ZOOM 3/1998
Juni
1998
Margret Kreidl:

In allen Einzelheiten

Margret Kreidls Buch um­kreist auf faszinierende Weise das Thema „Eigenwahrnehmung“ und „Wahr­nehmung“. Unter „Eigen­wahrnehmung“ verstehe ich nach Oliver Sacks jenes Sin­nesorgan, das uns z.B. darü­ber informiert, ob wir stehen oder sitzen, lächeln oder bö­se schauen — ohne daß wir uns unserer Körperhaltung oder unseres Gesichtsaus­drucks in einem Spiegel ver­gewissern müssen. Zur „Wahrnehmung“ ein Zitat von Yoko Tawada: „Irgend­wann bemerkte ich, daß sich die Leser der phonetischen Schrift in einem Museum ganz anders verhalten als ich. Auch Gemälde nehmen sie scheinbar wie phonetische Schrift wahr. Das heißt, sie betrachten die Gemälde nicht stumm, sondern über­setzen sie eilig in die gesprochene Sprache. Sie fragen sich ständig: Was sehe ich im Bild? Was ist dort abgebil­det? Was ist das Konzept des Künstlers?“

Margret Kreidl, die ihren „Kleinbuchstaben“ in sechs Bilder aufteilt, scheint uns von solchen „Fragen“ ab­bringen zu wollen — hin zu anderen Wahrnehmungswei­sen oder Überlegungen. Viel­leicht vollziehen wir auch Schritt für Schritt den Bildaufbau nach, den der „Katalog“ uns vorschlägt. Die Aneinanderreihung von Be­schreibung in enträtselt-klarer Sprache und die Verein­fachung der Sätze auf das (auch grammatikalisch) „We­sentliche“ lassen das Gerüst der Sprache sichtbar werden, die enorme Variationsbreite sprachlicher Äußerungen ge­rade im strengen Korsett der Grammatik. So weisen diese „Beschreibungen“ über „Be­schreibungen“ hinaus: Sie verweisen in den Raum der Sprache selbst, dorthin, wo niemand schulmeisterlich fragt, was „der Dichter“ sa­gen will, sondern wo, ich zi­tiere Eva Meyer (die wieder­um sich auf Wittgenstein stützt): „... das Bild mir sich selbst sagt.“

In den kurzen Prosa­stücken „Mein Gesicht“ (zum vierten Bild gehörend) beschreibt Margret Kreidl spezifische Zurichtungsfor­men des Gesichts — des Ge­sichts, das sich selbst niemals „von außen“ sehen kann. Kreidl ermöglicht gewisser­maßen die Blickrichtung von außen nach innen, oder, um es anders auszudrücken, sie spürt dem Innen als einer Funktion des Außen nach. Vielleicht weist sie aber auch „nur“ nachdrücklich darauf hin, daß die Konstruktion des Außen und seine (frag­würdige) Interpretation zu den Tätigkeiten des Innen gehört? Ganz fremd begibt sich Kreidl in Gesichter, be­obachtet Auftritte oder spürt der Vielzahl anderer Iden­titäten, versteckt in ihren Na­men und der Geschlechtszu­gehörigkeit, nach. Der bittere ironische Unterton der „Ro­sen, männlich“ ergibt sich et­wa aus der Konstruktions­formel der Identitäten.

Die Ingredienzen dessen, was „ein Bild“ ist, werden immer wieder neu gemischt. So gibt es einerseits Träume, aber auch Skizzen und Skulpturen, in denen das Bezeichnende vom Bezeichne­ten (oder das Bezeichnete von seinen Funktionen?) gelöst erscheint. Die Skizzen und Skulpturen erinnern an Freuds Traumdeutung, stehen aber gerade nicht in dessen psychologisierendem Kontext und treten nicht als Kürzel auf, stehen auch nicht in der Tradition des Freud­sehen Kampfes zwischen „Es“ und „Über-ich“. Dem­entsprechend wohnt in den Skulpturen (die ja keine Skulpturen sind, sondern Texte) nicht der Zwang der Interpretation, sondern im Gegenteil, eine Aufforderung zur Bilderstellung und Bild­betrachtung.

So geht die Leserin von Bild zu Bild und bemerkt da­bei, daß diese „Bilder“ das begriffliche Denken ange­nehm umspielen, irritieren, zu Bewegung antreiben, ihm Impulse geben, Platz einräu­men, es freundlich und freundschaftlich hegen und pflegen.

Das Buch von Margret Kreidl sei allen LeserInnen aufs Wärmste empfohlen.

Margret Kreidl: In allen Einzelheiten. Ritter Verlag, Klagenfurt 1998, 112 S, öS 188,—

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