FORVM, No. 469-472
April
1993

Humanimperialismus

Afrika

Das vorläufige Resultat von einigen Jahrzehnten Entwicklungspolitik in Afrika war so beschaffen: Neger sind verhungert, die dortigen Staaten waren ein Teil des Weltschuldenproblems. In Somalia, und nicht nur dort, ist kürzlich aber sogar der Staat verhungert.

Damit fehlt über kurz oder lang in etlichen Regionen der bisherigen „Dritten Welt“ die elementare Voraussetzung der bisher üblichen außenpolitischen Benutzung dieser Gegenden: Ein Gewaltmonopol, das sich über einem Territorium behauptet, sodaß zwischenstaatliche Abmachungen — über Import und Export ebenso wie über Schuldenmoratorien und Militärstützpunkte — bzw. die darin paktierten Interessen gewährleistet sind. Deshalb hatten die abziehenden Kolonialmächte schließlich die Bewohner der Kolonien nicht sich selbst überlassen, sondern überall souveräne Regierungen aus eingeborenen Eliten zurückgelassen. Wegen des Projekts, sich zu fertigen Staaten nach dem Vorbild der „Zentren“ zu „entwickeln“, und dem Fehlen so gut wie aller dafür notwendigen Mittel und Voraussetzungen waren diese jedem zahlungsfähigen Interesse und den diversen Erschließungs- („Entwicklungs“-) -maßnahmen gegenüber in jeder Hinsicht aufgeschlossen. Derzeit wird deutlich, wie sehr diese hoffnungsvollen Staatsgründungen letztlich nie auf einheimischen, sondern stets auf auswärtigen Interessen, denen der „entwickelten“ Weltgegenden, beruhten.

Im Gegensatz zu zählebigen Legenden ist das Staatenbilden nämlich kein menschliches Grundbedürfnis. Die Existenz moderner, „bürgerlicher“ Staaten ist ein Ergebnis und Erfordernis von Klassengesellschaften. Wo es kein produktives Zusammenwirken der Klassen im Dienst des Privateigentums zu organisieren gibt, wo keine kapitalistische oder dieser nachempfundene realsozialistische Gesellschaft verwaltet werden will und alle „gesellschaftlich bestimmten Privatinteressen“ von ihrer staatlichen Gewährung und Reglementierung dauerhaft abhängig sind, dort ist gar kein gesellschaftliches Bedürfnis nach Souveränität, Rechtsstaat und Parlament auszumachen. Und die Mittel, die es dafür braucht, in der banalen Form eines ökonomischen Überschusses oder Mehrprodukts, das den Staatsapparat trägt, fallen erst recht nicht ab. Wenn die Existenz des Staates nicht von außen subventioniert wird, droht die Auflösung. Was früher von Linken und sonstigen Idealisten als Verrat am nationalen Aufbau interpretiert wurde — eine „korrupte“ afrikanische „Bourgeoisie“ macht sich zum Agenten der imperialistischen Interessen vor Ort und auf Kosten der restlichen Bevölkerung bzw. ihres eigenen „eigentlichen“ Entwicklungsauftrages — das war, nüchtern betrachtet, je schon der Grund und Zweck afrikanischer Staatsimitationen und -projekte. Das „Zentrum der Peripherie“ kooperiert mit dem „Zentrum des Zentrums“ zum Schaden der „Peripherie des Zentrums“, in solchen Abstraktionen hat früher Galtung diesen Sachverhalt zum Verschwinden gebracht. Die Vorwürfe bezüglich „Korruption“ oder Vetternwirtschaft bzw. Stammesprivilegien an die afrikanischen Eliten gehen deswegen ein wenig an der Sache vorbei, für die eine solche geradesteht.

Nachdem der afrikanischen Souveränität keine Gesellschaft untersteht, die sich klassenmäßig geschieden der Vermehrung des Geldes widmet und dafür auf Rechtssetzung und sonstige Rahmenbedingungen angewiesen ist, ist die Teilhabe an der Staatsmacht selbst die einzig einigermaßen verläßliche Einkommensquelle und wird auch als solche genutzt. Der Reichtum der Gesellschaft besteht aus den Geldern, die als Exporterlöse, Kredite oder Geschenke ins Land kommen; das und nicht die Lohnarbeit ist die materielle Grundlage afrikanischer Politik. Deren Aufgabe ist erfüllt, wenn sie alle devisenbringenden Aktivitäten forçiert und die menschlichen Opfer dieser exportorientierten Ökonomie so entsorgt, daß sie nicht stören, d.h. das Hungern beaufsichtigt.

Für die nicht zum Arbeiten benutzten Teile der Bevölkerung entfällt damit all die „Fürsorge“, die es nun einmal braucht, damit ein Lohnarbeiter funktioniert: Ernährung, Ausbildung, Seuchenbekämpfung. Das alles lohnt sich nicht, und weil es sich nicht lohnt, kann und darf (IWF!) es sich der dortige Staat auch gar nicht leisten. Die davon betroffenen Menschen sind darauf verwiesen, zwischen den Resten der längst aufgelösten Subsistenzwirtschaften und der Exportökonomie, für die sie überflüssig sind, zu überleben. Die Vorstellung, nationale Unabhängigkeit sei das entscheidende Mittel zur Herstellung einer Trennung von beaufsichtigendem Staat und geldheckender Gesellschaft im Interesse des funktionalen Zusammenwirkens beider, wie das in den Mutterländern des Kapitalismus üblich ist, war ein ziemlich haltloser Idealismus — und das schlägt derzeit noch das argloseste Auge.

Heute stellt sich obendrein heraus, wie sehr die „politische Stabilität“ halber Kontinente in der Elementarform einer ein Territorium kontrollierenden Gewalt ein Nebenprodukt des Ost-West-Gegensatzes war.

Als die Blöcke noch um Bündnispartner und Stützpunkte konkurrierten, wurden — Somalia ist dafür exemplarisch — verbündete Regimes schon deswegen hinreichend mit Geld und Waffen versorgt, um den weltpolitischen Gegner draußen und etwaige mit ihm liierte Rivalen um die Herrschaft im Land nieder zu halten. Seit dieses geopolitische Interesse deutlich reduziert ist, zerfällt eine ganze Reihe von Staaten in Clans, Stämme, Armeeteile und diverse „Banden“. Diese streiten um die Kontrolle von Einkünften, Waffen und Gegenden, um mit dem Verweis auf ihre Zuständigkeit über einen Landstrich bei den Großmächten betteln zu gehen. Auch dabei gehen etliche von den noch vorhandenen, aus ökonomischem Desinteresse geduldeten Formen des Überlebens und Dahinvegetierens kaputt.

Dazu kommen noch jene Länder, in denen der Westen früher „Anarchie“ und „Chaos“ in Gestalt diverser Rebellengruppen förderte, um eine Stabilisierung von Staaten mit falschen Freunden zu verhindern: Afghanistan, Angola, Mosambik, Kambodscha, Äthiopien. Mit der Sowjetunion hat sich auch die konstruktive Seite des dortigen Durcheinanders erledigt, was bleibt, ist der Zerfall.

Sogar die Redeweise von den vielen „Bürgerkriegen“ ist ein wenig euphemistisch. In einem soliden Bürger- oder Sezessionskrieg wie beispielsweise auf dem Balkan geht es noch um die Staatsmacht oder darum, eine zu errichten. Bei den Rivalitäten in Somalia und ähnlich gelagerten Fällen der untergehenden „Dritten Welt“ kommt der Anschein gar nicht mehr auf, es ginge um einen affırmativen Bezug zu einer vom jeweiligen bewaffneten Haufen getrennten, „zivilen“ Gesellschaft, um deren Reglementierung und zweckmäßige Organisierung wegen der Erarbeitung eines „Reichtums der Nation“ — das alles hat sich erledigt.

Mit Staaten im üblichen Sinn entfällt zwar die Grundlage normaler politischer Beziehungen, der Schaden für die bisherigen Nutznießer im „Norden“ der Erde hält sich dennoch in Grenzen. Die einzige tatsächlich betriebene „Entwicklung“, die zu Anhängseln des Weltmarktes, ist abgeschlossen. Die ökonomisch interessanten Erzeugnisse dieser Weltteile, die berühmten Rohstoffe mit ihren Zyklen und dem ständigen Preisverfall, stehen auch ohne aufwendig durch „Entwicklungshilfe“ gesponserten Staatsapparat zur Verfügung. Zur Aufsicht über Plantagen, Bergwerke, Manufakturen und Transporteinrichtungen genügen im Prinzip Söldner- oder andere Banden, die von den Besitzern alimentiert werden; so wie etwa die „Libanesische Befreiungsarmee“ im Dienst Israels auf den Südlibanon aufpaßt. Die Brauchbarkeit einer Gegend ist damit gewährleistet, es entfällt bloß der Schein, mit der staatlichen Autorität gäbe es so etwas wie ein Subjekt, das mit Land und Leuten eine „Entwicklung“ hin zu einem positiv benutzten gesellschaftlichen Ensemble nach bekanntem Vorbild im Sinn hätte. Was die Landstriche zu bieten haben, ist seit dem Kolonialismus bekannt, zu entdecken gibt es nichts mehr, und in den vergangenen Jahrzehnten Entwicklungspolitik hat sich herausgestellt, was davon geldmäßig auf dem Weltmarkt zu verwerten geht: einige Rohstoffe; die Menschen zum größten Teil nicht, daher sind sie zuviele und verrotten als „Bevölkerungsproblem“. Bloß die Kreditgeber sind gefordert und entwickeln Umschuldungs- und Abschreibungsbedarf, wenn ihnen einige Schuldner nicht bloß zahlungsunfähig werden, sondern richtiggehend völkerrechtlich abhanden kommen.

Die Dringlichkeit des Problems herrenloser Landstriche ist für die Großmächte also nicht übermäßig, auch wenn ihnen solche Zustände auf Dauer nicht recht sein können. Wichtiger als das Elend vor Ort ist ihnen allemal ein dem je eigenen entsprechendes Kontroll- und Aufsichtsbedürfnis, welches andere Führungsmächte an diesen Gegenden geltend machen könnten.

In dieser Situation haben wieder einmal die USA die Initiative übernommen. An dieser ist weniger das Negerfüttern in Somalia, sondern mehr das Verhältnis zu den anderen imperialistischen Mächten bedeutsam. Es erging die Aufforderung und das Angebot zur Kooperation.

Der Vorschlag, in Zusammenarbeit mit den Großmächten und in Form einer UN-Aktion die Verhältnisse in Somalia ein wenig ordentlicher und berechenbarer zu gestalten, ist eine Absage an etwaige Versuche, auf die absehbare oder eingetretene Herrschaftslosigkeit in Teilen Afrikas mit klassisch-kolonialen Rezepten zu antworten. Im Unterschied zu US-amerikanischen Interventionen im eigenen „Hinterhof‘, wo die USA seit je keinen Wert auf die extra Zustimmung oder die Beteiligung ihrer Bündnispartner bei diversen militärischen Aktionen legen, läuft die „Operation Hoffnung“ ab, indem die paar maßgeblichen Mächte und über die UNO sogar alle unmaßgeblichen eingebunden werden, und einige auch mit Truppen an Ort und Stelle dabei sein sollen. Antikolonialistisch ist das natürlich nicht in Bezug auf die Eingeborenen und deren Ambitionen — denen soll gerade klargemacht werden, daß sie sich höchstens in den überlegenen Ordnungswillen einzufügen und ansonsten nichts zu bestellen haben —, sondern in Bezug auf die Interessen anderer Großmächte. Es soll keine direkte Annexion stattfinden, kein exklusiver Zugriff einer Aufsichtsmacht, der gleichbedeutend ist mit dem Ausschluß aller anderen, sondern ein kooperativ durchgeführtes Ordnungsunternehmen, von einem Kartell der Imperialisten organisiert. Durch das Verfahren eines UN-Mandats wird methodisch ein Konsens hergestellt, wird den Mächten, die von ihren Mitteln her überhaupt in der Lage sind, in einer Region wie Somalia ein Ordnungsproblem zu bereinigen, Mitsprache und Rücksichtnahme geboten bzw. abverlangt.

Die sich aufdrängenden Erinnerungen an UN-Mandatsgebiete sind insofern schon berechtigt. Die feine Völkerfamilie arrangiert sich getrennt von ihrer Existenz als Nationalstaat in einem Kollektivsubjekt, kümmert sich um herrenlos herumliegende Gegenden, und sistiert durch diese „Neutralisierung“ ihre normale, gewohnte Konkurrenz um Einflußsphären und Exklusivrechte. UN-Ersatzregierungen richten sich gegen niemanden und provozieren damit auch keine Ansprüche, die sofort auf dem Tisch wären, sobald eine Nation im Alleingang eine Gegend zu befrieden, also zu beherrschen versucht. Es bestätigt sich auch der Eindruck vom letzten Golfkrieg, nachdem „die UNO“ genau das macht, was die Großmächte in ihrer Eigenschaft als Nationalstaaten sich selber in ihrer Eigenschaft als Mitglieder im UN-Sicherheitsrat vorschlagen.

Ein solcher Zustand braucht einmal ein Subjekt, das die Verantwortung übernimmt, das Problem auf die Tagesordnung der „Staatengemeinschaft“ setzt, die übrigen Nationen dafür mobilisiert und den größten Teil der Truppen stellt. Insofern kommt die Rolle der USA als bekanntlich einzig verbliebener Supermacht schon nicht zu kurz. Die Frage nach dem nationalen Ertrag der USA, die zumindest dortselbst schon gewälzt wird, beantwortet sich nicht mit dem Hinweis auf großartige Positionsgewinne in Mogadischu, sondern mit der neuen Weltordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.

Bekanntlich konkurrieren die Imperialisten um die Aufteilung der Welt, wie man das früher genannt hätte, und in dieser Konkurrenz ist nach dem weitgehenden Abdanken der östlichen Weltmacht eine neue Runde fällig. Erstens werden Weltgegenden, die bisher dem sowjetischen Unrecht ausgeliefert waren, frei. Die Anträge der früheren Staaten des Warschauer Paktes bzw. ihrer Zerfallsprodukte auf Kolonisierung durch „Europa“ macht ihre Verwandlung in einen Hinterhof der EG so relativ bequem. Zweitens ist das bisherige Bündnis „der Westen“ seines Grundes verlustig gegangen, nämlich der gemeinsamen Feindschaft gegen „den Osten“, weil es den nicht mehr gibt.

USA und Partner sind nämlich gar keine „Wertegemeinschaft“, sondern ökonomische Konkurrenten mit ziemlich weltweiten Interessen und Ansprüchen, die ihre Konkurrenz unter den Vorbehalt der Erledigung des Ostblocks gestellt und deswegen gebremst haben. Die bisherigen Verfahren imperialistischer Zusammenarbeit sind ihres bisherigen Antriebes beraubt. Die Konkurrenz beginnt nun nicht quasi von Null, sondern besteht aktuell im Versuch, die überkommenen Einrichtungen und Bündnisse der Ost-West-Konfrontation mit neuem Leben zu erfüllen, nämlich die Partner/Konkurrenten von der je eigenen Problemsicht zu „überzeugen“ und im Einverständnis mit ihnen die eigenen Ansprüche zu definieren und durchzusetzen. Dabei ist den Maßgeblichen die Einigkeit untereinander in den relevanten Fragen im Moment wichtiger als ein gewohnt schneidiges Durchgreifen, sodaß in Ex-Jugoslawien ein „eigentlich“ fälliges Intervenieren immer wieder verschoben wird.

Als ökonomische Konkurrenten machen „Europa“ und Japan den USA zunehmend Weltmarktanteile streitig, aber auf dem Feld der strategischen Kontrolle von südlichen Erdteilen und Seewegen sind die USA eindeutig die einzigen, die aus dem Stand heraus angemessene militärische Macht entfalten können — ein Zustand aufgrund des Anspruchs, gleichzeitig zweieinhalb mittlere Kriege gegen die Sowjetunion irgendwo auf dem Globus führen zu können, während die europäischen Partner für den Kampf um Europa aufgerüstet hatten. Insofern und vor allem bei der begleitenden Kontrolle der Atommacht Rußland auf dem weiteren Abstieg sind die Europäer nach wie vor von den USA abhängig. Deren Vorschlag, gemeinsam im selbsterteilten UN-Auftrag den Weltpolizisten zu spielen, ist das Angebot an die aufstrebenden Großmächte, imperialistische Ambitionen einzubringen, vorzulegen und vorweg den Konsens und die Zustimmung der anderen wofür auch immer zu suchen.

Weltweite Hegemonie durch ein Oligopol von Ordnungsmächten mit UN-Mandat — Ein Sitz im Sicherheitsrat wird für Deutschland und Japan immer wichtiger! — ist ein Versuch, die Konkurrenz der Imperialisten zu ordnen, und nicht, sie zu unterbinden. Ein derart ungewöhnliches Benehmen von Imperialisten geht auf Basis dieses eigentümlichen ökonomisch-militärischen Kräfteverhältnisses nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes, wo „Europa“ zur geostrategischen Konkurrenz um Einflußsphären und Ordnungsansprüche mit außerökonomischen Mitteln noch nicht so recht in der Lage ist, und das geht vor allem in Somalia, weil die Gegend gar so wenig von Interesse zu bieten hat, sodaß von einem Versuch, Positionen exklusiv und gegen die anderen Großmächte zu beschlagnahmen, schon deswegen kaum die Rede sein kann. Bedeutend an Somalia ist eben nur die strategische Lage am Horn von Afrika, und die ist sehr relativ zu einem Zeitpunkt, zu dem neue globale Interessensphären und Frontlinien erst im Entstehen sind. Die derzeitige gemeinsame Aufsicht über den Landstrich ist also ein Versuch, Konkurrenten einzubinden und dadurch unter Kontrolle zu halten, wobei man den Konkurrenten getrost die umgekehrte Stoßrichtung unterstellen darf. Darum ist die „Operation Hoffnung“ auch nicht als gescheitert zu betrachten, wenn nach dem Abzug des Großteils der Truppen unter irgendeiner UN-Administration gehungert wird wie vorher. Und auch nicht angesichts vergleichbarer Staaten in der Gegend, die sich ebenfalls auflösen und wo das Elend keine Truppen anlockt.

Ausschlaggebend für die (damalige) Ablehnung Österreichs, sich an den UN-Truppen zu beteiligen, dürfte gewesen sein, daß damals eben nur der UN-Generalsekretär darum ersucht hat. In Ostafrika Verantwortung für geordnete Verhältnisse zu übernehmen, das übersteigt die Fähigkeiten und daher auch die Ambitionen des österreichischen Militärs, was kritischen Kolumnisten, die glaubhaft unter der geringen weltpolitischen Rolle Österreichs leiden, wieder einmal schwer zu denken gegeben hat. Als Mitmacher bei einem von der Führungsmacht betriebenen Ordnungsunternehmen beteiligt zu sein, das wäre schon reizvoller gewesen, aber zum Zeitpunkt der österreichischen Verweigerung hat doch niemand wissen können, daß die USA daraus einen weltpolitischen Fall der gemeinschaftlich-imperialistischen Obhut über staatenloses Land zu machen gedenken! Inzwischen ist die politische Meinungsbildung auch soweit vorangekommen, daß bei ähnlichen Anlässen, so sie auftreten, sich das Bundesheer seinen humanitären Verpflichtungen nicht entziehen wird.

Wie immer, wenn Großmächte Truppen ins Ausland schicken, geht es um die Humanität. Weil die Konkurrenz der Imperialisten derzeit die Situation nach dem Abdanken der Sowjetunion auslotet, kommen US-Marines,

um zehntausende somalischer Kinder 1993 vom Hungertod zu erretten, dem sie aller Wahrscheinlichkeit nach 1994 dann doch erliegen werden.

(Der US-Botschafter in Kenia)

Für die freie, demokratische Öffentlichkeit stellt sich die Lage so dar: Das entscheidende Interesse der entwickelten Nationen an diesen Gegenden besteht darin, Hungerhilfe zu verteilen, und weil die örtlichen Umstände dafür nicht gerade günstig sind, ist es angezeigt, militärisch nach dem Rechten zu sehen.

Offenbar lauter Fälle von Verblödung in Freiheit. Sogar Leute, die von Berufs wegen gewissermaßen zur Naivität verpflichtet sind, müßten sich eigentlich fragen, wieso angesichts eines Normalzustandes von einigen Millionen pro Jahr verhungernder Bewohner der „Dritten Welt“ ausgerechnet Ende 1992 in Somalia das Elend unerträglich wird und eine Militäroperation in Gang setzt, die obendrein an den Umständen, die den Hunger hervorbringen, gar nichts ändern soll. Wenn die betuliche „Presse“ (am 2.1.) es einen „Skandal“ nennt, daß unter dem Regime von (endlich ungeteilter) freier Welt und Marktwirtschaft „35.000 Kinder pro Tag“ krepieren, weil primitivste Sanitärmaßnahmen nicht finanziert werden, dann muß man doch nicht dermaßen blauäugig die humanitären Parolen des Weißen Hauses wiederkäuen. Die übliche Eselsbrücke von den Elendsbildern im Fernsehen, die eine armen Ausländern gegenüber ohnehin hypersensible Öffentlichkeit aufgeschreckt hätten, sodaß der US-Präsident einfach nicht mehr anders konnte, schmeichelt zwar dem üblichen Größenwahn der Zunft, blamiert sich aber schon daran, daß sich ohne ein anders gelagertes politisches Interesse kein Fernsehteam in ein Elendsgebiet verirrt. Opfer von Hunger und Gewalt abzufilmen ist heutzutage so ziemlich überall möglich, und in Afrika schon gleich.

Was ins Auge fällt, ist natürlich das Fehlen eines deklarierten Feindes, der niedergekämpft werden soll — das Problem besteht eben in der Abwesenheit einer Staatsmacht und den damit fehlenden Leistungen in Sachen Stabilität. Daraus den Schluß zu ziehen, es könne dann wohl der Marineeinfanterie — endlich! — auch nur mehr um das Gute gehen, ist ein wenig kindlich.

Vergleichsweise lebensnah sind da schon die Fortsetzungen des Humanitätsdenkens. Die nationale Souveränität der Negerstaaten darf sich „unserer“ Menschlichkeit natürlich nicht in den Weg stellen, wird man informiert. Handelt es sich dabei womöglich um ein überholtes Prinzip? Ist angesichts der Ergebnisse der Freilassung der Eingeborenen nicht ein neuer, genauso gutgemeinter Kolonialismus fällig? Bloß: Warum hat denn bisher das Elend nicht gegen die Negersouveränität gesprochen? Sondern dafür, der mit allerlei „Hilfen“ unter die Arme zu greifen? Ausgerechnet angesichts einer Militärintervention wird die Verantwortung der Regierenden für das Elend unter ihrer Herrschaft auf einmal und ganz ungewohnt zum Argument gegen die einheimischen Herrscher.

Ziemlich nahe an der Realität sind solche Probleme insofern, als sie eine Klarstellung über die Relevanz nationaler Unabhängigkeit bieten: Entweder ist sie funktional (für die Begutachter in den Zentren), ansonsten überflüssig. Einmischung ist Pflicht und darf nicht an übertriebenem Zartgefühl gegenüber „inneren Angelegenheiten“ scheitern, was in Somalia ohnehin gegenstandslos ist, weil dort der Staat gerade abhanden gekommen ist. Wahrscheinlich muß es deswegen so betont werden.

Verlogen sind solche Absagen an die Fähigkeit der Neger zum Regieren, weil sie unterstellen, die dortige Lage sei ein Resultat der souveränen Negerpolitik. Dabei weiß jeder oder könnte es zumindest wissen, daß Afrika schon die längste Zeit ein Protektorat „internationaler Organisationen“ wie des IWF und der Weltbank ist, daß die Souveränität als rein formelle existierte und Wirtschaftspolitik nur als Diktat der Gläubiger stattfand. Insofern ist es schon sehr gekonnt, in den Handlangern vor Ort die Ursache allen Elends dingfest zu machen, die Hintermänner von Politik und Ökonomie in Afrika von den Folgen der Entwicklungspolitik zu exkulpieren, und sie für ihr humanitäres Engagement zu preisen. Zartbesaitete Gemüter, die die Sprachregelungen von gestern ein wenig weiterpflegen wollen, stellen noch eine beinharte Bedingung, um der „neuen Weltordnung“ ungefragt ihren Sanctus aufzudrängen:

Jedes Eingreifen habe in Kontakt mit demokratischen Afrikanern — wie etwa im Rahmen der UNO — zu erfolgen. Bloße Intervention von außen ist nicht ‚neue Weltordnung‘, sondern alter Imperialismus.

(P. Pelinka im »Falter«)

Der im Rahmen der UNO demokratische Afrikaner, wie hieß der noch gleich? Der wird sich doch kontaktieren lassen, damit aus einer alten Intervention von außen ein neuer Imperialismus wird. Oder so ähnlich.

Da wird ein haltloser Gegensatz zwischen zwei Varianten imperialistischer Politik aufgemacht: Einem militärhumanen Eingreifen „von außen“ gilt ein ganz leises Bedenken, aber das Ernähren der Negerstaaten durch Kredite und Entwicklungshilfe, die damit eine Ökonomie mit millionenfachem Hungertod unter strengem Respekt vor nationaler Unabhängigkeit abwickeln dürfen, das war und ist ein vielleicht problematischer Akt der „Hilfe“ in guter Absicht? Auch so kann man der Ideologie Tribut zollen, daß es auf alle Fälle ein Segen ist, von echten, reinrassigen Landsleuten regiert zu werden.

Wo die Medien einhellig die USA loben, kann sich mancher schon deswegen dem nicht anschließen und begibt sich auf die Suche nach den Interessen der intervenierenden Mächte:

Die Erste Welt will die Chaospotenz der Dritten absenken durch gezielte punktuelle Kastration. Die Quellen der kommenden Völkerwanderung hilflos irgendwo ein bißchen zustöpseln. Ein bißchen Stützpunkte für den kommenden Nord-Süd-Konflikt, hilflos befestigte Inseln in der drittweltlichen Brandung.

(G. Nenning im »profil«)

Auch so kann man seine hohe Meinung von einem imperialistischen Militär kundtun. Ein solches tritt nämlich nur in einer verzweifelten Situation, angesichts einer existentiellen Bedrohung, in Aktion. Also „schließt“ der Betrachter vom Militäreinsatz auf eine furchtbare Bedrohung, bzw. spinnt er sich eine solche zusammen: 100.000 Somalis auf dem Weg nach New York gerade noch „hilflos“ an der Küste bei Mogadischu gestoppt? Einen „Stützpunkt“ erobert, den ein somalischer Staat, wenn es ihn gäbe, liebend gern vermieten würde — und das für einen erfundenen „Konflikt“, dem auf der Südseite das konfliktfähige Subjekt fehlt? „Gezielt punktuell Chaospotenz kastrieren“, was immer das sein mag? Originell ist es, zweifellos!

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