FORVM, No. 433-435
März
1990

Jenseits der Landschaft

oder Das Naturschöne als Kunstprodukt

Nach M.

Wenn die nature artificielle des Menschen sich entformt, werden die Künste künstlich.

A. Gehlen

„Landschaft“ ist heute ein politästhetisches Phantasma, der Ti‘tel meines Vortrags eine Phantasmagorie — das Wort verstanden in seiner ursprünglichen Bedeutung, die heute kaum mehr geläufig ist. „Phantasmagorie“ — so nannte man anfangs des 19. Jahrhunderts eine technische Inszenierung, die es erlaubte, die Projektionen von zwei Laternae magicae zu überblenden und bald die eine, bald die andere mehr hervortreten oder aber die eine in die andere übergehen zu lassen.

Der Titel „Jenseits der Landschaft“ verdankt sich einer solchen Überblendung — ob von Bildern zweier Laternae magicae, welche die Dinge bekanntlich auf den Kopf stellen, weiß ich nicht; das muß ich Ihrem Urteil überlassen. Wir werden sehen.

Im Jahre 1962 nämlich, dem Erscheinungsjahr der amerikanischen Erstausgabe von Rachel Carson’s „Silent Spring“, der Stiftungsurkunde des ökologischen Bewußtseins gewissermaßen, publiziert Joachim Ritter seinen mittlerweile kanonisch gewordenen Aufsatz über das Naturschöne: „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“.

1987, also genau ein Vierteljahrhundert später, erscheint Karl Heinz Bohrers Essay: „Nach der Natur. Ansichten einer Moderne jenseits der Utopie“.

Durch Überblendung dieser beiden Titel hat sich mein Titel ergeben: Damit möchte ich annonçieren, daß meine Überlegungen thematisch im Spannungsfeld jener beiden Arbeiten sich bewegen — der einen, älteren, die Natur noch als Trost behauptet, der anderen, jüngeren, die sie für ästhetisch erledigt erachtet — denn mich interessiert, was sich darin an historischer Veränderung ausdrückt.

So grundverschieden die Denkformen, der theoretische Hintergrund, die diskursiven Bezüge und der Erklärungshorizont der beiden Texte sind, es geht dem Ästhetiker Bohrer im Kern um die gleichen Fragen wie dem Geschichtsphilosophen Ritter: Um das Verhältnis von epistemischer, historischer und ästhetischer Subjektivität, um das Verhältnis von Natur und Geschichte, um das Naturschöne und Geschichtsphilosophie, um den Schrecken der Freiheit und der Autonomie auf der einen Seite, um den Trost der Heteronomie und der Notwendigkeit auf der anderen.

Bohrer erwähnt Ritter mit keinem Wort, aber er stellt sich dem gleichen Problem; allerdings unter verschärften Bedingungen — und genau diesen Verschärfungen möchte ich nachspüren, auf etwas anderen, verschlungeneren Wegen als Bohrer und mit einem Seitenblick auf jüngste Entwürfe grün-alternativer Programmatik, für die das „Naturschöne“ ein Leitbegriff ist.

Ritters Essay erschien im letzten historischen Moment dessen, was man heute schon rückblickend die „Moderne“ nennt, er ist noch kein Abgesang, sondern ihr Lob — allerdings im Bewußtsein ihrer heraufkommenden Bedrängnis. Bohrer schreibt als dezidierter Gegner postmoderner Gefühligkeiten zur Zeit ihrer ideologischer Entfaltung, als Gegner, der ihre materialen Gründe jedoch ernst nimmt und dem daher die geschichtsphilosophischen Sicherheiten, auf die Ritter sich noch stützen konnte, ebenso abhanden gekommen sind wie der Glaube an die utopischen Potentiale, die dieser aufgrund jener der Moderne noch zusprechen konnte.

Denn in dem Vierteljahrhundert, das zwischen den beiden Texten liegt, hat das sich ereignet, was auch vorsichtige Beobachter, wie etwa Hans Robert Jauß, heute schon eine „Epochenschwelle“ nennen. Die neue Epoche aber harrt noch ihrer positiven Definition — mit dem Wort „Postismus“ ist sie ja nur negativ umschrieben.

Leichter schon ist es zu sagen, was mit der alten Epoche zu Ende gegangen ist. Natürlich nicht die Geschichte selber, wie das mit dem Begriff „Postmoderne“ oft trübe assoziierte Wort „Posthistoire“ suggerieren möchte — im Gegenteil, die reale Geschichte bricht heute mit bis vor kurzem ungeahnter Heftigkeit und Dynamik allerorten sich Bahn —, wohl aber die sinnstiftenden Tröstungen und Erklärungsmuster der Geschichtsphilosophie mitsamt der von ihr genährten utopistischen Hoffnungen, in deren selbstverständlichem hegelianischem Horizont Ritter noch schreiben konnte.

Als Theorie eines fortschrittsbewußten Geschichtsphilosophen läuft nämlich Ritters Theorie des Ästhetischen, und insbesondere die der Funktion des Naturschönen, auf jene Kompensationstheorie der Rationalisierungsschäden der Moderne hinaus, als die sein skeptischer Schüler Odo Marquard sie später explizit gefaßt und mit einem ordentlichen Schuß Zynismus noch auf die Funktionsbestimmung der Geisteswissenschaften ausgedehnt hat. Zugleich bringt sie damit einen Gedanken der gesamten idealistischen Ästhetik von Baumgarten bis Hegel auf den Punkt, die, indem sie diese als Theorie des Schönen in das System der Philosophie einbrachte, die Kunst und mehr noch das Naturschöne in ein dienendes Subordinationsverhältnis zur Wahrheit und Erkenntnis stellte.

Denn die Ergänzungsrelation von veritas logica und veritas aesthetica ist schon bei Baumgarten nicht symmetrisch, sondern eindeutig hierarchisch geordnet. Baumgarten, mit dessen „Aesthetica“ am Höhepunkt der Verstandesaufklärung als deren notwendiges Supplement und Korrektiv 1750 erstmals in der systematischen Form eines Schulsystems eine auf Empfindungen gegründete Philosophie des Schönen formuliert wird, spricht zwar der Kunst ihre eigene Wahrheit zu, die Wahrheit im Element des sinnlichen Empfinden und Fühlens, diese ist aber, obwohl als „gewichtiger Teil menschlichen Erkennens“ anerkannt, eine bloß vage und vorläufige Wahrheit, die einer „verworrenen Erkenntnis“ der unteren Erkenntnisvermögen entspringt und daher dem strengen Begriff der Wissenschaft durchaus untergeordnet ist, der allein eine „deutliche Erkenntnis“ verbürgt. Diese Unterordnung der Empfindung unter den Begriff, die in der Tat den Gang der Moderne überhaupt bestimmt, geschieht in Form einer Feier der Kunst und des Schönen, deren salbungsvoller Ton allein schon mißtrauisch machen sollte: Man klopft der Kunst auf die Schulter, weil man sie als Palliativ benötigt — sie befriedigt gleichsam die Konservativität der Gefühle, die von der progressiven Verstandeserkenntnis im Stich gelassen werden und denen man, in mehr oder minder klarem Wissen um die Ideologie, die man damit betreibt, eine Art zweiter Erkenntnisfähigkeit zuschreibt, ohne strenge Verbindlichkeit freilich. Denn was in den rigiden Begriff logischer Wahrheit nicht eingeht, soll von den schönen Künsten empfindend erkannt und zu „ästhetischer Wahrheit“ erhoben werden. Schon bei Baumgarten rückt die Ästhetik in die von den Wissenschaften unbesetzte Leerstelle der vormaligen Metaphysik ein, die von eben jenen Wissenschaften destruiert wurde. Wo die ganze Natur, die gleichsam als Heideggersches Geviert von Himmel und Erde, Menschen und Göttern zum lebensweltlichen Dasein gehört, in ihrer qualitativen Fülle begrifflich nicht mehr ausgesagt werden kann, soll das empfindende Gemüt gestaltend und poetisch das Bild und das Wort hervorbringen, in denen sie sich darstellt und ihre Wahrheit geltend machen kann: „Die ästhetische Wahrheit kann an die Stelle der metaphysischen treten, da die Kunst durch die in ihr erscheinende ‚venusta plenitudo‘, die schöne Fülle des Daseienden, den Menschen die Gewißheit gibt, daß man in dieser Welt gern sein kann, daß also das allmähliche Verschwinden der Transzendenz sie nicht zu Fremden auf der Erde macht“, schreibt Hartmut Scheible durchaus affirmativ zur Baumgartschen Asthetik. Invers gelesen heißt das aber, daß, da die metaphysische Wahrheit von der fortschreitenden Verstandeserkenntnis als Illusion erkannt und zunehmend außer Geltung gesetzt wird, die Kunst, die tröstend an ihre Stelle tritt, zum falschen, und im Grund auch durchschauten Schein einer erhofften Versöhnung gerät, die in der Wirklichkeit keine verläßliche Stütze mehr hat. Augenzwinkernd gibt man zu verstehen, daß die Rede von der „ästhetischen Wahrheit“ so ernst nicht gemeint sei, denn diese Wahrheit ist, als Ausdruck mimetischer Erkenntnis, der begrifflichen bloß supplementär und, ohne daß das offen ausgesprochen würde, dieser gegenüber inferior.

Aber erst Kant hat in seiner dritten Kritik das ästhetische Urteil vollends vom begrifflichen emanzipiert, indem er jenes als reflektierendes Urteil faßte und vom bestimmenden Urteil beim wissenschaftlichen Gebrauch der Vernunft unterschied: Während bei diesem der Verstand die Erscheinungen den Kategorien gemäß organisiert, ist jenes unter der Form des Gefühls auf die unbestimmte Beziehung zwischen den Vermögen des Subjekts bezogen. Nachdem die Wissenschaft von der Natur dadurch sicheren Boden gewonnen hat, daß sie sich darauf beschränkte, ihre Erscheinungen allein im Felde experimentell kontrollierbarer Theorie zu „buchstabieren“, übernimmt es die ästhetische Einbildungskraft, die Natur in ihrer „Totalität“ und als „Darstellung der Idee des Übersinnlichen“; die wir nicht mehr im Begriff erkennen können, für das Gemüt lebendig zu halten. Die „ästhetische Idee“ ist eine Emanation der Einbildungskraft, „die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch ein bestimmter Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“. Die kantische Philosophie der mathematischen Welt Newtons, zunächst niedergelegt in der ersten Kritik, ruft in der dritten Kritik den Künstler auf, der da, wie es bei Schiller heißt, „wo jetzt, wie unsere Weisen sagen, seelenlos ein Feuerball sich dreht“, die vom Göttlichen belebte schöne Natur als Symbol des Sittlichen im ästhetischen Schein gegenwärtig hält; ein Unternehmen, das umso dringlicher wird, je mehr der Verstand die Natur sowohl wie die soziale Ordnung entzaubert und zum toten Objekt der Manipulation degradiert.

Damit kommt in der philosophischen Theorie eine Tendenz auf die Bahn, die Odo Marquard als zunehmenden Vorrangsgewinn der Symbolisierung des normativ postulierten Sittlich-Guten im Schönen — ein später Abglanz der griechischen Kalokagathie — gegenüber seiner praktisch-politischen Verwirklichung diagnostiziert und in ihrer passageren Ambiguität gekennzeichnet hat. Denn es hält zwar die Ästhetik die Erinnerung daran wach, daß die Wirklichkeit in ihren durch den Verstand fixierten Formen nicht aufgeht; sie hat insofern auch ein utopisches Moment an sich, das kritisch über die verdinglichte Welt hinausweist. Doch geht ihre Forçierung zuletzt auf Kosten des Praktischen, die Symbolisierung des guten Lebens im Schönen tritt an die Stelle seiner politischen Realisierung. Marquard schreibt mit Bezug auf Kants Ethisierung der Ästhetik: „Das hat zugleich etwas Zweideutiges an sich, man weiß nicht recht: wird da die Verwirklichung des menschenwürdigen Staates unterstützt, vorbereitet, eingeleitet, oder wird sie nur auf schöne Weise bestattet? Gehört die Ästhetik zur Vorhut oder zur Trauerfolge der geschichtlich vernünftigen Aufgabe? Ist das Schöne als Symbol des Sittlichen Stimulans der Verwirklichung oder Sedativ angesichts ihrer Aussichtslosigkeit? Ist es — auf diese Formel darf man das wohl bringen — Instrument oder Ersatz der politischen Verwirklichung der geschichtlichen Vernunft? ...“

... Das erste — Symbolisierung als Instrument — hat Kant erhofft, fürs zweite — Symbolisierung als Ersatz — hat er vorgesorgt, denn das quälende Problem dieser zweiten Möglichkeit, das Problem einer ästhetischen Symbolisierung, die — wenigstens der Tendenz nach — im Grunde nichts mehr symbolisiert, weil sie sich aus dem Zusammenhang des geschichtlichen Problems gelöst, weil sie ihrer politisch-sittlichen Rolle gekündigt hat, ist zwangsläufig das Bewußtsein ihrer eigenen Unwirklichkeit ... Als Indiz kann gelten die Flut alsbald folgender Symboltheorien und Symbolreflexionen, die entstehen eben deshalb, weil dieses Symbolisieren problematisch wird und das Symbol längst unterwegs ist auf dem Wege seiner Verwandlung zum Symptom. Und umso weniger hier das Ästhetische und die Kunst durch die soziale Wirklichkeit des Sittlichen und der Geschichte sich definiert, getragen, gerechtfertigt fühlen, umso stärker wird ihr Bedürfnis, sich durch den Anschluß an eine andere, eine außersoziale und außergeschichtliche Wirklichkeit zu rechtfertigen. Solch eine außergeschichtliche Wirklichkeit ist die Natur.

Marquard faßt hier eine Strömung zusammen, die ihre neuzeitliche Quelle in Kants „Kritik der Urteilskraft“ hat und die über Schellings Naturphilosophie in Nietzsches Lebensphilosophie mündet. Sie treibt eine ästhetische Konzeption von Natur hervor, die zur wissenschaftlich verstandenen Natur ebenso in Gegensatz tritt wie zur gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit. Durch ihre begriffliche Entleerung wird die ästhetisierte Natur politisch aufgeladen:

Diese Natur wird jetzt akut. Es entsteht also gerade durch den Anspruch der Ästhetik und die Fragwürdigkeit dieses Anspruchs das entschiedenste Interesse an einer nicht gesellschaftlich definierten, nicht als Naturwissenschaft präsenten Natur. Darum widmet sich Kant im zweiten Teil seiner Urteilskraft — und nicht zufällig damit im selben Problemzusammenhang mit der Ästhetik — der Philosophie der Natur ...: wo die Ästhetik ihre Bindung an die Geschichtsphilosophie löst, gerät sie zwangsläufig in die Bindung an Naturphilosophie. Schon bei ihren ersten Auftritten, schon bei Kant zeigt sich das: zur Ästhetik gehört die latente Bereitschaft, die Naturphilosophie sich zu assoziieren, sich schließlich zur Hauptphilosophie zu machen und damit potentiell zur Lebensphilosophie überzugehen. Diese Bereitschaft schlummert, solange Ästhetik als Instrument, die erwacht, sobald Ästhetik als Ersatz des geschichtlichen Denkens gesucht und gemeint wird.

Unter Berufung auf Aussagen von Cézanne und Van Gogh, die selbst als Organon der Natur sich verstanden, die sie in ihrer Malerei zum Ausdruck brachten (malend verliere er sich als „optisches Werkzeug“ an die Natur, welche ihrerseits „sein eigenes Ich okkupiere“, schreibt Cézanne), kommentiert Joachim Ritter das neuzeitliche Verhältnis von Epistemologie, Geschichtsphilosophie und Ästhetik mit den Worten:

Sieht man auf die Reflexion, in der Dichter und Maler sich ihr Tun wie ihre Aufgabe zu deuten suchen, dann zeigt sich, daß diese Gleichzeitigkeit wissenschaftlicher Objektivierung und ästhetischer Vergegenwärtigung im Verhältnis zur Natur nicht zufällig ist. Der ästhetische Sinn wird von einer Macht ergriffen, die ihn zum Organ ihrer Darstellung macht, weil sie ohne ihn ungesagt und ungesehen bleiben muß.

Während nämlich in der Tradition der klassischen Philosophie bis in die Epoche der Wende zur Neuzeit der vernünftige Begriff allein und als solcher die ganze Natur als Kosmos zu vergegenwärtigen vermag (das gilt a fortiori für die heidnische Philosophie, weshalb man bei den Griechen, wie Schiller sagt, „so wenige Spuren von dem sentimentalischen Interesse (findet), mit welchem wir Neuere an Naturszenen ... hangen können“. Denn auf dem Boden der heidnischen Philosophie gab es keinen Grund, ein besonderes, von der begrifflichen Erkenntnis unterschiedenes Organ für die Vergegenwärtigung und Anschauung der Natur auszubilden), ist diese nunmehr, im Zeitalter der objektivierenden mathematischen Naturwissenschaft, auf die ästhetische Vermittlung verwiesen.

Das Naturschöne — es selber wie seine Vergegenwärtigung im Kunstschönen als Sujet — bringt so das in die Erfahrungswelt der Menschen ein, was durch die rationale Erkenntnis der Natur aus ihr vertrieben wurde: die Idee ihrer Totalität als lebendiges Ganzes und als sittlicher Urgrund der Welt.

Das heißt aber, Natur als ästhetische Kategorie oder als „Landschaft“ — denn „Landschaft“ ist ja nichts anderes als Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist, wie Joachim Ritter prägnant schreibt —, Natur als Landschaft ist selbst nichts naturhaft-Übergeschichtliches, sondern sie ist selbst geschichtlichen Wesens. Nicht aus dem trivialen Grund, weil — auf seiten des Objekts — die reale Topographie der Landschaft geschichtlich sich änderte und heute, wie man so sagt, „zerstört“ wird — dabei bliebe sie ja als physische Kategorie erhalten —, sondern weil auf seiten des gesellschaftlichen Subjekts das Bedürfnis wie auch die Möglichkeit seiner Befriedigung geschichtlichen Ursprungs sind. Das Bedürfnis entsteht mit dem Zerfall einer die Welt als Kosmos umspannenden metaphysischen Ordnung, d.h. mit der Entstehung einer analytischen, die Natur als Totalität aufbrechenden mathematisch-experimentellen Naturwissenschaft in der beginnenden Neuzeit. Diese schafft aber auch zunehmend, durch die Entwicklung der Technologie, welche — wie Hegel sagt — ein „listiges“ Naturverhältnis herstellt, indem sie „Natur sich an sich selber abarbeiten läßt“, die Möglichkeit, von der Natur als Arbeitsraum sich zu distanzieren und sich ihr gegenüber in ein von praktischen Interessen losgelöstes betrachtend-ästhetisches Verhältnis zu setzen. Der ästhetische Zauber des Naturschönen setzt die theoretische Entzauberung der Natur und die praktische Befreiung von ihren Zwängen voraus. Mit anderen Worten, das Naturschöne ist eine genuin bürgerliche Kategorie, d.h. eine ästhetische Kategorie, die erst auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft möglich und wirklich wurde. Denn was früher das Nutzland oder das Ödland war und über Jahrhunderte hin ungesehen und unbeachtet blieb, das feindlich Abweisende oder der Ort der Plackerei, wird nun zum Großen, Erhabenen und Schönen: es wird ästhetisch zur Landschaft. Die zum Leben der Menschen gehörige Natur als bergende Umwelt und als sinnverheißende Ordnung, also als „ptolemäische Welt“, wird ästhetisch in Form der Landschaft zum Inhalt der Idee der Freiheit, deren reale Existenz die bürgerliche Gesellschaft und ihre Herrschaft über die zum Objekt verdinglichte und unterworfene Natur als „kopernikanische Welt“ zur Voraussetzung hat. Daher schreibt Joachim Ritter zu Recht:

Der Naturgenuß und die ästhetische Zuwendung zur Natur setzen die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur voraus. Wo Natur zu der Gewalt wird, die ihre Ketten zerbricht, und den Menschen, den schutzlos Gewordenen, fortreißt, da waltet im Furchtbaren der Schrecken, der blind ist. Freiheit ist Dasein über der gebändigten Natur. Daher kann es Natur als Landschaft nur unter der Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben.

Das Naturschöne ist also, als Modus gesellschaftlicher Reflexion von Natur, nichts Natürliches, sondern etwas in höchstem Maße Geschichtliches. Natur als ästhetische Kategorie ist geschichtlich entsprungen, und keine Seinsordnung wacht darüber, daß sie nicht auch wieder verschwindet. Im Gegenteil: Die große Kunst der Moderne ist antinaturalistisch bis in ihre innerste Fiber, sie vollzieht, mit Verspätung zwar, doch dann mit atemberaubendem Tempo, die gleiche Wende, mit der Descartes 1637 die gesamte, Jahrhunderte alte Denktradition abgeschüttelt hat. Mit dieser Wende tritt an die Stelle der „Natur“ die „Subjektivität“ Den Anfang machten hier die Romantiker, Friedrich Schlegel forderte 1803 in den „Allgemeinen Grundsätzen über die Malerkunst“, daß der Maler ein Dichter sein solle, aber erst die Kubisten haben, worauf Arnold Gehlen eindrücklich hingewiesen hat, die Cartesianische Erkenntnistheorie geradezu adoptiert und damit die Natur als Sinnversprechen endgültig aus der modernen Ästhetik vertrieben.

Die Möglichkeit des Auftauchens und der Existenz des Naturschönen ebenso wie seiner emphatischen Evokation in der Kunst sind, wie wir gesehen haben, an eine ganz bestimmte historische Konstellation gebunden. Stellt man den Focus der Betrachtung aber schärfer ein, dann sieht man, daß die Dialektik von Naturbeherrschung und Naturgenuß, von rationaler Entzauberung und ästhetischer Verzauberung von Natur sich schließlich selbst verschlingt und eine Ästhetik freisetzt, die nur mehr am radikal Künstlichen ihr Genüge findet, programmatisch antimimetisch ist, damit auch keine kosmischen Wahrheiten mehr verkündet, sondern, wie die Technik, und oft genug mit deren avançiertesten Mitteln, neue Wirklichkeiten schafft.

Existenzgrund des, mit Schiller zu reden, „sentimentalischen“ — aber nicht ideologischen — Naturverhältnisses, also des Naturschönen als authentischer ästhetischer Kategorie, ist ein gewisses Maß begrifflicher Durchdringung, rationaler Zergliederung und fragmentarischer technischer Beherrschung von Natur, welche einerseits eine hinreichende Distanzierung des Subjekts von den stummen Zwängen einer zum mechanischen Objekt verdinglichten Natur erlaubt, andererseits die Sehnsucht nach dem verlorenen, einmal lebendig und sinnhaft geglaubten Ganzen hervorruft — Entfremdung also von Natur, welche die Bedingung aller Freiheit von ihr ist, die aber an sich selbst als Entfremdung noch leidet und daher die Utopie der Versöhnung noch auszubilden vermag —, welche zugleich jedoch die Entzauberung von Natur noch nicht so weit getrieben haben, daß jede Beschwörung einer natura naturans sofort als Ideologie und falscher Trost durchschaut würde. Ist diese transitorische Konstellation noch nicht oder nicht mehr gegeben, so ist das Naturschöne entweder unerlebbar oder seine deiktische Behauptung und künstlerische Evokation werden als Lügen erkannt.

Daher schreibt Adorno in der „Ästhetischen Theorie“: „Das Naturschöne ist die Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universaler Identität.“ Er fügt an anderer Stelle des gleichen Werks jedoch hinzu: „Die Anamnesis der Freiheit im Naturschönen führt irre, weil sie Freiheit im älteren Unfreien erhofft“ — das ist geschrieben aus dem modernen Bewußtsein heraus, daß die Utopie der Versöhnung mit Natur letztlich doch nur falscher Schein ist, weil sie sich, gleichsam als zeitliche Umstülpung, einer ideologischen Erinnerung an paradiesische Zustände verdankt, die in Wahrheit niemals existierten.

Wenn der heute von ökoästhetischer Seite wieder so gerne zitierte zeitgenössische Theoretiker romantischer Landschaftsmalerei Carl Gustav Carus schreibt, daß die in allem gegenwärtige Natur und „ewig fortwirkende Weltschöpfung“ da, wo die „zerlegende Wissenschaft“ zur Herrschaft gekommen ist, auf das ästhetische Fühlen und auf „die freie Pro- und Reproduktion des Kunstgenius“ verwiesen ist und es so sei, „als wäre der unendliche Reichtum der Natur“ in einer Sprache geschrieben, welche jetzt der Mensch nur dadurch erlernen könne, daß er „durch den Vorgang eines verwandten Geistes einen Teil dieser Worte in seine Muttersprache übersetzt erhält“, so ist für ihn die „Herrschaft der zerlegenden Wissenschaft“ noch eine illegitim usurpierte Herrschaft, welche die eigentliche Wahrheit des schönen Kosmos verfehlt und verrät. Naturästhetik wird dann zum Statthalter einer höheren Wahrheit. Aber Carus hatte, als dessen Schüler, noch die Naturphilosophie Schellings im Rücken, die heute nicht mehr anschlußfähig ist.

Und wenn er an anderer Stelle von der „Künstlichkeit unserer sozialen Denkweisen“ spricht und dazu meint: „Wer auf diese Dinge genauer acht gibt, wird sich dann leicht überzeugen, daß jenes erst in unserer Zeit hervorgebrachte Bestreben, sich zeitweise wie zu einer Art von Naturadoration hinauszustürzen in die Wälder ... und Berge, wirklich gleichsam eine Art von Instinkt ist, um sich ein Heilmittel zu suchen gegen die Krankheit des künstlichen Lebens und die Einwirkung desselben auf geistige Entwicklung“, so ist damit die Ideologie der Wandervogelbewegung schon vorformuliert. Hier schlägt die Entzauberung der Natur selbst in ihrer Feier durch, denn sie wird instrumentalisiert auf ihre psychohygienische Funktion als Ort der Erholung vom Streß des bürgerlichen Lebens. So besingt man keine heilige Natur, so empfiehlt man eine Recreation-Area. Solche Sätze könnten heute ohne weiteres auch in einem Reiseprospekt der Touristikindustrie stehen.

Mit zunehmender Rationalisierung und Entzauberung der Natur wird auch ihre ästhetische Verzauberung, ursprünglich das Palliativ gegen jene, immer schwerer, diese wird zuletzt als falscher Zauber durchschaut — und zwar nicht nur kognitiv, sondern auch emotiv, also ästhetisch.

Natur als Landschaft ist die ästhetisch empfundene ptolemäische Welt, welche über die Kälte der kopernikanischen tröstet aber der moderne Mensch denkt nicht nur, er fühlt und empfindet auch kopernikanisch — er weiß nicht nur, er sieht, daß die Sonne nicht aufgeht, sondern daß die Erde sich dreht. Er weiß, daß das Grün Chlorophyl, und daß Chlorophyl Chemie ist, und danach empfindet er auch. Man kann auch den Mond nicht mehr besingen, nur mehr die Katzen und die Hunde können das, er ist kein lyrisches Symbol der Sehnsucht mehr, seit er ein Landeplatz von Raketen ist. Die Natur ist radikal entzaubert, alle Götter sind aus ihr vertrieben und ihre Spuren sind verwischt — selbst die Heideggerschen Holzwege sind heute asphaltiert.

Als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ — so definiert Walter Benjamin die „Aura“, gleichsam als Heiligenschein der Dinge. Diese Definition ist am Naturschönen gewonnen und erst nachträglich, als Signum seiner Echtheit und historischen Zeugenschaft, von Benjamin auf das künstlerische Artefakt übertragen worden. Aber die Reproduzierbarkeit hat in der Moderne nicht nur die Aura des Werks, sondern auch die der Natur zerstört. Die Aura der Natur, dieser „Heiligenschein der Dinge“, verdampft in dem historischen Augenblick, in dem Natur den Menschen nicht mehr als in sich sinnhafter und praktisch unerschöpflicher Lebensraum umgibt, sondern selbst vor dem zivilisatorischen Zugriff geschützt, in gewissem Sinn „reproduziert“ werden muß, um als sogenannte „Natur“, d.h. als funktionstüchtiger Assoziationsanreiz für konventionelle Naturgefühle, erhalten und her-gestellt zu werden.

Es liegt eine bittere Ironie in der Tatsache, daß gerade jene, die heute zu einer neuen Naturmystik neigen, gerne vom „Raumschiff Erde“ reden: Denn mit dieser Metapher, die keine ist, sprechen sie jenen Sachverhalt unverblümt aus, den sie sonst gerne blumig zum Verschwinden bringen möchten: daß nämlich die gesamte Ökosphäre zum technischen Objekt geworden ist.

Was die Große Logik Hegels philosophisch lehrte, nämlich daß die Natur nichts anderes sei als der Geist in seinem Anderssein, ist nach dem Zusammenbruch des objektiven Idealismus in der total durchkapitalisierten Welt erst praktisch wahr geworden. „Natur“ ist unter diesen Umständen entweder eine ideologische Phrase oder ein System von partiellen Differentialgleichungen, das allerdings seine eigene Schönheit hat, die Schönheit des Artifiziellen, die sich der geistigen Freiheit verdankt, der Lossage von der Natur und ihrer Unterwerfung.

„Der Hain ist Holz geworden, das Schöne zum Ding, der Tempel zu Klötzen und Steinen“ — schrieb Hegel schon 1801, in der Morgenröte der Industrialisierung. Er hat selbst auf diesen Verlust mit Trauer reagiert, aber er wußte, daß der Verlust endgültig ist und hat sein Denken eingerichtet in der „Prosa der modernen Welt“. Seine große Ästhetik bildet daher als Höhepunkt zugleich auch den Abschluß der idealistischen Ästhetik insofern, als sie diese radikal historisiert und zeigt, wie das Schöne in der geschichtlichen Bewegung sich loslöst von seiner symbolischen Bindung an das Wahre und Gute.

Hegel begreift als geistige Voraussetzung der romantischen Kunstform — d.h. der Kunst nach dem Zerfall der klassischen Formen — die in sich gekehrte und reflektierte Subjektivität des christlichen Individuums. Diese, durch den Protestantismus vertiefte, verinnerlichte Subjektivität der unendlichen Reflexion des Selbstbewußtseins schafft einen weltabgewandten Raum der Freiheit, von dem aus alle äußerlich aufgezwungenen, normativ verbindlichen Instanzen in ihrem selbstverständlichen So-sein in Frage gestellt, letztlich als geschichtliche Produkte einer sich ihrer Freiheit noch nicht bewußten Subjektivität durchschaut und damit in ihrer fraglosen Geltung erodiert werden. In der Aufklärung durchbricht dieser Prozeß der Autonomisierung des Subjekts die Eierschalen seiner christlich-transzendenten Voraussetzungen, das freie Verstandessubjekt setzt sich absolut und unterwirft die gesamte äußere Welt seinem vernichtenden Urteil. Einerseits Ursache und Symptom zugleich der Auflösung aller Gestalten einer substantiellen Sittlichkeit — Hegel spricht vom „Atheismus der modernen Welt“ — ist die sich nach außen wendende Innerlichkeit andererseits zugleich oberste Instanz der Vergegenständlichung, der Objektivierung der Gesamtwirklichkeit der Natur wie der Gesellschaft — durch ihr „vorstellend, herstellendes Denken“ (Heidegger). Das schon bei Augustinus vorgebildete, bei Descartes zu sich selbst gekommene Prinzip der in Objektivierung umschlagenden Selbstbezüglichkeit des Subjekts ist das Prinzip der modernen Welt, sie führt in das Innerste der Wirklichkeit — die Entzweiung — ein und findet in der Bewegung der Negativität, in der ertragenen Zerrissenheit, die objektiv höchste Gestalt ihrer Bildung. In einer solchen Welt, wo alle Energie dem vormals lebendig geglaubten Kosmos entzogen und in der freien Subjektivität des Selbstbewußtseins versammelt ist, entschwindet die solide Totalität des Ideals der Schönheit als sinnlicher Ausdruck einer kosmischen Harmonie. Indem die romantische Kunstform die Ausdrucksmodalitäten des Subjekts als deus creatus in die Extreme treibt, die prosaischen Zustände aufnimmt, spielerisch gewähren läßt und jeden Formenkanon sprengt, mündet sie schließlich in die Negation und Aufhebung der Kunst als höchster Gestalt des objektiven Geistes: „Dadurch erhalten wir als Endpunkt des Romantischen überhaupt die Zufälligkeit des Äußeren wie des Inneren und ein Auseinanderfallen dieser Seiten, wodurch die Kunst selbst sich aufhebt und die Notwendigkeit für das Bewußtsein zeigt, sich höhere Formen, als die Kunst sie zu bieten imstande ist, für das Erfassen des Wahren zu erwerben.“ Diese höheren Formen für das Erfassen des Wahren sind nach Hegel, entsprechend dem avançiertesten Stand des Bewußtseins in der Moderne, begrifflicher Art, also die verschiedenen theoretischen Verhaltensweisen des Menschen, die Wissenschaft, die Philosophie. Daher, schreibt Hegel, „bleibt die Kunst für uns nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung ein Vergangenes“.

Und an anderer Stelle:

Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft ... Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein.

Sie sehen: Gegen ein geläufiges Vorurteil dekretiert Hegel 1830 durchaus nicht das Ende der Kunst schlechthin — im Gegenteil, er hofft, daß sie „immer mehr steigen und sich vollenden werde“ —, aber als schöne hat sie in der wissenschaftlich-technischen Welt der bürgerlichen Gesellschaft ihre Wahrheit verloren. Das Schöne ohne das Wahre aber ist das bloß Hübsche. Das Schöne als „sinnliches Scheinen der Idee“ findet in der Moderne sein Refugium nur noch im funktionsgerechten Design — also in der Mimesis nicht an die Natur, sondern an den Begriff.

Was für das Kunstschöne gilt, gilt erst recht und potenziert für das Naturschöne. Die Natur ist schön, weil und insofern sie den Begriff von ihr transzendiert, das Naturschöne ist die „Spur des Nichtidentischen“, also dessen, was sich dem Subjekt, seinem Be-greifen, seinem Ein-greifen, seinem Zu-Griff entzieht. Das heißt aber, anders formuliert, das Naturschöne hat seine Basis im Nichtgeistigen, im reinen So-sein der Dinge, in ihrer kontingenten Faktizität — in dem also, was sich der Wahrheit, die nur im Begriff wirklich ist, entzieht. Weil daher das Naturschöne, nach Hegel, keinen Anteil an der Wahrheit hat, ist es, als ungeistig, gleichsam von minderer Qualität.

Wo Kant noch das Erhabene erblickte und das Sinnbild der Idee einer göttlichen Ordnung — er parallelisiert ja den Anblick des bestirnten Himmels über mir mit dem Sittengesetz in mir —, dort spricht Hegel nur von einem „bestirnten Ausschlag“, er redet lakonisch vom „Naturlokal“ und behauptet, daß beim Anblick des Gebirges nicht mehr Vernünftiges zu sagen sei, als: „So ist das!“

Das behauptet heute auch —- und mit Recht, wie ich meine — das kurze Gedicht Ernst Jandls „auf dem land“, das nur aus zwei Zeilen besteht und lautet:

heu
see

Die Hegelsche Nüchternheit gegenüber der Natur kommt hier selbst zu ihrem ästhetischen Ausdruck.

Wir sahen schon, daß das Naturschöne in nach-hegelschen Zeiten wieder gewaltig mobilisiert wurde, im Naturerlebnis selber, in der Kunst und in der ästhetischen Theorie, und zwar gerade in dem Maße, als die von Hegel anvisierte gesellschaftliche Versöhnung ausgeblieben ist — genau darauf bezieht sich ja die Marquardsche Kompensationstheorie von Natur versus Geschichte, von Ästhetik versus Geschichtsphilosophie. Aber das war wohl nur, wie wir heute wissen, ein langer elegischer Abgesang — Ausdruck eines „leeren Sehnens“, wie Hegel sagen würde. Denn jener gesellschaftliche und technologische Rationalisierungsprozeß, der die ästhetische Naturvermittlung allererst notwendig und möglich gemacht hatte, hat diese letztlich selbst unterlaufen.

Für die reale gesellschaftliche Praxis und das nichtideologische Bewußtsein heute ist Natur kein „Mysterium“ mehr, sondern allenfalls ein offenes Problem, also ein Forschungsgegenstand, eine Rohstoffressource, eine Nutzfläche, ein Siedlungsraum, ein Erholungsgebiet oder — im besten Fall — eine Schutzzone. Eine geschützte Natur aber ist keine Natur — sie ist ein Artefakt, das sich aus einem Spiel von Eingriffen und bewußten, geplanten Enthaltungen ergibt, ein Park, ein Museum der Natur, das die Erinnerung an sie, als verlorene, aufbewahrt.

„Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge“, schreibt Rilke in einem Brief 1925, „gehen zur Neige und können nicht mehr ersetzt werden. Wir sind vielleicht die letzten, die solche Dinge noch gekannt haben. Auf uns ruht die Verantwortung ..., ihr Andenken zu erhalten“. Das ist ein Dokument des Abschieds — eines schweren Abschieds, eines langen Abschieds, eines traurigen Abschieds, aber eines endgültigen Abschieds. Heute ist er vollzogen: Wir leben unwiderruflich „Nach der Natur“, nicht nur ästhetisch, wie Karl Heinz Bohrer anhand des literarischen Prozesses der Moderne diagnostiziert, sondern auch physisch. Wir leben in einer künstlichen Welt, nicht in einem Bio-, sondern in einem Technotop mit etwas Grün dazwischen, sozusagen in der Maschine selbst, und nur durch Technik ist sie zu erhalten — wenn es denn unbedingt sein muß. Und es ist uns auch ästhetisch nur mehr das radikal künstliche erträglich, denn jede Versicherung: „Es gibt ja doch Natur!“ wird als verlogenes Handauflegen erlebt, das über den wahren Zustand der Welt hinwegtäuschen will: Die Resurrektion der Natur ist ausgeschlossen, praktisch und ästhetisch.

1954 schreibt Gottfried Benn das Gedicht „Melancholie“ das den Abschied von der Natur lyrisch ratifiziert und dessen erste Strophe Karl Heinz Bohrer als Beweisstück heranzieht. Sie lauter:

Wenn man von Faltern liest, von Schilf und Immen,
daß sich darauf ein schöner Sommer wiegt,
dann fragt man sich, ob diese Glücke stimmen
und nicht dahinter eine Täuschung liegt,
und auch das Saitenspiel, von dem sie schreiben,
mit Schwirren, Dufthauch, flügelleichtem Kleid,
mit dem sie tun, als ob sie bleiben,
ist anderen Ohren eine Fraglichkeit:
ein künstliches, ein falsches Potpourri —
untäuschbar bleibt der Seele Agonie.

Bohrer kommentiert:

Das moderne reflexive Subjekt erlaubt sich nicht mehr, sich selbst in der Natur wiederzuerkennen. Die Natur hat im Reflexionsmodus der Moderne ihre das Göttliche und das Menschliche widerspiegelnde Symbolqualität eingebüßt. Es gibt über sie keine Rettung mehr aus der eingeschlossenen Subjektivität. Nur ein Umschlag in subjektlosen Objektivismus vermöchte das, etwa in den ‚Mythos‘ oder das ‚Heilige‘, ein Weg, den die späten Romantiker gewählt haben, dessen Wiederholung sich dem modernen Bewußtsein verbietet.

Wenn das so ist — und es ist so —, dann hat sich die Situation seit Ritters Reflexionen über das Naturschöne insofern dramatisch verschärft, als die seit dem 18. Jahrhundert bis zum Ausgang der klassischen Moderne wirksame Kompensationsmechanik zwischen Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie außer Kraft gesetzt ist. Die nach dem Tode Gottes, d.h. nach dem Zusammenbruch einer glaubwürdigen Transzendenz noch verfügbaren Sinnreserven Natur und Geschichte sind beide erschöpft: die Geschichte, weil wir nicht mehr an ihre Machbarkeit, schon gar nicht an einen objektiven, sich hinter dem Rücken der handelnden Akteure durchsetzenden Fortschritt glauben, also an eine „List der Vernunft“; die Natur, weil es sie als ein Jenseits der Gesellschaft nicht mehr gibt.

„Die nicht mehr anerkannte göttliche Natur“, schreibt Bohrer, „beglaubigt keine historische Teleologie mehr, und die desavouierte Geschichtsphilosophie läßt keinen neuen Naturbegriff zur Hintertür ein. Wenn ein solcher Naturbegriff zur Zeit als literarisches Symbol oder als kulturkritisch-politisches Projekt gehandelt wird, so bedeutet dies immer nur eine dezisionistische Reaktion des Subjekts ohne objektive Begründungsfähigkeit“.

Was bleibt, ist das radıkal vereinzelte Subjekt, das in keinem wie immer gearteten „Ganzen“ sich mehr wiedererkennt, weder in einer an sich daseienden harmonischen Natur, noch in einer sinnvollen Gesellschaft, schon gar nicht in einer realisierbaren großen Utopie. So erfährt es die Welt nicht einmal mehr als schlecht und insofern als verbesserungsfähig — es erfährt sie als absurd.

Um dieses Subjekt abzusetzen vom historischen, konzipiert Bohrer es als ästhetisches. Dessen Haltung scheint mir aber ununterscheidbar von der eines nihilistischen Skeptizismus — der Haltung Nietzsches gleichsam, abzüglich seines heute unerträglichen Vitalismus.

In der letzten Strophe seines Gedichts „Nur zwei Dinge“ hat Gottfried Benn diesen Gefrierpunkt des Ästhetizismus eng und scharf umrissen:

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

Damit ist zugleich der Fluchtpunkt der Verstandesaufklärung bezeichnet, jener Punkt, in dem sie mit der romantischen Subjektemphase konvergiert. Ein unwirtlicher, ein schwer erträglicher, ein eisiger, ein unwahrscheinlicher Punkt, aber ein kostbarer Punkt, den es festzuhalten gälte, mit viel Energie, ernstem Pathos und ohne Sentimentalität. Die spanische Moralistik hatte ihm lange schon einen Namen gegeben. Sie nannte ihn: „Desengaño“. Gewinnen kann man mit ihm gar nichts und niemand, vor allem keine Proselyten; daher ist er auch politisch zu nichts zu gebrauchen. Er verspricht kein Glück außer einem: die böse Lust der Erkenntnis. Auf ihm zu balançieren ist schwierig und gefährlich, der Halt auf ihm erfordert ein strenges Ethos, denn bei der geringsten Unaufmerksamkeit, Schwäche oder Nachgiebigkeit droht der Absturz in einen neuen Mythos, der wie immer ein ganz alter wäre, hieße er nun Natur, Geschichte, Moral, oder, wie sie heute gerne sagen: „Menschlichkeit“, ohne zu bedenken, zu was die fähig ist; in den warmen Schoß von „Sinn“, in eine pseudoreligiöse „Bindung“, die man eingeht, nicht, weil man glaubt, sondern weil man es für gesund hält und förderlich dem Wohlbefinden, einen Glauben zu haben und eine Hoffnung: Sinnprothesen für eine Frömmigkeit aus Pragmatismus. So wird man tüchtig.

Die interessierten Verkäufer dieser Lügen, von Zielen und Werten und Zwecken und Idealen, die Pädagogen und Ideologen, die Apokalyptiker und Retter der Menschheit, haben in solchen Zeiten Konjunktur. Die Rettung aber wäre allemal schlimmer als der Untergang, der ohnehin kommt, über kurz oder lang, für jeden. Denn das hieße mit den Rettern leben, bis dahin.

Vortrag unseres Beirats R. B. aus Anlaß der Max Weiler-Retrospektive
Museum des XX. Jahrhunderts, 13. Jänner 1990

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