FORVM, No. 222
Juni
1972

Grundgesetz deckt Linksradikale

Der vierte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland ist nicht ein altersgrauer Zeuge der wechselvollen Perioden deutscher Geschichte auf dem Wege vom 19. zum 20. Jahrhundert; er ist nicht Repräsentant des deutschen Bürgertums, geschweige denn ein so penetrant typischer, wie es seine beiden letzten Vorgänger gewesen waren. Er kommt aus einer anderen Schicht, aus jener unteren, die aus einem Objekt der Staatsführung zum mitbeteiligten Subjekt zu machen eines der ersten Ziele der sozialistischen Bewegung gewesen war. So ist in einem Lande, dessen staatstragende Klasse seit hundert Jahren das mit dem Adel verbundene Bürgertum gewesen war, vieles untypisch an diesem Bundeskanzler: seine Herkunft aus der Arbeiterschaft, seine nichteheliche Geburt, seine politische Jugend, dann seine Emigration eben infolge dieser frühen Politisierung.

Der Rückblick auf die ersten Jahrzehnte seines Lebens zeigt an: dies ist nicht die Biographie eines Selfmademan, der sich aus kleinen Anfängen zäh bis an die Spitze emporgearbeitet hat, zielsicher den Maßstäben und Forderungen der herrschenden Schicht sich anpassend.

Ob das deutsche Bürgertum ihn an der Regierungsspitze, an die es ihn nicht mit einer eindeutigen Willensbekundung getragen hat, auf die Dauer erträgt, wird eine entscheidende Frage dieser Jahre sein. Tut es das nicht, so wird es damit ausdrücken, daß es wenig gelernt hat in den Jahrzehnten, die zwischen der Jugend und der Kanzlerschaft dieses Mannes liegen — zugleich auch, daß ihm zuviel unbürgerliche Momente in der Biographie dieses Mannes enthalten sind, lauter Hinderungen, ihm vorbehaltlos zu vertrauen, lauter Verdachtsgründe, mindestens Vorbehaltsgründe gegen ihn.

Er mußte als junger Mann emigrieren, weil er politisch war, weil er politisch links war, so links, daß er nicht hoffen konnte, vom braunen Regime beim Ausweichen ins Unpolitische geduldet zu werden. Seine Emigration war die Folge des Erfolgs, den die Diffamierung all dessen, was „links“ etikettiert wurde, beim deutschen Bürgertum hatte. Zwar hatte die deutsche Linke in der Weimarer Republik nie die Chance, an die Macht zu kommen, auch nicht, wenn Sozialdemokraten und Kommunisten sich zur Volksfront vereinigt hätten, erst recht nicht, da beide jeden Gedanken an solche Vereinigung weit von sich wiesen. Aber schon das Vorhandensein dieser Linksparteien genügte, um denen den Erfolg zu sichern, die ihren eigenen Weg zur Macht darauf abstellten, mit der Warnung vor der Gefahr von links das deutsche Bürgertum so zu ängstigen, daß es sich in der Zeit der Krise willig den rechten Liquidatoren der Republik in die Arme warf.

Nicht zwischen den extremistischen Gruppen von rechts und links wurde die Republik zerrieben, wie es heute das für eine gleiche Diffamierung eifrig gepflegte bundesrepublikanische Geschichtsklischee behauptet, sondern die bürgerliche Angst vor einer Entwicklung nach links, die die Fähigkeiten wie die Möglichkeiten der damaligen linken Gruppen weit überschätzte, ließ die aus der Katastrophe des Ersten Weltkriegs mit Hilfe einer Linksbewegung entstandene erste deutsche Republik nie zu einer von ihren Bürgern getragenen, gar geliebten Republik werden; an dieser bürgerlichen Angst ist sie dann gestorben.

Das deutsche Bürgertum bejubelte die Liquidation der Linksparteien nach dem Reichstagsbrand, blind dafür, daß es damit den Untergang seiner eigenen Freiheiten, die es nie genug schätzen gelernt hatte, bejubelte und den Anfang des KZ-Staates und die heranrückenden Massakter des Zweiten Weltkrieges dazu. Die Linksbewegung von 1918 hatte es mehr verschreckt als der ganze Erste Weltkrieg.

Zwei Jahre Kanzlerschaft Brandt genügten, um offenbar zu machen, daß dieser Kanzler, dessen Jugend noch von den Ausläufern jener Linksbewegung geprägt worden war, und seine Partei weiten Teilen des deutschen Bürgertums nur vertrauenswürdig werden können, wenn sie jene Angst beruhigen, die heute aufs neue angestachelt wird — eine Angst, für deren Ausnützung und Aufstachelung heute schon das Vorhandensein einer ungleich schwächeren Linksbewequng, als es die der Jahre zwischen 1918 und 1933 gewesen war, ausreicht. Diese Angst zu schüren, ist das politische Kampfmittel heute wie damals. Das Ergebnis im deutschen Bürgertum droht das gleiche zu werden: lieber keine Freiheit als eine Freiheit, die auch die Freiheit für links umschließt.

SPD und SPD-Regierung bekommen aufs neue zu erfahren: sie haben keine Gnade, keine Fairneß, keine Gerechtigkeit zu erwarten, solange sie noch linksverdächtig sind, und sie werden linksverdächtig sein, solange sie nicht gänzlich mit ihrer Vergangenheit brechen, solange sie nicht auch noch die im Godesberger Programm enthaltenen Momente ihrer Tradition abstoßen, solange sie nicht Garantien gegen deren Wiederaufleben geben — solange sie nicht rechts werden.

Darum wird diese SPD in eine Identifikationskette eingespannt, die ihr selbst ebenso das Fürchten beibringen soll wie den übrigen Bürgern: die Linksradikalen werden mit der Baader-Meinhof-Gruppe identifiziert, die Linken mit den Linksradikalen, die SPD mit den Linken. Die Jungsozialisten als Zwischenglied, das die SPD mit den Linksradikalen verbindet, dienen zum Beweis für diese Kette. Und das Doppelte ist erreicht: In der SPD breitet sich die Furcht aus, für links gehalten zu werden, und in der Wählermasse breitet sich die Furcht vor der linksverdächtigen SPD aus.

Das Groteske dabei: dies geschieht im Namen einer Verfassung, die mit linken Prädikaten getauft ist, mit den Stichworten des linken Bürgertums und der Arbeiterschaft im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: im Namen der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“. Das Kunststück, aus jener Formel einen Weihenamen zu machen, der der Tabuisierung und Konservierung der noch nicht demokratisierten Bestandteile der bundesrepublikanischen Gesellschaft in Wirtschaft, Verwaltung, an der Hochschule und im parteipolitischen Sektor dient, wäre zu bewundern, wenn es nicht ein Zeichen dafür wäre, daß bei den Deutschen auch die Demokratie zu einer Sache von Kommando und Gehorsam wird. Immer noch kommt der Befehl zur Demokratie von oben, hebt darum Strammstehen, Unterordnung und Uniformierung nicht auf, sondern befestigt das alte Wesen unter neuen Formeln.

Diese Formeln aber sind, wie gesagt, linke Formeln. Was der junge Lübecker Sozialist anstrebte, war das herkömmliche Ziel der sozialistischen Bewegung: eine „freiheitlich-demokratische Grundordnung“, d.h. eine Gesellschaftsordnung mit möglichst viel Freiheit (Selbstbestimmung statt Verfügungsgewalt von Menschen über Menschen) und Demokratie (Mitbestimmung aller am gesellschaftlichen Geschehen statt hierarchischer Privilegienordnung). Weil er dieses Ziel ernst nahm, war er unzufrieden mit der SPD und schloß sich einer linken Absplitterung an. Daß die Weimarer Verfassung eine freiheitlich-demokratische Grundordnung mehr versprach als schuf, war ihm als Sozialisten klär; denn für einen Sozialisten gilt: Solange die Produktionsmittel in Privathand sind, solange nicht die Produzenten selbst über die Produktion und deren Verwertung bestimmen, solange wird die Gesellschaft immer hierarchisch gestaffelt sein, solange wird wirtschaftliche Macht auch politische Macht zur Folge haben, solange wird Lohnabhängigkeit im Widerspruch zur staatsbürgerlichen Freiheit stehen, solange wird formale Demokratie der Vollendung zur materialen Demokratie erst noch bedürfen. Demokratie und Sozialismus war für jene Generation von Sozialisten noch eine Einheit. Heute, nach der leninistisch-stalinistischen Periode der Sowjetunion, sind diese beiden Begriffe im öffentlichen Bewußtsein auseinander, ja gegeneinander getreten. Ein erneuerter Marxismus, wie er heute in der jungen Generation wieder lebendig ist, wird sich daran bewähren müssen, daß ihm die Einheit von Sozialismus, Demokratie und Freiheit wieder zur Selbstverständlichkeit wird.

Der junge Lübecker Sozialist sah die Kluft zwischen dem Versprechen der Verfassung und der diesem Versprechen engegengesetzten kapitalistischen Wirklichkeit in der Weimarer Republik. Eben um diese Kluft zu schließen, war er Sozialist geworden. Weil er sie in der Sowjetunion durch eine neue Kluft ersetzt sah, konnte er nicht Kommunist werden und nach Rußland emigrieren. Er floh in ein Land der westlichen Demokratie und kehrte von dort, nach dem Sturz der Tyrannei, zurück nach Deutschland, um hier am Aufbau eines Staatswesens der westlichen, d.h. der bürgerlich-kapitalistischen Demokratie mitzuarbeiten. Zugleich hört er nicht auf, sich als „demokratischen Sozialisten“ zu bezeichnen. Was kann einen Sozialisten an der bürgerlichen Demokratie interessieren, da er doch über jene Kluft, über die Unmöglichkeit, auf der Basis der kapitalistischen Wirtschaft eine freiheitlich-demokratische Verfassungswirklichkeit zu schaffen (im Unterschied zu bürgerlichen Liberalen) keine Illusion hegt?

Er schätzt eine bürgerliche „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ als diejenige Staatsordnung, die den Kampf für eine freiheitlich-demokratische Verfassungswirklichkeit, also Gesellschaftsordnung, ermöglicht und legalisiert, den Kampf um die Realisierung derjenigen Versprechungen, die die bürgerliche Demokratie uns gibt, die aber erst eine sozialistische Demokratie einlösen kann.

Es gibt eine Affinität von Sozialismus und bürgerlicher Demokratie, zu der sich echter Sozialismus immer bekannt hat. Sie besteht im Inhalt dieser Versprechungen, in dem Versprechen von Freiheit und Demokratie, das die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ von Weimar und Bonn mehr gibt als einlöst, für dessen Einlösung diese Grundordnung aber zugleich einzutreten gebietet. Die bürgerliche Demokratie gibt in ihrem liberalen Grundgesetz nicht nur den neutralen Rahmen und die Freiheitsgarantie für die politischen Richtungskämpfe, sondern sie hat zugleich selbst eine Linkstendenz, die in ihrem Versprechen besteht; dieses Versprechen macht, daß das Bonner Grundgesetz als Verfassung einer bürgerlichen Demokratie keineswegs neutral zwischen rechts und links steht, sonden nach rechts sich abgrenzt und nach links öffnet.

Die inhaltliche Affinität zwischen den Idealen des bürgerlichen Liberalismus und den Zielen des Sozialismus läßt die bürgerliche Demokratie nicht in der Mitte zwischen rechts und links stehen. Dieses Stand-Bild, das man meist von ihr entwirft, ist so gefährlich, daß man es nicht genug angreifen kann. An ihm zeigt sich die Gefährlichkeit unserer bildlichen Redeweise, die unversehens die Wirklichkeit in Raster zwängt, die sie verbiegen.

Die Demokratie „steht“ nicht, so wenig wie irgend etwas anderes im ständig fließenden gesellschaftlichen Leben. Demokratie bewegt sich, jeden Tag, vorwärts oder rückwärts; die Bereiche von Selbst- und Mitbestimmung dehnen sich aus oder schrumpfen; in ihnen wird intensiv und kreativ oder steril und interesselos gelebt. Demokratie ist lebendige Bewegung — entweder vorwärts (das meint die Bildrede „links“) oder rückwärts (also „rechts“). Man kann nicht „auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen“. Hier gibt es keine Statik. Man kann nur in der von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gewiesenen Richtung gehen, also jeweils zu „mehr Demokratie“ (wie Brandts bekanntes Wort am Schluß seiner Regierungserklärung 1969 lautete) oder in der entgegengesetzten Richtung.

Das Grundgesetz von 1949 kennt keine Richtungsneutralität. Das statisch-räumliche Bild von einem demokratischen Staatswesen, das sich um eine Mitte sammelt und die Extreme nach beiden Seiten gleichmäßig von sich abstößt, mag im Kopfe mancher seiner Väter geherrscht haben; um so bezeichnender ist es, daß die in den Bestimmungen des Grundgesetzes sich niederschlagende Idee eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens sich nicht jenem statischen Bild fügte, sondern eine Richtungsperspektive festlegte: das Grundgesetz riegelt die Entwicklung des von ihm entworfenen Staates nach rückwärts ab und gibt ihm den Impuls nach vorwärts.

Das Grundgesetz läßt, anders als die Weimarer Verfassung, nicht unterschiedslos alle politischen Anschauungen miteinander konkurrieren. Art. 3 darf nicht vergessen lassen, daß es politische Anschauungen gibt, die früher erlaubt waren, heute aber nicht mehr unter die Toleranz des Art. 3 fallen: Wer religiöse, ethische, politische Gruppen von der Gleichberechtigung ausschließen will; wer in der Frage des Wehrdienstes das Gewissen des einzelnen dem Staatsgebot unterwerfen will; wer statt Völkerverständigung zum Krieg gegen ein anderes Volk hetzt; wer einen Führerstaat anstrebt oder ein Drei-Klassen-Wahlrecht oder Ungleichheit der Bürger vor dem Gesetz, der vertritt eine politische Anschauung, die nicht toleriert wird, vielmehr Parteiverbot und Verwirkung der Grundrechte zur Folge haben kann.

Dabei handelt es sich, wohlgemerkt, um Anschauungen, denen auf der Weimarer Bühne Gleichberechtigung zugestanden gewesen war.

Umgekehrt gebietet das Grundgesetz, eine Entwicklung in Gang zu bringen, die jedem die Realisierung seiner Grundrechte, einschließlich des Rechtes auf Bildung, auf öffentliche Kundgabe und Verbreitung seiner Anschauungen, auf freie Berufswahl usw. immer besser garantiert.

Die Tendenz nach rechts ist die Tendenz auf Beschränkung der Realisierung von Freiheit und Demokratie. Die Tendenz nach links zielt auf möglichst unbeschränkte Realisierung. Das Grundgesetz gibt die Diskussion zwischen diesen beiden Tendenzen frei; denn es lassen sich auch rationale Gründe für jene Beschränkung angeben, deren Geltendmachen nicht mit Demokratiefeindschaft identisch sein muß. Die Extreme aber, die in der Verlängerung dieser Tendenzen liegen, gelten vor den Augen des Grundgesetzes nicht gleich. Rechtsextremismus will die freiheitlich-demokratische Grundordnung rückgängig machen — rückgängig bis zum autoritären Obrigkeitsstaat oder zum Klerikalstaat oder gar zur Ein-Mann-Diktatur Hitlers oder Stalins. Die Radikalisierung der Tendenz nach rechts führt zur Beseitigung auch schon des Versprechens der bürgerlichen Demokratie, die Radikalisierung der Tendenz nach links dagegen zielt auf Realisierung dieses Versprechens; darum ist Rechtsextremismus der Bewegungstendenz des Grundgesetzes entgegengesetzt, Linksradikalismus dagegen mit ihr konform.

Das soll natürlich nicht heißen, das Grundgesetz fordere linksradikale Einstellung. Es heißt nur: auch linksradikale Einstellung ist (im Unterschied zur rechtsextremistischen) verfassungskonform. Das Grundgesetz verlangt von einem Radikalen nicht Verzicht auf seinen Radikalismus, von einem Revolutionär nicht Verzicht auf die Revolution, von einem Kommunisten nicht Verzicht auf seine kommunistische Zielsetzung. Es gestattet keineswegs nur eine gemäßigt-reformistische Programmatik innerhalb der Grenzen des bestehenden bürgerlich-kapitalistischen Systems. Es verlangt von den Radikalen, dem Revolutionär, dem Kommunisten nur, daß er seine Methode und sein Ziel als Fortschritt in der Realisierung der Grundrechte auszuweisen vermag, die der Wesensinhalt dieses Staates sein sollen.

Die Väter des Grundgesetzes waren zwar selbst in der Mehrheit Angehörige der bürgerlichen Schicht. Sie wollten den neuen Staat absichern gegen totalitäre Gefahren und darum die Fehler der Weimarer Verfassung vermeiden. Aber sie wollten auch nicht die Sünde des deutschen Bürgertums von 1933 wiederholen; sie wollten nicht erneut Kommunisten und radikale Sozialisten ihren Verfolgern ans Messer liefern. Sie wollten vielmehr dem Marxismus — und zwar nicht nur einem Kathedersozialismus, sondern einem aktiven, militanten Marxismus — die Chance geben, sich der politischen Auseinandersetzung unter den Regeln einer formalen Demokratie zu stellen, in dieser Auseinandersetzung zu lernen und sich zu bewähren und, wenn er es schafft, mit den Regeln dieser formalen Demokratie eines Tages auch zu siegen.

Daß der Behauptung von der Konformität des Linksradikalismus mit dem Grundgesetz die übliche Auffassung von der gleichmäßigen Demokratiefeindlichkeit der beiden Extreme entgegensteht, ist teils durch die Linken selbst, teils durch die Tradition des deutschen Bürgertums verschuldet. Der deutsche Linksradikalismus hatte von jeher nur in geringem Maße anarchistische und syndikalistische Elemente; er war von jeher marxistisch bestimmt, mit einer (vielleicht deutscher Mentalität zuzuschreibenden) Neigung zur marxistischen Orthodoxie. Das hatte zwei Folgen:

  1. Die kritische Entgegenstellung sozialistischer Demokratie gegen die bürgerliche Demokratie ließ die Affinität zwischen beiden Arten von Demokratie, den Vorbereitungscharakter der bürgerlichen Demokratie für die sozialistische verkennen. Man nahm es willig hin, zum Feind der bürgerlichen Demokratie gestempelt zu werden, statt die Wahrheit auszubreiten, daß man das Versprechen der bürgerlichen Demokratie besser, als es dieser je möglich sei, erfüllen wolle.
  2. Die Abhängigkeit des größten Teils der deutschen Kommunisten, also der in der KPD und jetzt in der DKP organisierten, vom sowjetischen Kommunismus macht es diesen Kommunisten schwer, glaubwürdig darin zu werden, daß ihre Bestrebung nach vorwärts und nicht nach rückwärts geht. Was im Laufe der Geschichte aus dem „demokratischen Zentralismus“ der kommunistischen Parteien geworden ist und was sich infolgedessen im Einparteiensystem der kommunistischen Staaten, im Fraktionsverbot, im Wahlmodus, im Rechtswesen, im Weltanschauungsuniformismus usw. darstellt, läßt sich auf keine Weise als eine Weiterentwicklung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, als Realisierung ihrer Versprechen ausweisen. Der deutsche Parteikommunismus umschließt zwar viele Linksradikale, die sich — heute wieder wie in den zwanziger Jahren — ihm anschließen aus Verlegenheit, wegen des Mangels anderer politisch kräftiger Gruppierungen — er hat sich aber den Titel „linksradikal“ noch nicht verdient. Um ihn zu verdienen, müßte er sich erst aus der Sowjethörigkeit lösen und gegen die Entwicklung des sowjetischen Modells von Sozialismus marxistische Kritik ansetzen.

Der Zustand der deutschen Linken ist selbst ein Spiegelbild der deutschen Zustände. Das gilt nicht nur für die Abhängigkeit des westdeutschen Parteikommunismus von der SED-Hierarchie und von der Fixierung auf die östlichen Systeme. Es gilt auch für den Mangel an nüchterner politischer Theorie bei vielen Linken. Der verschwommene, altmodische und durch die Entwicklung diskreditierte Begriff von der Diktatur des Proletariats wird als Polit-Hasch zur Selbstberauschung gebraucht, Guerilla-Begeisterung weckt putschistische Ideen, Ungeduld verträgt nicht den Gedanken an den langen Weg der für die Revolution nötigen Bewußtseinsbildung.

Darum können die Linken den Verdacht undemokratischer Gesinnung so schwer bekämpfen.

Nur wenn sie sich selbst darüber klar sind, können sie auch anderen klar machen: Sozialismus kann — um den Preis seiner Echtheit — nicht Vergewaltigung der Mehrheit durch die Minderheit sein; seine Verwirklichung liegt nicht nur im Interesse der Mehrheit, sondern muß die Tat der Mehrheit selbst sein. Dazu ist unabdingbar die Freiheit der Diskussion und der Kritik. Linksradikalismus nützt nicht mißbräuchlich diese von der bürgerlichen Demokratie gebotenen Freiheiten aus, sie sind vielmehr sein eigenes Lebenselement. Gibt er sie preis, so wird er — zum Rechtsextremismus!

Die These von der Konformität des Linksradikalismus mit dem Grundgesetz klingt überraschend wegen der Tradition des deutschen Bürgertums. Es ist ein Bürgertum ohne bürgerliche Revolution, ohne bürgerlichen Radikalismus. Die Deutschen haben an der Revolution, wie der junge Marx sagt, immer nur am Tage ihrer Beerdigung teilgenommen. Die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution in den anderen europäischen Ländern sind den Deutschen immer erst post festum, als hereinsickernde Folgen dieser Revolutionen oder als obrigkeitliches Gebot fremder Mächte zuteil geworden. Gegen Vorherrschaft von Adel und Militär gab es in Deutschland kein radikal-bürgerliches Selbstbewußtsein, sondern statt dessen das bürgerliche Schielen auf die Aristokratie und die Verflechtung mit ihr im industriellen Besitzbürgertum.

Darum sind in Deutschland die Worte „Revolution“ und „radikal“ ebenso verfemt wie das Wort „links“. Das ist gegenüber den anderen westlichen Ländern von Frankreich bis nach Lateinamerika ein terminologisches Unikum mit tieferer Bedeutung: „Revolution“ wird automatisch mit Terror, Chaos, Gewalt identifiziert, Radikalismus ebenso. Weil die Deutschen nie revolutionäre Befreiung erfahren haben, ist ihnen selbstverständlich, daß Revolution immer nur ihre eigenen Kinder frißt und Tyrannen hervorbringt. Wer sich als radikal und revolutionär zu erkennen gibt, ist darum eo ipso Verfassungsfeind und steht außerhalb der Toleranzgrenze des Grundgesetzes.

Verfassungspolitisch verhängnisvoll ist dieser überall anzutreffende Automatismus nicht nur deswegen, weil er die Linken der Diffamierung preisgibt und interessierten Rechtsgruppen Gelegenheit gibt, anti-linke Bürgerangst zu schüren und auszunützen, sondern auch deswegen, weil damit die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ mechanisch und zielsicher mit dem System der bestehenden Gesellschaft, mit „unserer Gesellschaftsordnung“ gleichgesetzt wird. Jene „Grundordnung“ bekommt dann die ihrem Wesen zuwiderlaufende Aufgabe, das bestehende System mit all seinen Unfreiheiten der Kritik zu entziehen und gegen den Umsturz zu schützen, während sie in Wahrheit die Aufgabe hat, die offene kritische Diskussion des bestehenden Systems, auch seine radikale Infragestellung (diese aber nur von links, nicht von rechts her!) zu gewährleisten und seine revolutionäre Ersetzung durch ein besseres System auf legale und friedliche Weise, ohne die Verheerungen eines Bürgerkrieges zu ermöglichen.

Das Grundgesetz verbietet nicht die Revolution, es legalisiert sie. Es legalisiert sie in dem doppelten Sinne, daß es die Agitation für die Revolution erlaubt, soferne es sich ausweislich um eine Revolution nach vorne handelt, auf bessere freiheitliche Demokratie hin, und zugleich den legalen Weg für diese Revolution bereitstellt. Ausweisen muß sie sich als Fortschritt an jenen Essentials des Grundgesetzes, sofern diese auf ihren Wesenskern gebracht werden (zu dem der bundesdeutsche Föderalismus und die gegenwärtige Form der parlamentarischen Parteien nicht gehören dürften).

Um Revolution handelt es sich dabei dann, wenn der legale Prozeß zu einem Zustand führt, der von dem frühen tiefgehend verschieden ist und sich auf alle gesellschaftlichen Lebensgebiete erstreckt. Nicht Gewalt, nicht Abruptheit des Umsturzes, sondern diese tiefreichende und umfassende Verschiedenheit des prä- und des post-revolutionären Zustandes ist das Kennzeichen der Revolution. Diese Revolution und die Arbeit für sie gibt das Grundgesetz frei. Nicht diese Revolution verbietet es, sondern die Revolution nach rückwärts und, was das Gleiche wäre, die den Massen von einer Minderheit mit Gewalt aufgenötigte Revolution. Es verlangt von dem Revolutionär die harte, geduldige Arbeit der Aufklärung der Bevölkerung, der Gewinnung der Mehrheit, der Bewährung im Gebrauch der jetzigen Rechte und Freiheiten, damit ihm die Verbesserung dieser Rechte und Freiheiten, die er in Aussicht stellt, zugetraut wird.

Das Grundgesetz gibt dem radikalen Revolutionär die gleichen Rechte wie dem skeptischen Konservativen, der an die Möglichkeit einer grundlegenden Verbesserung der bürgerlichen Demokratie nicht glaubt. Es gebietet beiden, ohne Gewalt zusammen zu leben und mit legalen Mitteln und rationalen Argumenten für oder gegen den Vorschlag einer sozialistischen Revolution zu kämpfen. Es vertraut die Entscheidung in diesem Kampfe der Volksmehrheit an und schließt zugleich als legale Möglichkeit aus, daß diese Mehrheit sich nach rückwärts, für Entrechtung statt für Rechtsverbesserung entscheiden dürfte

Es mag jemand unter dem Eindruck der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ihrem Umschlagen von Freiheitsbewegungen in Unterdrückungssysteme den sozialistischen Bestrebungen und ihren radikalen Vertretern abhold sein. Er hat das Recht, gegen sie zu argumentieren und mit seinen Argumenten um die Zustimmung der Mehrheit zu werben. Er hat aber den Weg rückwärts, zur Aufhebung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung angetreten, wenn er

  1. auf die Realisierung ihres Versprechens nicht mehr bedacht ist, auch wenn er als Konservativer diese Realisierung nur in beschränkterem Maße, nur durch Reformen innerhalb des kapitalistischen Systems für möglich hält und nicht systemtranszendierend wie die Radikalen;
  2. wenn er die staatsbürgerlichen Rechte der Radikalen einzuschränken trachtet. Damit bringt er die freiheitlich-demokratische Grundordnung entscheidend um ihren Sinn. Sie gibt bewußt dem radikalen sozialistischen Revolutionär die gleichen Rechte; sie gibt ihm Zugang zu allen öffentlichen Ämtern; sie gibt ihm das Recht zum „langen Marsch durch die Institutionen“; sie gibt ihm das Recht, diese Institutionen genauso zu „unterwandern“, wie den konservativen und liberalen Reformern.

Die Pointe des abenteuerlichen Unternehmens der bürgerlichen Demokratie, wie sie sich im Grundgesetz (kritisch zu ihrer eigenen Verfassungswirklichkeit) darstellt, ist, daß sie permanente Reform hin auf die Realisierung ihres Versprechens gebietet und dafür die Reformer und die Revolutionäre zur Diskussion, zum kanalisierten und legalen Austragen ihrer Gegensätze, zugleich aber auch zum Zusammenwirken innerhalb der gegenwärtigen Periode nötigt.

Das ist besonders abenteuerlich in Deutschland, wo zwar die Belehrungen, die wir durch die Geschichte unseres Jahrhunderts empfangen haben, nicht aber unsere Traditionen uns zu einem erfolgreichen Ausgang dieses Experiments ausrüsten. Es soll sicherstellen, daß ein heutiger junger sozialistischer Revolutionär, der jenem Herbert Frahm von 1932 gleicht, vielleicht als Schüler des rätedemokratischen Revolutionärs Ernest Mandel, weder auswandern muß noch als Bürger 2. Klasse vom Staatsdienst ausgeschlossen wird. Wer diesen jungen Bundesbürger oder seinen Lehrer, den wie Herbert Frahm 1933 durch Hitler aus Deutschland vertriebenen Ernest Mandel, vom Staatsdienst ausschließt, verletzt das Grundgesetz; er macht sich der Verfassungsfeindschaft schuldig, die er anderen vorwirft.

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