in einer noch abstrakt-allgemeinen Weise, Spinoza angestrebt. Konkret-praktisch, innerlich-ethisch, letzten Endes gesellschaftlich-gattungsmäßig hat das in Goethes Philine Form und Gestalt angenommen.

IV.

Man darf die Tragweite dieser Einstellung für Goethes Persönlichkeit und deren Äußerungen nicht unterschätzen. Als er den ersten Teil des „Faust“ vollendet, sagt er zu Riemann:

Es gibt keine Individuen. Alle Individuen sind auch Genera: nämlich dieses Individuum oder jenes, welches du willst, ist Repräsentant einer ganzen Gattung.

Und Jahrzehnte später betrachtet er in einem seiner letzten Gespräche dieses Problem der Gattungsmäßigkeit hinsichtlich seines eigenen Schaffens.

Im Grunde sind wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. Denn wie weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen! Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als von denen, die mit uns sind. Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Innern verdanken wollte. Das begreifen aber viele sehr gute Menschen nicht und tappen mit ihren Träumen von Originalität ein halbes Leben im dunkeln.

Ohne über Eigenes auch nur die leiseste falsche Bescheidenheit aufkommen zu lassen, fährt er fort:

Was hatte ich, wenn wir ehrlich sein wollen, das eigentlich mein war, als die Fähigkeit und Neigung, zu sehen und zu hören, zu unterscheiden und zu wählen, das Gesehene und Gehörte mit einigem Geist zu beleben und mit einiger Geschicklichkeit wiederzugeben? Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen außer mir.

Seine Stellungnahme faßt er dann zusammen:

Es ist im Grunde auch alles Torheit, ob einer etwas aus sich habe, ob er es von andern habe; ob einer durch sich wirke, oder ob er durch andere wirke ...

So blickt der alte Goethe auf die Prinzipien seiner eigenen Lebensführung zurück. Und gerade diese scheinbare Zwiespältigkeit, die sich einerseits als tief begründete Skepsis aller sogenannten Originalität gegenüber äußert, die angeblich die Persönlichkeit des Menschen ausmacht, andererseits in der Einsicht, daß wir eine feste Richtschnur für die Entscheidungen unserer praktisch fruchtbar werdenden — und in diesem Sinne für wahrhaft menschliches Leben unentbehrlichen — Innerlichkeit nur in der Gattunsmäßigkeit besitzen, diese Zwiespältigkeit bestimmt die Menschenentwürfe aller bedeutenden Werke Goethes; ihr Aufbauprinzip der Gestaltung von Welt gründet sich auf diesen Fragestellungen im Leben.

Das gilt auch für den „Faust“. Ich greife ein allgemein bekanntes Motiv heraus. Der Pakt mit Mephistopheles greife ein allgemein bekanntes Motiv heraus. Der Pakt mit Mephistopheles wird noch vom jungen, seine individuell-menschliche Erfüllung suchenden Faust abgeschlossen:

Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
Daß ich mir selbst gefallen mag,
Kannst du mich mit Genuß betrügen,
Das sei für mich der letzte Tag!

Der Sinn des folgenden „Verweile doch“ ist an diesen Lebenskreis gebunden. Faust spricht hier noch als weitgehend partikularer Mensch, der eine rein persönliche (deshalb von der Partikularität de facto nicht lösbare) Erfüllung sucht, und darum mit Recht jede Selbstzufriedenheit als Abfall von sich verwerfen muß.

„Verweile doch!“ steht freilich auch im letzten Monolog. Aber das inzwischen Durchlebte hat in Faust selbst das bloß Partikulare stufenweise zum Verschwinden gebracht. Daß die Handlungen, in denen er nunmehr sich zu verwirklichen trachtet, immer gesellschaftlicher werden, bedarf keines Kommentars. Es ist also nicht zufällig, wenn die persönliche Erfüllung des „Verweile doch“ nun erst unter Bedingungen real werden kann:

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.

Und aus dieser umwälzenden Veränderung der Lebensumstände, die hier als radikaler Wandel aller Lebenshaltungen erscheint, folgt nun die entscheidende Veränderung des Sinnes von „Verweile doch“:

Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schöne!

Das kleine nunmehr eingefügte Wörtchen „dürft’“ drückt diesen qualitativen Tatbestand aus: Nicht mehr das bloß partikulare Ich wünscht oder erlebt für sich selbst eine Erfüllung, sondern der Mensch hat so gelebt, hat beim Entstehen derartiger Lebensformen so mitgeholfen, daß er bereits gattungsmäßig berechtigt ist, nicht mehr nur sich selbst, sondern eben diesen Lebensformen (und erst in ihnen sich selbst) Dauer zu wünschen. Davon war im einstigen Pakt mit Mephistopheles nicht die Rede. Das rein persönlich-partikulare Lebensglück hat mit der Bejahung der verwirklichten Gattungsmäßigkeit der Menschen nichts gemein.

V.

Manche, die mir bis jetzt gefolgt sind, werden vielleicht sagen: Das alles mag schön und gut sein, eventuell sogar für Goethes Charakteristik zutreffen — was aber hat es mit Marx zu tun?

Nun, ich habe nie behauptet, daß Goethe ein — auch nur unbewußter — Vorläufer des Marxismus war. Es ist evident, daß auch der von mir skizzierte Goethe zu den größtenteils ökonomischen und politischen Problemen, über die die Menschen im allgemeinen zu Marx kommen, keine innere Beziehung haben konnte:

Marx ist aber auch ein Theoretiker und Kämpfer jenes „Reichs der Freiheit“, im Vergleich zu dem er unsere ganze bisherige Entwicklung nur als Vorgeschichte der Menschheit betrachtet. Diese begann mit der Arbeit, mit jenen bewußten teleologischen Setzungen, die den Reproduktionsprozeß der Menschheit von dem eines jeden andern Lebewesens qualitativ abgrenzen. Marx zieht die für uns hier wichtigste Grenzscheide sehr klar, indem er der stummen Gattungsmäßigkeit der sonstigen Lebewesen die meschliche, als nicht mehr stumme, gegenüberstellt.

Die aktive Anpassung an die Umgebung im Reproduktionsprozeß der Menschheit begründet also, im Gegensatz zur passiven der anderen Lebewesen, unsere nicht mehr stumme Gattungsmäßigkeit bereits in der Vorgeschichte der Menschheit, in der Periode der sich ablösenden Entfremdungen des Menschen von sich selbst. Wie immer in der Marxschen Geschichtstheorie bildet die materielle, also ökonomische Selbstreproduktion die praktisch grundlegende Seinsbestimmung. Der Übergang von der Vorgeschichte zur wirklichen Geschichte kann sich also nur vollziehen, wenn dieser ökonomische Reproduktionsprozeß zur bloßen Basis einer höheren Gattungsmäßigkeit wird, die sich über diesem „Reich der Notwendigkeit“ als „Reich der Freiheit“ erhebt, wobei jene alte Basis auch weiter ihre Notwendigkeit (lediglich als Basis) bewahrt. Freiheit wird dabei von Marx als „menschliche Kraftentwicklung“ bestimmt, „die sich als Seibstzweck gilt“. Und das bedeute für Marx, daß die menschliche Person imstande ist, sich zu ihrer wahren Gattungsmäßigkeit zu entfalten.

Ohne diese für die ganze Marxsche Geschichtskonzeption entscheidende Bestimmung hier näher analysieren zu können, muß angemerkt werden, daß Marx auch bei dieser extremen Perspektive methodologisch radikal jeden Utopismus streng ablehnt.

Das bezieht sich natürlich in erster Linie auf die ökonomische Grundlage, die zu einer bestimmten quantitativen wie qualitativen Stufe gelangt sein muß, um nicht mehr als Hauptgebiet der menschlichen Aktivitäten, sondern als bloße materielle Basis der eigentlich menschlichen, der freien Kraftentfaltung, dienen zu können.

Marx’ Ablehnung des Utopismus erstreckt sich auch auf die subjektiv-menschlichen Voraussetzungen des „Reichs der Freiheit“. Wäre die Menschengattung im Laufe der Vorgeschichte in ihren die eigene Praxis unmittelbar vorbereitenden Gedanken und Gefühlen restlos befangen geblieben, dann wäre eine solche Wendung nicht einmal vorstellbar.

Bekanntlich hat die Entwicklung der Ökonomie als unmittelbarer Reproduktionsform des Lebens den bisherigen Weg real bestimmt. Wir wissen aber auch, daß die hier entstehenden Umwälzungen die Aktivität der Menschen selbst als subjektiven Faktor immer voraussetzen. Und die historische Erfahrung zeigt, daß dieser subjektive Faktor in manchen großen Umwälzungen über das jeweils praktisch Realisierbare hinausgestrebt ist: daß mancher Fortschritt gerade diesem — isoliert betrachtet: gescheiterten — Hinausstreben zu verdanken ist.

Damit ist jedoch das von Marx als ideologisches bezeichnete Gebiet noch lange nicht erschöpft. Ideologie ist nicht, wie das heute in der bürgerlichen Wissenschaft allgemein behauptet wird, einfach eine mehr oder weniger falsche Auffassung der Wirklichkeit. Nach Marx ist sie vielmehr der Inbegriff jener geistigen Mittel, mit deren Hilfe sich die Menschen der gesellschaftlichen Konflikte ihres Lebens bewußt werden und diese auszufechten instand gesetzt sind. Natürlich können diese Bewußtseinsformen der Wirklichkeit entsprechen oder von ihr abweichen. Aber auch im letzteren Falle können sie einerseits hochgradig bleiben, andererseits können sie tiefe, echte Probleme der Menschheitsgattung betreffende Feststellungen enthalten. Sie können ebenso versuchen, auf aktuelle Tagesfragen unmittelbar zu antworten oder gegenwärtig nicht realisierbare, aber bedeutende Fragen der Gattungsentwicklung aufwerfen.

Gerade das aber interessiert uns hier. Auch ohne Marx ist unschwer festzustellen, daß gerade solche Fragestellungen und Stellungnahmen jahrhundertelang im Bewußtsein der Menschheit lebendig geblieben sind, während die meisten praktisch wirksamen Antworten längst der Vergessenheit anheimgefallen sind. Dabei sind die meisten ideologischen Antworten auf praktisch reale Fragen zugleich Ausdrucksformen größerer sozialer Gebilde (Staat, Partei); während hinter den rein ideologischen Relevationen, die hier gemeint sind, normalerweise nur ihre Verfasser stehen. Es sind zumeist Ausdrucksweisen der großen Kunst und der bedeutenden Philosophie.

In meiner „Ästhetik“ habe ich die große Kunst das Gedächtnis der Menschheit über ihren eigenen Weg genannt. Ohne die Frage theoretisch bis zu diesem Punkt zu verallgemeinern, hat Marx, der übrigens die spezifische Entstehungsart solcher Ideologie durch die Annahme einer ungleichmäßigen Entwicklung vor allem auf diesem Gebiet historisch zu erfassen versuchte, Einzelphänomene auch in diesem Sinne klarzulegen unternommen.

So beruht die bis in die Gegenwart reichende Wirkung Homers für Marx darauf, daß dieser einen adäquaten Ausdruck für das Wesen der „normalen Kindheit“ der Menschheit gefunden hat. Ich glaube — mit Marx —, daß diese Kindheit auch ein aktuelles Interesse hat, weil die Verwirklichung der Gattungsmäßigkeit der Menschheit ein Problemkomplex ist, dessen Lösung zwar vieles scheinbar Gescheiterte als Element der eigenen Entwicklung in sich birgt: daß aber das „Reich der Freiheit“ ebenso ein Produkt der Geschichte der Selbsttätigkeit der Menschen ist, wie wäre das für das „Reich der Notwendigkeit“ ununterbrochen erleben. Wenn diese Entwicklung sich nicht zum subjektiven Faktor des „Reichs der Freiheit“ vertiefen und ausdehnen könnte, bliebe dieses eine abstrakte Utopie.

Darum glaube ich nicht nur auf dem richtigen Weg zum Verständnis Goethes zu sein, sondern dies auch auf einem von Marx aufgezeichneten Weg gesucht zu haben, indem ich in Goethe einen jener Ideologen erblicke, die eine bestimmte Etappe der menschlichen Gattungsentwicklung in ihren wesentlichen und normalen Bestimmungen erkannt und bewußt gemacht haben. Die Marxsche Interpretation Homers wurde so für mich ein Wegweiser für die Goethes.

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