Streifzüge, Heft 55
Juni
2012

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Hörfacetten

Beethovens Waldsteinsonate ist hervorragende Musik, sie nimmt mich ab dem ersten Ton auf eine lustvolle Reise, die im rasanten, aber leisen, ja schleichenden Laufen beginnt, das abrupt durch eine mit Inbrunst in die Klaviatur gedonnerte Akkordfolge unterbrochen und von einem irren leisen Rasen fortgesetzt wird. Das weckt schon alleine beim Darüber-Schreiben feine emotionale Zustände in mir. Ich krieg eine Gänsehaut, wenn sich die Melodie in die impulsiven Ausdrücke im ersten Satz aufschwingt, um im zweiten Satz zu einer fast unheimlichen Ruhe zu finden, die zum Schluss durch eine in einem flotten Rondo aufgebaute stürmische Attacke weggefegt wird.

Nach dem Stück bin ich meist erschöpft, aber gut erschöpft, weil – ich wurde mitgerissen. Die Musik hat mich nicht abgestoßen sondern reingezogen, ich war in aufmerksame Mitschwingung versetzt. Der feine Zustand der Befriedigung verwöhnt im Anschluss meinen Körper und Geist.

Aber nur, wenn der Pianist diese mitreißende Impulsivität übermitteln kann. Wilhelm Klempff haut mich um. Trotz der alten Aufnahme reißt einen sein Wechsel von lauten Akkorden (man möchte meinen, die Klaviatur bricht ab) in ein so rasantes und leise gespieltes Legato vom Hocker. Anders Emil Gilels: der spielt ganz ausgezeichnet mit dem Timbre, er entlockt dem Klavier in den schnellen leisen Passagen eine Klangfarbe, die ihresgleichen sucht. Die Impulsivität kommt nicht so rüber. Und dennoch, er regt zum Hinhören an, er reißt mich in anderer, aber gleich starker Intensivität mit. Er zieht dem Stück ein anderes Gewand an, und es ist auch so ein Hinhörer. Ich bin am Ende anders gestimmt als bei Klempff: nicht so erschöpft, eher interessiert angeregt, der feine Nuancen identifizierende Geist wurde stark beansprucht. Auch das ist schön!

Und noch mal anders interpretieren Rubinstein, Brendel, Pollini, Richter. Jeder dieser Pianisten erkennt in den Noten etwas anderes, hebt es heraus, stellt das Musikstück in einer bestimmten Schattierung dar und lässt die Zuhörer in einer anderen lustvollen Stimmung zurück. Das ist eindeutig eine Vermehrung der Lust an einem Stück. Wie schön!

Wie schön, wenn ich hier aufhören könnte zu schreiben, aber da wären wir ja schon im lustvollen Kommunismus! Sind wir aber nicht, und der Kapitalismus, der tritt hier ganz unsensibel, destruktiv und nervend dazwischen: Er drängt dem Genießer eine Frage auf, die mit dem Genuss von Musik nichts zu tun hat. Und doch beherrscht sie unseren Umgang mit ihr: „Wer interpretiert die Waldsteinsonate am besten?“

Viele stellen diese Frage – vor allem die Tonträger-Produzenten, vielleicht weil sie zu wenig Zeit haben, das Stück in verschiedenen Facetten zu genießen, vielleicht weil ihr Hörempfinden zu wenig ausgebildet ist, um Facetten zu hören. Es mag auch andere Gründe geben.

Ein an der Vermehrung von Lust orientierter Mensch muss diese Frage zurückweisen. Entschieden zurückweisen. Hier eine Reihung vorzunehmen, um dann anderen Menschen großartige Interpretationen vorzuenthalten, weil diese vielleicht nur das angeblich Beste ihren Ohren zumuten wollen, bringt sie auf jeden Fall um die Chance, ein Stück Musik auf verschiedene Weise zu genießen. Und darum geht es.

Martin Scheuringer

Wien aus der Wundertüte

Selbst im blickdichten Wien passieren manchmal wahre Wunder an Schau-Spielen. In Wien, wo jeder Streifenpolizist ein Lied zu singen weiß über die „Grundangst des Wieners, Lebenslust zu sehen“. Da muss im Gemeindebau immer wieder mal Streit geschlichtet werden zwischen alteingesessenen Griesgrämigen und feiernden „Ausländern“. Aber was das Alltagsgesicht in der Öffentlichkeit betrifft, haben sich die meisten „Ausländer“ schön brav an die Gegebenheiten der „kühlen“, nördlicheren Breiten angepasst. Auch wenn sie das Lockere und Ungezwungene hier vermissen.

Aber an raren Tagen, bei hochsommerlicher Hitze, heißer als am Mittelmeer, beginnt hier nicht nur der Asphalt zu schmelzen. Dann verwandelt sich das weite emotionale Brachland blitzartig wie die afrikanische Steinwüste Namaqualand nach dem Frühlingsregen in ein riesiges farbenprächtiges Blütenmeer. Erstaunlich, welchen Höchststand der Aufmerksamkeitspegel erreichen kann und zur wievielten Potenz der Wahrnehmungsquotient erhoben werden kann. Da fällt einem erst die an den restlichen 359 Tagen im Jahr herrschende Leblosigkeit auf. Wie meinte eine alte Wienerin, die schon lange in südlicheren Gefilden lebt: „Hier sind alle lebendiger. In Österreich geht es so dahin, und man merkt gar nichts davon.“

Was sonst nichts und niemand schafft, allein die Sonne erweckt Versteinerte zum Leben und rüttelt ihren Schalk im Nacken wach. Immer wieder tauchen Einzelne wie Leuchtbojen aus dem Meer der Nichtssagenden auf, rollen ihr Strahlen wie einen roten Teppich vor mir aus, und ihre Blicke fallen mir um den Hals. Ich mache noch größere Augen als sonst und tanze auf dem Seil, das zwischen uns mit gleicher Wellenlänge von beiden Enden her vibriert.

Welch eine Atmosphäre! Fast fühle ich mich wie in der historischen dalmatinischen Hafenstadt Zadar, über die Stephan Vajda (geb. 1926) schreibt: „Versäumen Sie den Corso nicht. Er hebt beim Sonnenuntergang an und überflutet flugs die innere Stadt. Ein scheinbar sinnloses Auf- und Abgehen, zwischen unsichtbaren Grenzen und magischen Punkten, eine tagtägliche Demonstration der Freude am Dasein, das hier in der Geschlossenheit der Gemeinschaft weder Vereinsamung noch Kommunikationsschwierigkeiten zu kennen scheint; eine schier kultische Prozession der offenen Blicke, der Neugier und der Freundschaft, ein mitreißendes Manifest der nördlich der Alpen bereits fragwürdig gewordenen Lebensform Stadt, die nicht trennt, sondern zusammenführt, die ihre Berechtigung beglückend unter Beweis stellt.“

Maria Wölflingseder
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