FORVM, No. 465-467
November
1992

Groll und der Balkankrieg

Wiener Prater, das „Volksfest“ auf der Jesuitenwiese, Samstag Mittag
Abb: Ludwig Koch, Hurrah!
In: Skizzen aus dem Kriegshofquartier, Verlag von L. W. Seidel & Sohn, k.u.k. Hofbuchhändler, Wien I, Graben 13, November 1914

Groll, ein Rollstuhlfahrer aus Wien-Floridsdorf, sitzt im »Café des 21. Bezirks« vor zwei halbvollen Gläsern Zweigelt und studiert die Todesanzeigen in der Zeitschrift »Der fortschrittliche Rentner«. Hin und wieder schüttelt er betrübt den Kopf, manchmal entringt sich ihm auch ein Seufzer der Erleichterung.

Plötzlich stürzt Mag. Tritt, ein Soziologe aus Wien-Hietzing, auf ihn zu.

Tritt: Freund Groll, Sie hier? Wissen Sie denn nicht, daß dies das Fest der starrsinnigen Wiener Kommunisten ist? Sympathisieren Sie mit dem Stalinismus?

Groll: Erwarten Sie nicht, daß ich Sie um ihre Wissenslücken beneide. (Mit einem Blick auf den Rollstuhl) Trinken Sie ein Glas Zweigelt mit uns?

Tritt: Danke. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, hier heimisch zu sein. Ich bin sozusagen nur beruflich hier, als Soziologe darf einem nichts fremd sein.

Groll: Mich führt ein Freundschaftsdienst hierher, und das schon das zwanzigste Jahr. Sie müssen wissen, mein Rollstuhl ist ein notorischer Stalinist; er hält unbeirrt an der Revolution fest, ihre Rituale sind ihm heilig, und wenn er getrunken hat, was er häufig, aber reichlich zu tun pflegt, besteht er darauf, daß ich ihn „Josef“ rufe. Seit die »Volksstimme« vorübergehend eingestellt wurde, bereitet er sich noch gewissenhafter auf das Fest vor, ich muß seine Räder mit Schaum ausfüllen und am Abend vor dem Fest poliere ich seine rote Lackierung mit Wodka.

Tritt: Ich finde diese Haltung abscheulich, unverbesserlich und dogmatisch.

Groll: Er ist eben standortreu. In jeder Hinsicht.

Tritt: Gottseidank haben Leute wie Sie und Ihr Rollstuhl politisch nichts mehr zu sagen.

Groll: Dafür ist unser Schweigen umso furchtbarer. Seit unsere Stimme verstummte, ist das unerträgliche Gewäsch der Schönredner die einzige Alternative zum Gebrüll der Verstümmelten.

Tritt: Sie sprechen vom Balkankrieg?

Groll: Ich schweige von Österreich. Das ist dasselbe.

Tritt: Ich erinnere mich, daß Sie sich im Vorjahr über die Behinderten-Kampagne der „Aktion Mensch“ empörten. Ihre Kritik scheint Früchte zu tragen, heuer wurde die Losung geändert.

Groll: Weil voriges Jahr die behinderten Menschen mit keinem Wort, keinem Bild, vorkamen, weil sie flächendeckend entsorgt waren, lautet die diesjährige Losung: „Es gibt keine Behinderten“. Die Lüge hat übers Jahr an Dreistigkeit zugelegt.

Tritt: Es wird Sie nicht überraschen, daß ich Ihre Meinung auch heuer nicht teile!

Groll: Ich ertrage es wie das Rauschen der Pappeln.

Tritt: Sie werden zynisch, ein Zeichen von Schwäche.

Groll: Die ausgemerzt werden muß: Es gibt keine Behinderten. Dabei handelt es sich aber nur um den halben Teil der Wahrheit. In Wirklichkeit meint der Satz: Es gibt keine Behinderten bei uns. Jenseits der Mur aber gibt es zehntausende behinderte Menschen und zwar Kriegsopfer, Verstümmelte und Verwundete. Ihr Brüllen dringt täglich aus den Wohnräumen, wenn Frau Neuhauser aus den Spitälern von Sarajewo berichtet, wenn sie die Kamera in wahrhaft obszöner Nacktheit auf weggerissene Gesichtshälften, zertrümmerte Hüften, hervorquellende Gedärme und zu rotem Brei zerquetschte Glieder richten läßt, die durch herausragende weiße Knochensplitter besonders in den hochfrequenten Farbfernsehgeräten für beeindruckende Kontraste sorgen.

Wenn diese Frau, eine legitime Erbin der von Karl Kraus in den „Letzten Tagen der Menschheit“ beschriebenen Schalek, sich auf die Fersen der bosnischen Behinderten heftet, dann bleibt in den heimischen Wohnlandschaften kein Auge trocken, dann tropft das warme Blut auf die gehäkelten Tischdeckchen und nicht wenige, denen der Geruch in die Nase steigt, atmen befreit auf.

Tritt: Sie suhlen sich ja geradezu in der Apokalypse!

Groll: Die Neuhauser steckt in ihrer Blutgier die Kamera in klaffende, pulsierende Wunden, kein Eiterherd, kein Leberriß ist vor ihr sicher, mit vor Wollust zittriger Stimme singt sie das Hohelied der Blutsäuferei, die von den Daheimgebliebenen ehrfurchtsvoll Kriegsberichterstattung genannt wird. Hektische Flecken der nahenden Erfüllung schauern über die Visage der Reporterin, die ihr Leben einsetzt, um unseres zu verstümmeln; und wenn sie mit den Füßen im Blut watend und mit dem Mikrophon in der Hand an Leichen herumstochernd ihren Kommentar hervorsprudelt, dann ist der Höhepunkt der Orgie nicht fern, dann weiß der Landsmann, daß sie, kaum ausgeblendet, ihre Zähne in die aufgebrochenen Fleischklumpen schlägt, und er, angewidert und geil wie schon Jahrzehnte nicht, fühlt mit ihr.

Es gibt soviele Behinderte wie nie zuvor zu sehen, und das zur besten Sendezeit. Um neunzehn Uhr dreißig dürfen die bosnischen Monster die Ledergarnitur der Österreicher besudeln, jener Österreicher, die unter sich keine Behinderten ertragen, aber nicht ohne die Gewißheit leben können, daß woanders, in der nachbarschaftlichen Fremde, die Fleisch gewordene Abschreckung umgeht. Nur so können die Landsleute der Neuhauser ihre Obsession, den Traum vom niemals endenden Schlachtfest, fortträumen. Nur in der unerhörtesten Pornographie sind sie mit sich selber eins. Menschliche Wesen ertragen sie nicht, blutenden Würsten aber öffnen sie freudig ihr Heim. Das Land wird von seinen behinderten Menschen gesäubert, von Granaten zerfetzte Leiber aber, die sich im Todeskampf winden, schließt es ins Herz.

Es nimmt nicht wunder, daß die Hohepriester der Barbarei dabei nicht zuschauen können, sie wissen, daß mit Menschen, die zulassen, daß mit ihresgleichen so verfahren wird wie im ORF, alles, auch das vergangen Geglaubte, wieder möglich wird. Aus diesem Grund schließen sie das Land vor der Welt ab, deshalb trommeln sie unentwegt auf die Bevölkerung ein, es gelte nicht bloß das Leben, es gelte, mehr noch, die Identität zu verteidigen, und noch während die Österreicher, Böses ahnend, beginnen, sich nach ihrer Identität zu erkundigen, verpuppen sie sich auch schon von Landsleuten zu Landsern und geben damit das Zeichen für die Neuhausers im Land, die Kamera zu wetzen und die Feder zu entsichern.

Tritt: Welcher Teufel reitet Sie, daß sie derartige Alpträume plagen?

Groll: Ich gäbe meine Beine, wär es ein Teufel. Sie entschuldigen uns, Josef ist schon ungeduldig. Das Boxturnier fängt an. (Schwingt sich in den Rollstuhl und fährt, Tritt kopfschüttelnd zurücklassend, davon).

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