FORVM, No. 344-346
Oktober
1982

Imst liegt nicht bei Split

Österreich soll auf dem Balkan bleiben?

Man gestatte mir ein rüdes „Höh!“

Ist Schruns Balkan? Ist Reutte Balkan? Sind Herbert Salcher und Paul Flora Balkanesen?

No eben!

Und was heißt überhaupt „bleiben“?

Wenn bleiben, dann „bei den Alpen“ — auch nicht schlecht.

Der Balkan ist keine österreichische Konstante, sondern eine Farbe unseres Spektrums.

Wenn ich aber unsere Balkanesischkeit ablehne, meine ich nicht, daß wir uns als Deutsche betrachten sollen. Oder dort draußen Anschluß suchen sollten.

Ich muß das überstrapazierte Wort Metternichs auch zitieren (Bei meinem Wiener Palais auf der Landstraße beginnt der Balkan), aber nur um hinzuzufügen: und er erstreckt sich von hier in alle Richtungen. Auch in westliche, aber nicht sehr weit. Um Eferding herum ist er schon nicht mehr spürbar. Und hinter Salzburg liegt Amerika:

Man betritt bei Freilassing und Passau die Südstaaten. Von hier ist’s weit bis zu der Bundeshauptstadt Washingbonn.

Dies alles dort draußen ist für unsereinen sehr fremd, sehr exotisch. Alle Vermutungen, daß die hier und die dort gesprochene Sprache Gemeinsamkeiten stiften könnten, sind irrig.

Ich bin mit vielen Gegenden dort draußen vertraut, ich kann denen ihre Sprache verstehen. Na und? Ich bin auch mit Toulon und Boulogne sur Mer vertraut und verstehe denen ihre Sprache. Will ich mich deshalb an Frankreich anschließen wollen müssen?

Österreich — Deutschland, das ist wie England — U.S.A., wie Kärntnerstraße — Mariahilferstraße, wie Ö.G.B. — D.G.B. Beides probiert, kein Vergleich.

Die gewisse Anschluß-Sehnsucht, der auch ich erlegen bin, von meinem fünften bis zu meinem elften Lebensjahr, der auch Karl Renner und andere Politiker erlegen sind, hat psychische Wurzeln. Sie entspringt (entsprang) nicht dem Streben nach Identischem, sie ist (war) Drang zum Komplementären, zum Andern. Schwäche will zur Stärke, Liliput will zum Reich der Riesen. Ein kleiner Zerknetschter will eine Walküre, ein Forferl will einen Jung-Siegfried.

Dieser Anschluß fand 1938 zwangsweise statt. Und Vergewaltigung war noch nie eine gute Basis für eine gute Ehe.

Die Deutschen haben wir endgültig aus dem Kopf. Es is nix mit die zweiten Teil!

Wo sollen wir also bleiben? Ich fühle mich in allen unseren neun Bundesländern überaus zuhause. Ich fühle mich auch in den böhmischen Ländern, ich fühle mich in Brünn und Znaim und Preßburg zuhause. Ich war vor kurzer Zeit in Krakau und vom ersten Augenblick an wie zuhause. Die Sprache? Auch nicht fremdartiger als das, was sie im Bregenzerwald und im Rosental, oder gar an der Waterkant sprechen.

Balkan? In Krakau, in Gablonz, in Pilsen?

Und südlich? Sooft ich von der Steiermark aus zur Adria gefahren bin, hab’ ich ausgerufen: Ohne den Franz Joseph wär’ das heute noch bei uns — ihnen wäre wohler und uns auch. Slowenien und Istrien sind mir näher als der Chiemsee und Lindau.

Südtirol auch, soweit es deutschsprachig ist. Das anschließende Italien mag ich gern, Belluno, Udine, Padua; aber so, wie ich Verdi gern hab’ und Pirandello. Vertraut, aber nicht zuhause. Bozen, Meran, Ritten, Seis, Toblach ...

Triest lasse ich bewußt beiseite. Das gehört der Spiel und dem Rismondo. Balkan — ein Gebirge beziehungsweise eine Halbinsel. Was soll Österreich dort außer baden gehen? Nicht jeder Strand, wo Österreicher baden, ist unsrig. Madeira zum Beispiel, Rhodos zum Beispiel, die Seychellen zum Beispiel.

Ungarn? Auch nicht balkanisch, bitte schön. Magyarisch ist, bitte schön, überhaupt nicht balkanisch. Aber das Herz geht mir auf, sooft ich dort bin. In Stuttgart und in Frankfurt ist es mir nie aufgegangen. In Berlin, ja in Berlin, aber das hat andere Gründe. Nie im mittleren Westen, manchmal im äußersten Nordwesten der United States of Germany. Das dort links oben betrifft uns schon derart wenig, da ist jeder Anschluß-Vereinigungs-Drang so abwegig, so absurd, daß man ganz unverkrampft und unmißverständlich dafür sein kann.

Dort bleiben? Ebensowenig wie als Teilrepublik im imaginären Verband von Serbien, Rumänien, Bulgarien, Albanien, Griechenland.

Wir sind kein Süden, wir sind die Mitte, wenn auch eine etwas verhatschte Mitte mit dem Zentrum am äußersten Rand. Wir sind, real betrachtet, wir sollen bleiben, wir wollen sein: eine zufällig zusammengebliebene Einheit mit einer überraschend tatsächlichen Daseinsberechtigung, zusammengebunden durch: die Institution des Kaffeehauses, durch das Getränk Kaffee und seine Betonung auf der zweiten Silbe, durch die Betonung des Wortes „Tabak“ auf der zweiten Silbe, durch das Tarockspiel, durch die emotionsgeladene Aggressivität aller Österreicher gegen Wien, besonders der Wiener.

Noch einmal der Unterschied zwischen Österreich und Deutschland: Der Unterschied zwischen unseren Antikernkraftdemonstrationen mit Würstelstand und Eis und den deutschen Gewalttätigkeiten, der Unterschied zwischen unserer Friedensdemonstration in Wien und der deutschen Demonstration etwas früher in Bonn, der Unterschied zwischen Nenning und Böll.

Ja, schon, aber wo sollen wir bleiben? Wo bleiben wir?

Wir haben etliche verheißungsvolle Proben auf das wünschbare Exempel bestanden: Als die Grenze mit Ungarn für kurze Zeit offen war. Und als die Grenzen mit der Tschechoslowakei für kurze Zeit offen waren. Als wir die Polen — ich weiß, aber trotzdem! — aufgenommen haben, und die Auswanderer aus der Sowjetunion, die wir betreuen.

Ich will nicht politische Prognosen riskieren, ich will nicht Austro-Imperialismus predigen. Ich will noch weniger eine kaiserlich-königliche Vergangenheit zur Zukunft stilisieren.

Die Schweiz ist vom Kern ihrer Ur-Kantone her, von innen nach außen zu ihrer endgültigen Form gewachsen.

Die Republik Österreich ist durch Abtrennung von Peripherem als eine Art Kern entstanden.

Die Eidgenossenschaft: zentripetal. Die Republik Österreich anno 1918: zentrifugal.

Aber: in diesem unserem Kern sind die Möglichkeiten gewahrt, die Möglichkeiten der offenen Grenzen.

Unser Radio und unser Fernsehen strahlen weit hinaus in alle Richtungen als ungeplanter, integrierender Widerstand des mittleren, nicht des westlichen und nicht des östlichen und nicht des südlichen, sondern des dritten Europa.

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