FORVM, No. 95
November
1961

Großes Moskauer Welttheater

Notizen zum XXII. Parteitag der KPdSU

Das Große Kreml-Theater — der mit allen Wassern moderner Public Relations gewaschene Chruschtschew konnte sich keinen besseren Namen für Ort und Veranstaltung des XXII. Parteitages der KPdSU ausdenken. Ein eigenes Haus ließ er sich in Eile dafür errichten, eine ins Gigantische übersteigerte Imitation westdeutscher Theaterneubauten oder österreichischer Festspielhäuser. Vom Volksmund bereits „Chruschtschews weißer Elefant“ getauft, ist dieser riesige Kubus mit seiner monotonen modernistischen Fassade unter den historischen und klassischen Bauten des Kreml eine Kulturschande. In diesem Konkurrenz-Etablissement zu der „Großen Halle des Volkes“ in Peking oder dem UNO-Glashaus in New York will Chruschtschew Weltpolitik machen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er bald eine Generalversammlung der Vereinten Nationen zu einem Gastspiel in das neue Haus nach Moskau einladen wird.

Säuberung auf der Drehbühne

Prospekte, Maschinen und Massen wurden nicht gescheut. Eine 32 Meter breite Szene mit Dreh- und Senkbühne ist der sinnige Schauplatz für die Säuberung der Antiparteigruppe und die Reprise der Entstalinisierung mit neuester elektronischer Ausrüstung, Breitwand-Kino und Fernseh-Installationen. Im amphitheatralischen Zuschauerraum und auf zwei Balkonen gibt es rot bespannte Plätze für eine sechstausendköpfige Claque, wobei man wohlweislich die üblichen Konferenztische gespart hat, damit niemand seinen Protest nach einem berühmten Vorbild durch Klopfen mit dem Schuh ausdrücken könne.

Bereits im Januar wurde die große Aufführung mit Chruschtschew als Autor, Regisseur, Bühnenbildner und erstem Helden und mit Frol Koslow in einer führenden Nebenrolle angezeigt, um sich solcherart weltweite Aufmerksamkeit zu sichern. Als Rollenbücher wurden ein neues Parteiprogramm und neue Parteistatuten verteilt, und landauf, landab fanden zahllose Partei- und Volksversammlungen zur Erklärung des Programmes statt. Scharen von Funktionären, Kulissenschiebern und Claqueuren, die der Direktion nicht mehr paßten oder ihre Rollen schlecht geübt hatten, wurden gesäubert und manche große und kleine Rolle neu verteilt. Am 17. Oktober hob sich der Vorhang vor einem Spektakelstück, das alles von Wagner oder Cecil B. de Mille übertreffen sollte.

Nach kurzer Begrüßung der Claque — 4.813 Parteitagsdelegierte und Abordnungen von 80 ausländischen Parteien — begann Chruschtschew sofort mit zwei großen Monologen von je sieben Stunden Dauer. Er mußte darin mitteilen, daß bestellte Prospekte nicht rechtzeitig oder nicht im erwarteten Maße fertig geworden sind, daß es 1961 wider Erwarten nicht die größte Ernte in der Geschichte Rußlands, dafür aber empfindliche Rückschläge in den Neulandgebieten gegeben hat, daß die Fleischlieferungen zurückgegangen sind, daß Arbeitsproduktivität und Kapitalinvestitionen den Plänen nachhinken und daß die Versorgung der Bevölkerung weiter im Argen liegt. Er kündigte als Ersatz ein monströses Feuerwerk mit 50 Megatonnen gegen Ende des Parteitages an. Chruschtschew erklärte auch nebenbei, daß bei einem Mitwirken der westlichen Alliierten der angekündigte nächste Aktschluß im deutschen Drama verschoben werden könne, ohne allerdings eine Änderung des sowjetischen Textes in Aussicht zu stellen.

Zur Überraschung aller Zuschauer schloß Chruschtschew mit der Ankündigung einer sensationellen Spielplanänderung. Nicht nur das vorgesehene Oratorium für Solo und Chor „Aufbau des Kommunismus“ sollte gegeben werden, sondern auch das bisher nur in geschlossener Vorstellung gezeigte und streng zensierte Stück vom XX. Parteitag in öffentlicher Wiederholung, das Schauerdrama von Stalins Untaten, ergänzt durch Szenen über die Antiparteigruppe und die albanischen Stalinisten. In rhapsodischer Breite verlas Chruschtschew seine Version der Geschichte. Ihn, den Helden, wollten die stalinistischen Bösewichter Molotow, Malenkow, Kaganowitsch und Woroschilow an der Entstalinisierung, Neuland-Erschließung, Wirtschaftsreform und Koexistenz-Politik hindern. Mit Hilfe von Bulganin, Perwuchin, Saburow und Schepilow brachten sie eine „arithmetische Mehrheit“ im Parteipräsidium zusammen. Im Juni wollten sie ihn aus der Parteiführung hinauswerfen und selbst die Macht übernehmen. Durch das plötzliche Auftreten des „leninistischen Zentralkomitees“, das sich durch Bulganins Wachen schleichen mußte, wurden sie an solcher Absicht gehindert und flugs selbst gesäubert.

Die demokratischen Stalinisten

Das Auffallende an dieser Geschichte sind nicht nur die zahlreichen Lücken und Unstimmigkeiten, sondern die Tatsache, daß die angeblich mit stalinistischen Methoden operierenden „Parteifeinde“ Chruschtschew durch einen Mehrheitsentscheid absetzen wollten und dabei scheiterten, weil dieser sich nicht an die Regeln der „innerparteilichen Demokratie“ hielt und einen Staatsstreich vollzog.

Nach dieser Erzählung Chruschtschews trat ein Akteur nach dem anderen in das Rampenlicht des Kreml-Theaters, beschwor die Geister der Vergangenheit, fügte neue Episoden und ausgewählte Kapitel aus dem Sündenregister Stalins sowie seiner Helfershelfer bei und rühmte in den höchsten Tönen den Helden Chruschtschew, der nicht nur das Sowjetland vor dem Rückfall in die finstersten Zeiten des Terrors, sondern auch die Menschheit vor der Kriegslüsternheit seiner Gegenspieler gerettet hätte. Monoton folgte auf Bericht und Verdammung die Forderung, diese „Fraktionsmacher, Revisionisten und Dogmatiker“ aus der Partei auszuschließen. Geheimpolizist Schelepin drohte ihnen bereits mit dem Parteigericht und Präsidiums-Mitglied Kuusinen zog sogar ominöse Parallelen zwischen der Antiparteigruppe und Stalins Gegnern Trotzki, Sinowjew und Bucharin.

Für die Rolle des Haupt-Intriganten schien anfangs der alte Woroschilow ausersehen, welcher, am Präsidiumstisch sitzend, diese Anklagen — und auch die Enthüllung seiner Denunziation der „Verschwörer“ an Chruschtschew — über sich ergehen lassen mußte und sich vergeblich zum Wort meldete. Dann verschwand er jedoch schnell von der Szene, und die Rolle des ersten Bösewichts fiel immer mehr Molotow zu, wobei sich der „steinerne Hintern“, „Erzbürokrat“ und „reaktionäre Konservative“ als Mephisto Stalins entpuppte. Man erfuhr, daß Molotow nie den wahren Glauben gehabt habe und deshalb schon 1922 von Lenin angegriffen wurde. Nach dem Säuberungsritual wird man nie Abweichler, man war es schon immer.

Der Hintermann in Wien

Molotow soll stets ein „unverbesserlicher und böswilliger politischer Spekulant“ gewesen sein und in der Außenpolitik stets auf Krieg und revolutionäre Aktion gedrängt haben. Im Reigen der Anklagen vermißte man bisher nur die eine, daß er in Ulan Bator oder Wien mit den „Imperialisten“ gegen die guten Leninisten in Moskau konspiriert habe. Aber das kann noch kommen, und die im Oktober 1960 in Wien — anscheinend mit Unterstützung sowjetischer Hintermänner — in die Welt gesetzte Tatarenmeldung vom Sturz Chruschtschews könnte dann eine nicht unwichtige Rolle spielen. Der Grund für dieses Ketzergericht über den alten Berufsrevolutionär, der schon im Juni 1957 als einziger gegen den Säuberungs-Ukas des Zentralkomitees gestimmt hat, ist einfach der, daß Molotow nicht nur vor und nach dem XX. Parteitag gegen Chruschtschew aufgetreten ist, sondern nun auch die Vorbereitungen zum XXII. Parteitag kritisiert und damit seine „spalterische und parteifeindliche Tätigkeit“ fortgesetzt hat. Molotow soll, wie Kuusinen aufdeckte, in der letzten Zeit eine Reihe von Schriften verfaßt und darin „die leninistische Linie des Zentralkomitees verzerrt und infam die politische Haltung des Genossen Chruschtschew verleumdet haben“. Er soll schließlich kurz vor dem Parteitag in einem Schreiben an alle kommunistischen Parteien Chruschtschews neues Parteiprogramm als „antimarxistisch, pazifistisch und revisionistisch“ bezeichnet und in Abrede gestellt haben, daß Lenin je von „friedlicher Koexistenz“ gesprochen habe — womit er Recht hat.

Chruschtschew hat nicht zufällig seine Angriffe gegen die Antiparteigruppe und die albanische Parteiführung simultan vorgetragen und beiden die Mißachtung der Beschlüsse des XX. Parteitags und die Kritik am neuen Parteiprogramm vorgeworfen. Mit solchem Scherbengericht zielt er auf einen formidableren Gegner, auf Mao Tse-tung und die chinesischen Kommunisten, die er jetzt unter Ausnutzung ihrer inneren Schwierigkeiten zur Akzeptierung seines Führungsanspruches im Weltkommunismus zwingen will. Tschu En-lai hat zwar über den Fall Molotow geschwiegen, aber er hat im Kremi-Theater Chruschtschew öffentlich gerügt, daß er seinen Streit mit Tirana auf die Bühne gebracht habe, statt ihn hinter den Kulissen zu regeln. Somit haben Molotow und Tschu die geplante Darbietung des Chruschtschew’schen Triumphs als kommunistischer Ideologe und Verfasser des Parteiprogramms überraschend gestört. Sie scheinen ihn in letzter Minute zu einer Programmänderung gezwungen zu haben; deshalb mußte wohl auch kurz vor Beginn des Parteitags, am 14. Oktober, eine Zentralkomitee-Sitzung abgehalten werden.

Das Festfahren seiner Reformen und die Fehlschläge in den Neulandgebieten, die immer größer werdende Kluft zwischen den Lippenbekenntnissen der Funktionäre und der tatsächlichen Verwirklichung der Neuerungen, dazu die wachsende Kritik im Innern und von außen — dies alles brachte Chruschtschew dazu, statt der Zukunftsmusik von der „kommunistischen Gesellschaft“ nochmals die erfolgreiche Platte von der „Entstalinisierung“ ablaufen zu lassen. Dabei übersah er die Marx’sche Lehre, „daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“ („Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“).

Tauwetter mit Bomben

War die Entstalinisierung in den Jahren 1953 bis 1956 ein elementares Ereignis, das Stalins Völkergefängnis aufzubrechen und mit seinem „Tauwetter“ den Frühling anzukündigen schien, so kann sie diesmal nur eine Farce sein: die posthume Rehabilitierung der Opfer Stalins durch den Helfershelfer Stalins, die Ausschaltung der „Stalinisten“ in der Antiparteigruppe wie in der albanischen Parteiführung mit ausgesprochen stalinistischen Methoden, die Verbindung des „Kampfes gegen den Personenkult“ mit dem neuen Kult um Chruschtschew, die Beteuerung der „friedlichen Koexistenz“ einerseits und die Zündung von Superbomben anderseits.

Chruschtschew spielt erneut das Stück von der „Entstalinisierung“, um sich damit fester und sicherer auf den Thron Stalins setzen zu können, um jede Opposition auszuschalten, die absolute Herrschaft zu gewinnen und seine Macht zu stärken — um künftig ohne Furcht vor tatsächlichen oder potentiellen Gegnern über das Sowjetreich und die internationale kommunistische Bewegung herrschen zu können.

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