FORVM, No. 282/283
Juni
1977

Hoch die Arbeitslosen!

Das Recht der industriellen Reservearmee auf Unterhalt und Unterhaltung

I. „Recht auf Arbeit“ gibt’s nicht

Neuerdings wird wieder das Recht auf Arbeit gefordert, sogar gleichmäßige Verteilung der vorhandenen Arbeit.

„Recht auf Arbeit“, sagt Marx, sei „erste unbeholfene Formel, worin sich die revolutionären Ansprüche des Proletariats zusammenfassen“. Wer solche Parolen ausgibt oder aufnimmt, muß wissen, daß sie darauf abzielen, das kapitalistische System zu sprengen. In Kombination mit marktwirtschaftlichen Bekenntnissen sind sie albern. „Das Recht auf Arbeit ist im bürgerlichen Sinn ein Widersinn, ein elender, frommer Wunsch“ (MEW 7/42). Recht auf Arbeit hieße nichts weiter als Recht auf Benutzung der Produktionsmittel, also ihre Vergesellschaftung.

II. „Arbeitszeitverkürzung“ ist Schwindel

Gewerkschaftliche Vorschläge zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit mittels Arbeitszeitverkürzung hängen an der Frage, wie Arbeitszeitverkürzung auf den Arbeitsmarkt wirkt. Vergrößert sie die Zahl der nachgefragten Arbeitskräfte? Die beschäftigungspolitischen Illusionen führender Gewerkschafter in diesem Punkt wurzeln in der Nichtunterscheidung von Produktivität und Intensität der Arbeit. Intensität ist die Verausgabung der Arbeitskraft pro Zeiteinheit, Produktivität ihr Wirkungsgrad bei konstanter Intensität. Steigende Produktionszahlen stammen

  1. aus Rationalisierungsinvestitionen bzw. einfach besserer Organisation des Produktionsprozesses, ohne daß die Arbeiter mehr Kraft zu verausgaben hätten;
  2. auf gegebenem technisch-organisatorischen Niveau aus der intensiveren Verausgabung der Arbeitskraft;
  3. bei gegebenen Stückzahlen machen Produktivitäts- wie Intensitätssteigerungen Arbeitskräfte überflüssig.

Jedenfalls ermöglicht eine Verkürzung des Arbeitstages die Intensivierung der Arbeit. Sie verwirklicht sich unbemerkt nach demselben physiologischen Gesetz, das den 100-Meter-Sprinter schneller rennen läßt als den Marathonläufer. Es sei denn, die Beschäftigten bremsen aus ökonomischem Kalkül.

Arbeitsintensivierernd haben alle gesetzlichen Arbeitszeitverkürzungen gewirkt, alle Kurzarbeitsperioden der letzten Krise. Schlagend zeigte dies die von der konservativen Regierung Heath 1974 in England verordnete 3-Tage-Woche; gegenüber der 5-Tage-Woche wurde der Produktionsausstoß kaum verringert.

Die Arbeitszeitverkürzungen der letzten 20 Jahre vollzogen sich so: durch neue Arbeitsmeßverfahren und entsprechende Lohnformen sowie Einführung neuer Technologie erhöhte sich die Arbeitsintensität; dies wurde — um den Preis der Arbeitskraft zu halten — durch tarifvertragliche Kürzungen der Arbeitszeit kompensiert. Würde morgen der Arbeitstag auf 7 Stunden beschränkt, wäre die Produktion ganz dieselbe, ohne eine einzige zusätzliche Arbeitskraft. Die Beschäftigten würden gleich viel Arbeitskraft verausgaben, ihren Eifer um ein Achtel erhöhen; bei demselben Lohn lieferten sie dieselbe Leistung.

Am Arbeitsmarkt täte sich gar nichts.

Obwohl eine arbeitsmarktpolitisch unwirksame Maßnahme, sollte der gesetzliche 7-Stunden-Tag eingeführt werden, weil er die sozialpsychologischen Spannungen zwischen Arbeitslosen und aktiven Arbeitnehmern verringert. Zudem verdankt solch eine Maßnahme der arbeitsmarktpolitischen Unwirksamkeit ihre Kostenneutralität.

III. „Lohnausgleich“ ist Selbstbetrug

Weil bei Arbeitszeitverkürzung die Arbeitsmenge in der Regel konstant bleibt — lediglich ihre intensive Größe wächst auf Kosten ihrer extensiven —, gibt es keinen ökonomischen Grund für irgendwelchen „Lohnausgleich“. Folglich kommt es einer Selbstübertölpelung der Gewerkschaften gleich, wenn DGB-Chef Heinz Oskar Vetter Arbeitszeitverkürzung „ohne Lohnausgleich“ vorschlägt, also Senkung des Mietpreises der Ware Arbeitskraft. Das würde zwar die Profite steigern, wegen privater und staatlicher Nachfrageschwächung aber eher Produktion und Arbeitsplätze reduzieren.

IV. Wirtschaftswachstum ist Profitwachstum

Der Sinn wirtschaftlichen Wachstums wird neuerdings immer häufiger in Zweifel gezogen. Aber Wachstum ist nichts als Akkumulation des Kapitals. Dies ist die eigentliche Lebensqualität und Existenzbedingung unserer Gesellschaft. Erst wenn in zusätzliches Anlagekapital verwandelter Gewinn keinen Extraprofit abwirft, ist die Krise da.

Weil Wirtschaftswachstum Kapitalakkumulation ist und nicht identisch mit ständig wachsendem Rohstoff- und Energieverbrauch, ist es zwar nicht schrankenlos, aber endlos. Die Schranke des Kapitalwachstums ist das Kapital selbst. Das zeigt sich in der Krise, die Kapital vernichtet. Aber die Entwertung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals schafft dann wieder Raum für neues Wachstum.

Die von der jüngsten Krise ausgelösten Konjunkturprogramme der Regierung blieben ohne Wirkung auf den Arbeitsmarkt. Das entspricht dem von Marx entdeckten Gesetz, wonach Kapitalwachstum nur dann wachsende Nachfrage nach Arbeitskraft erzeugt, wenn die technische Zusammensetzung der Produktion, also die Relation von Maschinen zu Menschen, konstant bleibt. Weil diese Relation unmittelbar nach den Krisen besonders schnell sich zugunsten der Maschinerie verändert, sinkt jetzt der variable, in Arbeitskräfte umgesetzte Kapitalteil relativ zum Gesamtkapital noch rapider als sonst. Dies erzeugt eine wachsende industrielle Reservearmee. Sie ist um so größer, je dramatischer die Hochkonjunktur zusammengebrochen war, und um so konsolidierter, je radikaler die Neuinvestitionen nach der Krise Arbeitsplätze wegrationalisierten.

V. „Industrielle Reservearmee“, Recht auf Sold

In der Theorie von Marx wie in unsrer ökonomischen Realität steigt beständig „die Produktion einer relativen, d.h. mit Bezug auf das mittlere Verwertungsbedürfnis des Kapitals überschüssigen Bevölkerung, als Lebensbedingung der modernen Industrie“ (MEW 23/662). Diese bei mittlerer ökonomischer Geschäftigkeit überflüssige Bevölkerung stellt die gesellschaftliche Arbeitskraftreserve oder industrielle Reservearmee dar. Sie kann sich bei schwerem Konjunktureinbruch leicht verdoppeln und im Boom vorübergehend verschwinden. Sicher ist, daß die Zahl der Unbeschäftigten von Krise zu Krise wächst. Mit diversen fiesen Methoden kann dies verschleiert werden: Zurückscheuchung von Arbeitskräften nach Anatolien; oder an Heim und Herd; verlängerte Schuleinsperrung der Ersatzkräfte; Vorverlegung der Altersaussperrung; Auffüllung von Kasernen, Gefängnissen, Heimen, Irrenhäusern.

Die westdeutsche Gesellschaft wird sich damit abfinden müssen, daß ihre Wirtschaftsordnung, je höher sie sich entwickelt, periodisch immer gewaltigere Arbeitslosenheere freisetzt, um in den industriellen Entscheidungsschlachten ebenso gewaltige Reserven mobilisieren zu können. In den achtziger Jahren dürfte die Kopfzahl dieser Reservearmee periodisch in den 3-Millionen-Bereich vorstoßen.

Die Ernährung der industriellen Reservearmee gehört zu den toten Kosten der kapitalistischen Produktionsweise und ist schon jetzt das Hauptproblem dieser Gesellschaft. Die Lösungsversuche zersplittern sich noch im juristisch-politischen Überbau: Arbeitsförderungsrecht, Rentenrecht, Stipendienrecht, Sozialhilferecht, Invaliditäts- und Krankenversicherungsrecht — kurzum die Gesamtheit dessen, was unter Sozialpolitik fällt.

Jüngste Finanzverschiebungen von der Rentenversicherung auf die Arbeitslosenversicherung verweisen darauf, daß in der mittelfristigen sozialpolitischen Perspektive für alle Erscheinungsformen der industriellen Reservearmee eine einheitliche Soldordnung gefunden werden muß. Umschüler, Student, Rentner, Invalider, Arbeitsloser und Arbeitsunfähiger würden prinzipiell denselben Unterhalt beziehen — der Kosteneinsparung halber direkt vom Arbeits- und Sozialminister wie die Soldaten ihren Sold vom Verteidigungsminister.

Bislang lieferte in der Bundesrepublik der Staat selbst, vor allem sein gefräßiges Beamtenheer, das drückendste Gewicht der toten Kosten. Hiezu kommt nun eine immer kräftiger pulsierende industrielle Reservearmee, die das Kapital für seine immer weiter und tiefer greifenden Feldzüge in allen Regionen und Sphären des Weltmarktes braucht. Daher wird die Kapitalistenklasse dem Bundesadler eine drastische Entfettungskur verordnen; sie ist es, die den bürokratischen Staat aushält — denn sämtliche Steuern sind letztlich Mehrwertsteuern.

Der notwendige Unterhalt der industriellen Reservearmee erzwingt auch die reelle Unterordnung der Landwirtschaft unter die kapitalistische Produktionsweise. Endlich werden die mittelständischen Agrarproduzenten vom Weltmarkt ruiniert werden dürfen. Die Lebensmittelversorgung wird wesentlich auf Billigimporte aus der Dritten Welt umgestellt. Dies ist auch Bedingung von deren Zahlungsfähigkeit und Auslöser deutscher Exportoffensiven, die wiederum die industrielle Reservearmee reaktivieren.

Mit der bisherigen Politik der Mittelstandsverhätschelung wird das natürlich nicht vereinbar sein, sondern nur mit einer so beharrlichen wie radikalen Reformpolitik unter dem Motto: Nur das ist eine Reform, was Geld spart.

So ungern die herrschende Klasse dieses Landes da auch herangeht, sie wird nicht umhinkönnen, die traditionellen Mittel- und Berufsstände, die der deutschen Gesellschaft konservativen bis restaurativen Charakter gaben, zu proletarisieren.

Generell kann man feststellen, daß unsere Gesellschaft all jene Bedürfnisse einigermaßen befriedigt, deren sich profitorientierte Unternehmen im freien Wettbewerb angenommen haben, nicht aber jene, die per Gesetz der kapitalistischen Konkurrenz entzogen oder vom Staat zur eigenen Aufgabe gemacht werden:

  • Der Markt für medizinische Dienstleistungen wird durch Gesetz, das dem ärztlichen Berufsstand Monopol garantiert, zum finanziellen Krebsgeschwür.
  • Das staatliche Bildungswesen von der Vorschule bis zur Universität ist ein Faß ohne Boden. Es mästet Legionen unfähiger Bildungsbeamter und läßt unsre Jugend geistig austrocknen.
  • Rechtsprechung und Verwaltung sind nicht mehr bloß bürgerfern, sondern werden immer häufiger zum Objekt direkter Feindseligkeit der Bevölkerung.

Mediziner, Juristen, Lehrer — die Kadertruppen des deutschen Akademikertums — sind ein Bollwerk der vorkapitalistischen Reaktion. Sie sind weder willig noch fähig, die Gesundheits-, Rechts- und Bildungsbedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten zu befriedigen. Sie predigen Unterwerfung unter die Disziplin des Industriesystems und Konkurrenz des freien Arbeitskräftemarktes; zugleich lassen sie sich selbst durch Gesetz das milliardenverschlingende Privilegium einräumen, dem kapitalistischen Leistungs- und Konkurrenzprinzip entzogen zu sein.

Öffentlicher Dienst und Staatsapparat sind heute tatsächlich von Systemfeinden unterwandert. Ihr berufsständisch reaktionärer, praktizierter Antikapitalismus droht die Marktwirtschaft zu einem Zeitpunkt zu erdrücken, da sie noch bei weitem nicht alle ihre Möglichkeiten entfaltet hat. Das tote Gewicht des antikapitalistischen Beamtenapparates macht den demokratischen Staat immer handlungsunfähiger, drängt uns immer näher an den Staatsbankrott.

Die Arbeitslosigkeit will der Beamtenapparat als Gelegenheit zur eigenen Ausdehnung benutzen. Wenn Dieter Mertens von der Bundesanstalt für Arbeit sagt, man solle das 10. Schuljahr einführen, ein Schüler sei billiger als ein Arbeitsloser (Spiegel 4/1977) — so sieht man gleich, wohin der Hase läuft. Als schwach eingeschätzte jugendliche Fraktion der industriellen Reservearmee sollen sie ihren Arbeitslosenstatus verlieren und auf den Schülerstatus zurückgedrängt werden, damit für den lieben Lehrerstand neue Planstellen herausspringen. Für einige tausend zusätzliche Bildungsbeamte ist man bereit, Hunderttausende Jungendliche sozial zu degradieren.

VI. „Industrielle Reservearmee“ — Recht auf Bildung

Den Unterhalt der industriellen Reservearmee als gesichert vorausgesetzt, bleibt deren gute und anspruchsvolle Unterhaltung das zu lösende Problem. An sich ist Arbeitslosigkeit der — wie Marx sagte — „für freie, geistige und gesellschaftliche Betätigung der Individuen eroberte Zeitteil“ (MEW 23/552) einer Gesellschaft, der um so größer ist, je entwickelter ihr industrielles System. Die Herrschaft des Kapitals gibt dieser Errungenschaft Aussperrungscharakter. Das ändert nichts daran, daß die Arbeitslosigkeit zu geistiger und gesellschaftlicher Betätigung genutzt werden kann.

Die anspruchsvollste (und kurzweiligste) Form geistiger Betätigung ist wissenschaftlich-systematische Allgemeinbildung. Damit sie für das arbeitslose Millionenheer erschwinglich wird, muß wissenschaftliche Bildung der Monopolisierung durch Studienräte und Professoren entwunden und der kapitalistischen Produktionsweise reell subsumiert werden, d.h. der freien Konkurrenz und permanenten technologischen Revolution — vergleichbar den elektronischen Taschenrechnern, deren Preis von vielen hundert auf zehn Mark gesunken ist. Dann ist Humboldt für alle billiger als Arbeit für alle, weil ohne Systemrevolution realisierbar.

Was die industrielle Reservearmee am dringendsten braucht, ist Selbstbewußtsein: gelassene Einsicht in ihre ökonomische Funktion, entschiedenes Geltendmachen der realisierbaren, systemimmanenten Ansprüche: panem et circenses. Denn nach Clausewitz werden Schlachten von Quantität und Qualität der Reserven entschieden, die auf dem Höhepunkt des Geschehens in die Waagschale werfbar sind. So auch im ökonomischen Krieg, der auf dem Weltmarkt ausgetragen wird.

VII. „Arbeitslos als Lebensform“

Die Arbeitslosen werden von dieser Gesellschaft als Arbeitslose gebraucht. Es ist Zeit, daß sie sich dessen bewußt werden. Sie müssen ihre finanziellen, macht- und medienpolitischen Minimalforderungen durchsetzen. In allen drei Bereichen werden sie schwer diskriminiert:

Finanziell ist es ein unerhörter Skandal, daß das Pro-Kopf-Einkommen der Mehrheit der Arbeitslosen unterhalb der nominellen Durchschnittsrente von knapp 1.000 DM liegt.

Machtpolitisch (parlamentarisch) sind die Arbeitslosen überhaupt nicht repräsentiert, die SPD ist eine Partei der Gewerkschaften und des öffentlichen Dienstes, also ausschließlich der Arbeitsbesitzer.

Von den Medien erfährt die Arbeitskraftreserve, der eigentliche Reichtum unsrer Gesellschaft, weil Garant wirtschaftlicher Expansionsfähigkeit, eine besonders herabsetzende Behandlung. Arbeitslosigkeit gilt ganz fälschlich als soziales Krankheitssymptom, das es zu beseitigen gilt. Für die betroffenen, durchaus vollwertigen Glieder der Gesellschaft fällt nichts ab als demonstratives Mitleid und latente Diffamierung.

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