FORVM, No. 428/429
August
1989

In dieser Stunde

ja, in dieser Sekunde, überall, wo es die Beschaffenheit dieses Planeten erlaubt, ab und zu sogar jenseits dieser Beschränkung, an jedem Breitegrad, auf jedem Meridian, auf der Erde, auf den Meeren, in unwirtlichen Gebieten, in der Wüste im Dschungel, in der Steppe; in Extremfällen hoch über den Wolken, tief im Wasser, unter der Erde, in tropischer Hitze, im Frost des Polarwinters, hoch auf den Bergen, tief in den Schluchten, überall, wo es Menschen gibt, zu jeder Tag- und Nachtzeit, rund um die Uhr, rund um die Erdkugel — liegen Millionen von Männern und Frauen (wieviele Millionen, dutzende, hunderte?) eng aneinandergeschmiegt, verschwitzt, die Haut aneinander reibend, stöhnend, flüsternd, lachend vor Seligkeit in Betten, aber auch in freier Natur, beim Sex.

Die Phantasie eines Einzelnen reicht nicht aus, um sich all die Varianten und Extremitäten dieses Geschehens, das die ursprüngliche Funktion des Triebs zu Arterhaltung und Vermehrung zu oft hemmungsloser und sogar abartiger Lust (womit nur bedingt der Verkehr zweier Menschen gleichen Geschlechts gemeint ist) entstellt hat, vorzustellen. Sex ist Leben, Sex gehört zum Leben, ja, er ist, wenn auch nicht immer, sogar immer seltener gewollt, die Garantie der Fortpflanzung des Lebens. Der Veranlagung dazu kann man nicht entgehen, die steckt in uns allen, sie gehört zu unserer, wenn auch ein wenig entarteten, Natur.

Hunderte Millionen Menschen tun es, tagtäglich, überall, sie können nichts dafür, ja, es ist anzunehmen, daß die meisten von denen, die es tun, dagegen überhaupt nichts tun wollen — eher umgekehrt, warum auch: die Lust am Sex, falls sie befriedigt werden kann, macht Freude, macht selig, macht das Leben erträglicher, reicher, vollendeter. Sie gehört zur neuen Natur der Menschheit, sie mobilisiert die Sinne, füllt unsere Gedanken, weckt Sehnsüchte, verursacht ewige Unruhe in uns, treibt uns auf die Suche nach ihrer Erfüllung, gehört zum Leben genauso, wie alle anderen Tätigkeiten, die eigentlich auch, wenn auch manchmal ungeahnt, mehr oder weniger direkt, mit Sextrieb und Sexlust verbunden sind.

Was für ein Gebiet für die Kommerzialisierung! Seit Urzeiten schon! Die Religionen, auch die primitivsten, haben erkannt, welche Macht die Sexlust über den Menschen besitzt, und sie wußten diese Lust zur Stärkung ihres Ansehens, ihrer Autorität, ihrer Macht zu mißbrauchen. Sex wurde, gesellschaftlich, ritualisiert, gleich anderen Wundern der Natur, wie Gebären und Tod.

Die Zauberer, Schamanen, später die Priester, haben aus den von ihnen auferlegten Tabus und Verhaltensanweisungen ein lukratives Geschäft gemacht. Wie auch verschieden die heutigen Glaubensgemeinschaften der Welt die sexuellen Verhaltensnormen differenziert kodifizieren, in einem stimmen sie überein: alle machen aus dem Sex ein Mysterium und plustern sich auf zu Aufpassern, ja Richtern der Menschheit. Man darf nicht, wann, wo und mit wem man will, man muß sich dabei äußeren gesellschaftlichen Normen und Zwängen unterwerfen (was man, gottseidank, nicht tut, wohl auch nie getan hat).

Die „einzig wahre“ Religion, die vom Herrn auserwählte und geförderte (in meiner Schulzeit hat man die Chinesen noch als Heiden, also keine wirklichen Kinder Gottes, abgetan) christliche, von sterblichen Prokuristen Christi gegründet, gelenkt, beherrscht, darf wohl unter allen Religionen den traurigen Primat der Sexregulierung für sich beanspruchen.

Sex ist Sünde, die Frau ein unsauberes Gefäß, außereheliches Treiben ist ein Verbrechen, einzig toleriert wird der Sex nur nach der Eheschließung, einer Bindung zwischen zwei Menschen beiderlei Geschlechts, die vom Herrn auf Lebenszeit als untrennbar befohlen wurde. So manches, was an den zwischenmenschlichen Beziehungen unserer abendländischen, vom Christentum moralisch und intellektuell geprägten Gesellschaft nicht stimmt, dürfte in der unerklärbaren Sexfeindlichkeit der christlichen Kirchen, vor allem der katholischen, ihre Wurzel haben — die widernatürliche und nie erreichbare christliche Moral ist wohl die wichtigste Tragsäule der Kirchenherrschaft.

Natürlich haben sich auch Geschäftemacher aller Art das Lukrative am Sexverhalten der Menschheit nicht entgehen lassen. Es ist zum größten, dauerhaftesten und risikolosen Geschäft der Geschichte geworden. Ganze riesige Industrien und Wirtschaftszweige sind direkt oder indirekt an dem Sextreiben beteiligt oder von ihm abhängig: von der Reizwäscheerzeugung bis zum Drogenmißbrauch, der mit Sexualität mehr zu tun hat, als wir wissen oder zugeben mögen. Die Mode, das Geldmachen, die Karriere, das zur Schau getragene öffentliche Ansehen, die zur Zeit florierende Industrie der Verhütungsmittel, Kondom und Pille, das Nachtleben, die Spirituosenerzeugung, das Zuhältertum, Prostitution und Wissenschaft, Medizin und Literatur (die Zahl der Bücher zum Thema „Dreieck“ dürfte wohl mehr als eine Million Titel erreicht haben), Film- und TV-Industrie, Publizistik und Pornoindustrie — man kann nicht alles aufzählen, was mit dem Sex verknüpft ist, und es ist auch nicht nötig. Es wäre interessant nachzuforschen, welcher Prozentsatz der Menschen direkt oder indirekt von der Lust am Sex profitiert, auf sie angewiesen ist, von ihr lebt, oft ohne sich dessen bewußt zu werden.

In einer Gesellschaft, die alles käuflich und verkäuflich gemacht hat, ist die totale Kommerzialisierung des Sex zum Gipfel der Profitgier aufgestiegen.

Sogar zweckentfremdet dient der Sex dem Kommerz: Nackte Frau auf glanzneuer Limousine als „Blickfang“, ziemlich mieses Mineralwasser „belebt die Sinne“, unterschwellig erotische Liebeserklärung an irgendein Putzmittel. Nichts mehr geht ohne Erotik, sie ist, muß man befürchten, „ultima Thule“ der hemmungslosen Konjunktur; Kauflust paart da mit Sexlust sich, der Weg zur Seligkeit ist von Deodorants flankiert. Als Ersatz für mangelnde Erlebnisse bietet man uns zweidimensionalen Lebensersatz, Voyeurismus ersetzt das Betterlebnis, wozu soll man sich all die Mühe geben, die Identifizierung mit dem Bildschirmhelden bringt’s doch auch.

Lassen wir uns durch dies alles die tägliche Lust zum Sex nicht vermiesen. Lassen wir uns nicht beirren von den am wenigsten Befugten, die uns Wojtylas Sexualität aufschwatzen wollen und von den — nie dagewesenen — heiligen Banden der Ehe plappern. Wenn es uns übermannt/überfraut, tun wir es: ohne innere Ängste, falsche Scham und Schuldgefühle. Und, darauf kommt es sehr an: ohne Lüge. Sex und Liebe sind zweierlei. Im Glücksfall vereint, aber doch nicht identisch. Sex ist keine Schande, kann gar keine sein, denn er unterliegt nicht unserer Willkür.

Nur zu anderen Zielen mißbraucht, verursacht er Frust.

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