FORVM, No. 113
Mai
1963

Jugoslawiens Magen bleibt westlich

Ein Reisebericht

Ein knappes Jahr hat genügt, um das gesellschaftliche Klima in Jugoslawien sehr wesentlich zu verändern. Vom optimistischen Aufwind der späten Fünfziger- und der ersten Sechzigerjahre ist heute kaum noch etwas zu spüren. Die von Marschall Tito am 5. Mai 1962 in seiner Rede zur Eröffnung des neuen Kraftwerks Split verkündeten „Neuen Maßnahmen“ haben eine echte klimatische Depression ausgelöst. Der Elan, den man noch im Herbst 1961 überall in Jugoslawien — und bei allen Bevölkerungsschichten — festgestellt hatte, ist über Nacht verschwunden. Titos Reise in die Sowjetunion und die Aussöhnung des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BKJ) mit der KPdSU haben zusätzliche Unsicherheit bewirkt.

Die „Neuen Maßnahmen“ betreffen vor allem die Wirtschaft. Man kann sie als notwendigen Eingriff von oben in eine nicht ungefährliche Wachstums- und Übergangskrise werten. Die Annäherung Belgrads an Moskau brachte hingegen den politisch-ideologischen Überbau des jugoslawischen Experimentes ins Wanken, und dies zu einer Zeit, da man daranging, das im Befreiungskrieg Gewonnene und in der Résistance gegen Stalin Behauptete durch ein großzügiges neues Verfassungswerk zu institutionalisieren.

Zweifel statt Elan

Die Umbenennung Jugoslawiens, bisher „Föderative Volksrepublik“, in „Föderative Sozialistische Republik“ sollte nach den Intentionen der Partei- und Staatsführung ebenso wie die geplante Ersetzung der Trikolore durch eine rote Staatsflagge mit dem jugoslawischen Wappen [1] dokumentieren, daß der eigene jugoslawische Weg, dem in der Außenpolitik die „dritte Position“ entspricht, ebenso sicher zu Sozialismus und Kommunismus führen kann wie der orthodox-moskowitische. Gerade durch den bewußten Verzicht auf die nationale Symbolik sollte mit diesen Neuerungen gegen den konservativ-sowjetischen und den reaktionär-chinesischen Kommunismus demonstriert werden. Seit Titos Wintertreffen mit Chruschtschew ist jedoch der Verdacht laut geworden, es handle sich hier nicht um die selbstbewußte Bestätigung des eigenen Weges, sondern um die Einordnung ins „Weltlager des Sozialismus“.

Der Zweifel hat auch ehrliche Kommunisten befallen (nur die Opportunisten aller Lager sind gegen solche Anfechtungen immun). Marschall Tito hat in den wenigen Monaten seit seiner Moskaureise drei Reden gehalten, um Belgrads ideologische und politische Autonomie zu bestätigen. Trotzdem sagte mir vor kurzem ein jüngerer, aktiver Kommunist, die Befürchtung, das kleine und mittlere Funktionärskorps in der Provinz könnte sich, die Haltung der Führung mißverstehend, wieder auf Moskau ausrichten, sei nicht von der Hand zu weisen.

Im Herbst 1961 freute man sich über die in einem Jahrzehnt erzielte Verdoppelung des Pro-Kopf-Einkommens (auch wenn der Sprung keine höhere Marke erreicht als 365 Dollar); die Zeitungen publizierten Produktionsstatistiken, die Rekorde meldeten und neue verhießen; man ließ sich von ausländischen Experten bescheinigen, vorzugsweise von solchen aus Entwicklungsländern, Jugoslawien habe mit seinem Produktionszuwachs von 12 und mehr Prozent jährlich eine Reihe westeuropäischer Länder überflügelt. Der Anteil der Landwirtschaft am Nationaleinkommen war um 25 Prozent gesenkt worden. Landwirtschaftliche und nicht-landwirtschaftliche Bevölkerung hielten einander ungefähr die Waage. In der allgemeinen Euphorie nahm man die vorhandenen Schwächen und die in der Aufwärtsentwicklung selbst steckenden Gefahren nicht zur Kenntnis.

Staatskapitalisten unter sich

„Man“ — und zwar weniger die Basis-Produzenten, das Volk, sondern vielmehr diejenigen, die sich auch in der klassenlosen Gesellschaft als „Man“ fühlen dürfen — „,man“ war heiter und stolz; „man“ freute sich seiner Tüchtigkeit und genoß die Früchte der Arbeit; „man“ schaffte sich Autos, Kleider, Schmuck und Villen an, unternahm Auslandsreisen und ließ sich — den Gästen aus dem kapitalistischen Ausland durchaus ebenbürtig — in den adriatischen Badezentren oder in den Luxusorten der slowenischen Berge sehen. Wer diese „haute volée“ der sozialistischen Marktwirtschaft erlebte, muß zugeben, daß der Kontrast zwischen dem protzigen Auftreten untertags und der Melancholie der Partisanengesänge, denen man sich nach Alkoholkonsum am Abend hingab, ein wenig anwiderte.

Seit Titos Rede in Split gilt das alles nicht mehr. Die „Neuen Maßnahmen“ haben zunächst neue private Maßstäbe zur Folge gehabt. „Man“ gab sich wieder ehrlich und arm. „Man“ besaß bestenfalls ein Auto, ein Goldarmband. Die „Sozialen Kontroll-Kommissionen“ durchstöberten das Land kreuz und quer auf der Suche nach illegitim erworbenem und aufgehäuftem Reichtum. Was man besaß und was nicht als mit eigenem Schweiß erarbeitet deklariert werden konnte, versuchte man als ehrlich erbettelt zu retten; man erinnerte sich emigrierter Tanten und Vettern, deren Spendierfreudigkeit keine Grenzen — weder Staatsgrenzen noch ideologische — zu kennen schien. Die kollektive Heuchelei feierte Orgien. Der Mann, den die Kommission in Zadar in den Kerker schickte, weil er für seine Bar-Reserve von 12 Millionen Dinar und seine drei Personenautos keinen befriedigenden Herkunftsnachweis erbringen konnte, war durchaus kein Einzelfall. Man wehrte sich, so gut man konnte, und mit viel Phantasie. Ein Industriefunktionär aus Agram, der nachzuweisen hatte, daß sein Personenauto rechtens erworben war, amüsierte die Kommission mit der folgenden Geschichte: Er sei bei einem Besuch in Padua einer unbekannten alten Dame, die wegen des enormen Verkehrs sich nicht über die Straße getraut habe, hilfreich beigestanden; zum Dank dafür habe sie ihn, als sie bald nach seiner Kavalierstat verstarb, testamentarisch mit dem Auto bedacht.

Durch die „Neuen Maßnahmen“ wurde nicht nur der unrechtmäßig erworbene Reichtum abgeschöpft, sondern auch tief in den Wirtschaftsprozeß eingegriffen. „Oben“ hat das Interesse aufgehört, durch mehr Arbeit und Leistung mehr zu verdienen. „Unten“ aber ist eine Lebensmaxime der jugoslawischen Arbeiter — „Bis vier Uhr arbeiten wir, nach vier Uhr verdienen wir!“ — ins Wanken geraten. Wer sich eine Villa baute, gab jugoslawischen Bauarbeitern zusätzlichen Verdienst; wer sich Schmuck zulegte, förderte das Handwerk. Diese „grauen“ Aktivitäten außerhalb aller Pläne wirkten in Jugoslawiens „sozialistischer Marktwirtschaft“ als Korrektiv, indem sie dazu beitrugen, die sehr niedrigen Arbeitseinkommen aufzubessern. Diese Korrektur ist heute nur noch in seltenen Fällen möglich. Während die „Oberen“ ihre Einkünfte möglicherweise in vollem Umfang beibehalten haben und nur — um nicht aufzufallen — auf deren vollen Konsum verzichten, ist „Unten“ vielfach ein echter Einkommensverlust bewirkt worden.

Die „Neuen Maßnahmen“ sind offensichtlich auch als Angriff auf die neue Klasse zu werten. Tito sprach von Karrieristen, „die im Bund der Kommunisten sitzen und die Mitgliedschaft für persönliche Zwecke ausnützen“. Die hiedurch verzerrte Form der Gesellschaft soll wieder auf „sozialistisch“ korrigiert werden.

Moralische Auszehrung

Hinter dem jugoslawischen Kommunismus stand einst eine gewaltige moralische Energiereserve; es ging gegen die „Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten der bestehenden Ordnung“ (Djilas, „Land ohne Recht“). Deshalb waren in der Zwischenkriegszeit auch viele junge Leute aus bürgerlichen Familien zur Proletarierpartei gestoßen, zu jener Bewegung, „die Erfolg versprach und von der man wußte, daß sie in einer großen Revolution schon einmal Erfolg gehabt hatte. Es war einfach der Wunsch nach einem besseren und glücklicheren Leben, der jedem Geschöpf angeboren ist und der unter bestimmten Umständen nur durch den Kommunismus erfüllt werden konnte“ (Djilas). Durch die doppelte Résistance der jugoslawischen Kommunisten — erst gegen die Deutschen und Italiener, dann gegen den stalinistischen Ostblock — konnte die moralische Reserve auch dann noch immer wieder aufgestockt werden, als die Revolution schon gesiegt und — wiederum nach Djilas — „den Kommunisten alles gebracht hatte, außer dem, was ich in meinem Idealismus von ihr erwartet hatte“. Nun aber sind die Fackeln der Jugend abgebrannt. Ein zynischer Ausspruch Edvard Kardeljs — „Jugoslawien hat seinen Geist im Osten und seinen Magen im Westen“ — analysiert, vom Altkommunisten her, die Lage ganz treffend. Der Materialismus der Karrieristen hat die ethische Reserve aufgezehrt; die Partei ist zum Sprungbrett geworden, während die Arbeiter um das knappe Existenzminimum raufen müssen.

Tito hat lange Zeit auf die sozialistische Ethik und auf die Automatik der Entwicklung gesetzt. Im Mai 1962 scheint er, obschon er „administrative Maßnahmen“ verabscheut, keinen anderen Ausweg gesehen zu haben: das Gesetz trat an die Stelle der Ethik, die Kommission an die Stelle der Automatik.

Wo liegt der Defekt? Im System selbst oder nur in dessen unzulänglicher Realisierung?

Arbeiter-Selbstverwaltung und Dezentralisierung sind die doppelte Basis des jugoslawischen Systems. Nach dem Prinzip der Arbeiter-Selbstverwaltung werden die sozialisierten Produktionsmittel — Fabriken, Geschäfte, Hotels usw. — den Arbeiter-Kollektiven zur Führung überlassen. Stimmenmäßig sind im Kollektiv alle gleichberechtigt, vom Direktor bis zum Hilfsarbeiter. In den Lohnbezügen freilich hat es, wie in dem Jahr seit Titos Rede in Split offiziell geworden ist, vielfach frühkapitalistische „Klassenunterschiede“ gegeben.

Anderseits legt das System den Verwaltern bei der Aufteilung des Netto-Ertrags, von dem 33 Prozent direkt an den Staat gehen, so starre Fesseln an, daß erstens für die Gesamt-Lohnsumme nicht allzuviel übrig bleibt und zweitens erforderliche Einsparungen nur an der Lohnsumme (und damit an den Individuallöhnen) möglich sind. Die Arbeiterlöhne sind heute mit 15.000 bis 30.000 Dinar extrem niedrig; auch ein Intellektueller in guter Mittelposition muß sich mit etwa 50.000 Dinar bescheiden; obwohl Schule und Gesundheitsdienst gratis, die Wohnungen billig und Urlaube vielfach vom Arbeitgeber subventioniert sind, liegt etwa ein Elektrotechniker mit einem Monatseinkommen von durchschnittlich 25.000 Dinar an der Grenze des Existenzminimums.

Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Abschaffung der Ausbeutung der Vielen durch die Wenigen kann von den Arbeitern kaum als Ersatz für anständige Entlohnung angesehen werden. In der Theorie ist der Arbeiter Mitbesitzer ganz Jugoslawiens; in der Praxis ist ihm selbst die bescheidene Möglichkeit genommen, beim Verkauf seiner Ware, der Arbeitskraft, ein Wort mitzureden. Streiks gibt es nicht. Die Gewerkschaften sind ein Teil des Apparats; sie sind „Oben“. In dieser Lage bleibt dem Arbeiter, will er am bescheidenen Nationalwohlstand ein wenig mitnaschen, nur die Selbsthilfe des Pfuschens. Und gerade da pfuschen ihm nun die „Neuen Maßnahmen“ ins Handwerk.

Eleganz und Phonetik

Das Bild, das Land und Städte dem Reisenden bieten, verrät nichts von der wirtschaftlichen und politischen Krise. Die Menschen sind nicht nur in den größeren Städten, wie Laibach, Agram, Belgrad oder Sarajewo, besser und eleganter gekleidet als etwa in Ostberlin (von Leningrad oder Moskau gar nicht zu reden). Die Geschäfte bieten Konsumgüter in großer Auswahl, allerdings ist eine deutliche Zunahme der Produkte östlicher Herkunft festzustellen. In den Kinos laufen jugoslawische, italienische, französische, amerikanische, englische, deutsche und nur wenig russische Filme. In den Schaufenstern der Buchhandlungen dominiert neben der jugoslawischen die westliche Literatur von Viktor Igo über Somerset Mom, Gi de Mopasan, Edgar Valas, Viljem Fokner bis Ricard Rajt (die phonetischen Studien, die man da machen kann, bereiten das reinste Vergnügen).

In größeren Städten und in Fremdenverkehrszentren können Zeitungen aus dem Westen gekauft werden; nicht alle, da man manche nicht hineinläßt und andere das umständliche Jugoslawien-Geschäft scheuen. Auch die zugelassenen gibt es nicht immer, da die einheimische Lesewut sich vielfach bevorzugte Bedienung, vor allem mit traditionsreichen europäischen Titeln, zu sichern weiß.

Man hört — auch in der Provinz, wo der lokale Parteisekretär vielfach noch in die traditionelle Kategorie der allseits gefürchteten Respektspersonen gehört — bei offenem Fenster die „Stimme Amerikas“ in serbokroatischer Sprache. Wenn man jedoch mit eigener Stimme über Politik oder andere Zustände redet, schließt man die Fenster vorsorglich.

Man hört im städtischen Kaffeehaus Radio Vatikan in serbokroatischer Sprache über das Konzil. Und mancherorts, wo sich österreichische Kaffeehaustradition noch erhalten hat, in Laibach, Agram oder Sarajewo etwa, mischen sich die Einheimischen unter die Ausländer, um bei einem Türkischen und oftmals erneuertem Wasser ausländische Zeitungen zu lesen. Man kann auch Leser sehen, die offenbar als Delegierte größerer Neugier-Gemeinschaften ins Kaffeehaus entsandt sind. Sie horten die Zeitungen — die „Neue Zürcher“, „Die Presse“, den „Observer“, „Le Monde“ — und schreiben aus jeder das Interessanteste in ein Notizbuch, um es schwarz auf weiß nach Hause zu tragen und unter die Leute zu bringen.

Es paßt durchaus in diese liberale Informationspolitik des Tito-Regimes, daß an der adriatischen Küste in vielen Orten nur das italienische Fernsehen empfangen werden kann und empfangen wird, ohne daß jemand etwas dagegen unternähme.

Djilas ist keine Unperson

Angesichts solcher Erfahrung fragt man sich verwundert, wieso Djilas ins Gefängnis mußte. Die ihm zur Last gelegte Übertretung von Gesetzen ist nur juridischer Vorwand; der eigentliche Grund scheint zu sein, daß Djilas jene Gruppen-Solidarität verletzt hat, welche die Partei- und Staatsspitze allen Meinungsverschiedenheiten zum Trotz zusammenhält. Er ist das Opfer einer Parteiräson, durch die er sich nicht mehr gebunden fühlt, die ihn aber gleichwohl nicht aus der Verantwortung entläßt. Man betrachtet Djilas offenbar heute noch als „dazu gehörend“. Und überall in den zur Erinnerung an den Befreiungskrieg errichteten Museen oder Ausstellungen sieht man Djilas auf Gruppenphotos abgebildet, figuriert sein Name auf den Listen der damaligen Volksvertreter und Partisanenführer, steht sein Signum M. D. am Ende von Leitartikeln. Das Echo auf seinen „Fall“ ist recht unterschiedlich; viele bewundern ihn (bei geschlossenen Fenstern), andere bemitleiden ihn, den menschlichen Respekt versagt ihm niemand. [2]

Die jugoslawische Partei hat es stets abgelehnt, die „Rolle eines dogmatischen Richters über Richtungen, Schulen und Stile der Wissenschaft und Kunst“ zu übernehmen (Laibacher Parteiprogramm). Gleichwohl hat Tito in seiner Unterredung mit den Präsidiumsmitgliedern des Journalistenverbandes am 6. Februar 1963 Presse und Kunst kritisiert; die Legitimation dazu, leitet er allerdings nicht von irgendwelchen „Partei-Kriterien“ ab; er präsentierte sich vielmehr als regelmäßiger Leser der wichtigsten serbokroatischen, slowenischen und mazedonischen Blätter sowie als „Durchschnittsmensch, der die Kunst betrachtet und weiß, was gut ist und was nicht“. Gerade dieser „populistische“ Standpunkt des Kunstkritikers Tito macht stutzig. Er deckt sich auffallend mit dem Standpunkt Chruschtschews, und nicht minder auffallend ist die Gleichzeitigkeit der „neuen Maßnahmen“ gegen die Künstler in Jugoslawien mit solchen in der Sowjetunion und anderswo im Ostblock. All dies scheint jenen recht zu geben, die der Meinung sind, Chruschtschew und Tito wollten China auf Kosten der in der UdSSR ohnehin nur sehr relativen, in Jugoslawien aber recht virulenten Freiheit des künstlerischen Ausdrucks entgegenkommen.

Im Pressewesen mißfällt Tito die Zersplitterung der Mittel („Man sollte untersuchen, ob die Herausgabe einer so großen Zahl verschiedener kleiner Blätter tatsächlich notwendig und zweckmäßig ist“); die unzureichende Schulung vieler Journalisten, das zu geringe ideologische Niveau („Die Journalisten müßten sich ideologisch mehr festigen“ — ein Wunsch, kein Imperativ!); das Fehlen von Experten in den Redaktionen („die in der Lage wären, z.B. wirtschaftliche und andere Artikel in Form von Studien zu schreiben“). Am schwächsten sind nach Tito die Kulturrubriken der Zeitungen: „In ihnen werden die mannigfachsten Ansichten über Kunst und andere Gebiete des kulturellen Lebens vertreten; es werden sogar solche Ansichten laut, die mit der sozialistischen Auffassung über das künstlerische Schaffen ... nichts zu tun haben!“ [3]

Tito ist kein Banause

Im Mittelpunkt der „Kunstkritik“ Titos steht ein beachtenswerter Satz: „Im Westen soll man nicht glauben, daß dies (die Kritik an der abstrakten Kunst) gegen die Kultur des Westens gerichtet ist, denn auch wir sind ein Teil dieser Kultur.“ Tito will auch nicht, daß „jetzt besondere Maßnahmen gegen die Künstler“ ergriffen werden: „Das wäre Dummheit!“ Er ermahnt die Presse, „darauf zu achten, daß es nicht zu einer Hexenjagd kommt“. Aber als ein die Kunst betrachtender Durchschnittsmensch glaubt er, feststellen zu müssen, daß die abstrakte Malerei, sich eine dominierende Stellung zu schaffen gewußt habe. „Die Realisten wurden ein wenig zurückgedrängt, und die Preise wurden überwiegend abstrakten Künstlern zugeteilt.“ Er beeilte sich zu versichern, daß an dieser Entwicklung nicht die Künstler, „sondern die verantwortlichen kommunistischen Leiter, welche die Preise vergeben“, schuld seien, daß der „Modernismus auch schöne Werke geschaffen hat“, daß auch „ein abstraktes Bild ein Zimmer schmücken kann“ und daß ein abstraktes Bild als Dekoration durchaus zu bejahen sei. „Administrative Maßnahmen“ lehnt Tito ab, aber: „Wir werden keine Staatsgelder und keine Millionen mehr für solche Bilder geben.“ Die als Förderer der Abstrakten gerügten Kommunisten sollen in Zukunft „ihren Snobismus aus eigener Tasche und nicht aus Mitteln der Gemeinschaft“ finanzieren.

Wer offenen Auges durch Jugoslawien reist, wird überall abstrakten Gemälden und Plastiken begegnen. Maler und Bildhauer zählen in der Tat zu den Favoriten nicht nur der karrieristischen Nutznießer des Regimes, die — wie die Neureichen überall — nach Modediktat kaufen und subventionieren, sondern auch vieler Altkommunisten, die im Westen gelebt haben und sich vielen Künstlern persönlich aus den Jahren gemeinsamen Kampfes verbunden fühlen. 500.000 Dinar für vom Staat angekaufte Gemälde sollen, wie man hört, durchaus gängige Honorare gewesen sein. Titos Kampf gegen die snobistischen Genossen fügt sich so — abgesehen von der politischen Schlagseite zugunsten des Ostblocks — folgerichtig auch in die ethische Zielsetzung der „Neuen Maßnahmen“ ein.

Als Österreicher beneidet man Jugoslawien vor allem um seine Architekten und Städteplaner. Es wird enorm viel, relativ rasch, vielfach gut und stets sehr modern gebaut. Die zumeist jungen Architekten haben im Westen gelernt. Sie kennen Gropius, Loos, Wright, Le Corbusier ebenso gut wie den Mailänder Montecatini-Palast oder die Neubauten in Westberlin. Wo immer sie Vorbilder finden können, greifen sie zu; und man wird hier wie auf anderen Gebieten (etwa beim Genossenschaftswesen) feststellen, daß es besonders oft skandinavische Vorbilder sind.

Vorbildliches Agram

Das großzügigste städtebauliche Unternehmen, das mir bekannt geworden ist, liegt sozusagen vor unserer Haustür. Es ist die Ergänzung Agrams: durch eine neue Stadt, die sich organisch nicht nur an das alte Agram, sondern auch in die Landschaft fügen soll. Dieses Unternehmen setzt viel mehr voraus als einen lokalen KP-Chef, dessen Hobby Stadtplanung ist; einen Mann, der Mut hat, die Architekten sich entfalten zu lassen und der für die erforderlichen Budgetmittel sorgt. Die bereits vorhandenen Anlagen und Bauten des neuen Agram geben ihm recht. Unter dem Druck der demographischen Entwicklung — Agram ist von den 200.000 Einwohnern der unmittelbaren Nachkriegszeit auf rund 500.000 Einwohner angewachsen — sind zwar einzelne Neubauten zu rasch und zu sparsam unter Dach gebracht worden, die Gesamtlösung aber — die funktionelle Aufgliederung der neuen Stadt, die Verteilung von Grünflächen und Bauflächen, die rationelle Führung der Straßen — dürfte der idealen Lösung recht nahe kommen. Man konstatiert den Verzicht auf puren Funktionalismus und auf sein Gegenteil, die protzige Rhetorik, als gleichermaßen wohltuend.

Experten berichten Wunderdinge auch über den neuen Verbauungsplan von Laibach. In anderen Städten — etwa in Sarajewo oder Belgrad — bemüht man sich mit dem gleichen offensichtlichen Erfolg, ein zunächst eher wild wucherndes Wachsen unter die Kontrolle der Verbauungspläne zu bringen. Wie mit alten Städten geht man auch mit der Landschaft sehr behutsam um. Es ist bezeichnend, daß ein italienischer Städte- und Landschaftsplaner die Anlage der neuen Küstenstraße als europäische Leistung gepriesen hat; im Gegensatz zu neuen Straßen anderswo, die dazu animieren, die Autos mit Höchstgeschwindigkeit ans Reiseziel zu schießen, führt diese Straße durch die Küstenlandschaft. Und diese Landschaft ist überdies (noch) nicht durch hunderterlei Anlagen und Plakate verschandelt.

Die sogenannte „Instandhaltung“ der Neubauten macht freilich vielfach Schwierigkeiten. In B. (Bosnien) stieg ich in einem Hotel ab, das sich in meinem österreichischen Führer durch vier Sterne empfahl (der jugoslawische Hotelführer enthielt den Namen des Hotels nicht: ich vermutete eine Schlamperei, wo in Wirklichkeit eine Warnung vorlag). Es handelte sich um einen klotzig-monumentalen, von Mussolinis „stile novecento“ leicht angekränkelten Bau mit großartigem Treppenaufgang, Säulenvorbau und schweren Portalen.

Hotel „Planwirtschaft“

Das Hotel war um die Mitte der Fünfzigerjahre aus öffentlichen Geldern errichtet und dank einem astronomischen Planer-Optimismus auf rund 200 Betten angelegt worden. Es führt keine Asphaltstraße und keine Bahnlinie durch den Ort; die Bärenjagd, die in den Bergen betrieben wird, kann naturgemäß nur kostspielige Attraktion für kapitalistische Minoritäten oder Regierungsgäste sein, denen jedoch ein eigenes Jagdhaus zur Verfügung steht. So präsentiert sich das Hotel heute als sinnloses Denkmal der Gigantomanie; von den Mauern bröckelt der Verputz, Waschbecken, Badewannen und WC-Muscheln sind demoliert, aus den aufgestemmten Mauern quellen Leitungskabel und rostige Rohre, braune Flecken auf dem geschwärzten Plafond künden von Überschwemmungen oder Rohrbrüchen, auf den Teppichen hat sich fingerdicker Staub festgesetzt. Nur die Rechnung fällt auch in diesem orientalischen Idyll mitteleuropäisch aus. Man muß sich am Durchreisenden schadlos halten, denn der Großteil der Zimmer ist längst an Arbeiter der nahen Fabrik vermietet, welche aber ebenfalls, sobald sich die Gelegenheit bietet, in fabrikseigene Wohnungs-Neubauten übersiedeln.

Eine gesellschaftliche Aufgabe wird das Hotel jedoch weiterhin zu erfüllen haben. Es ist — siehe Rechnung — eine mitteleuropäische Oase in „türkischer“ Umgebung. Sitten und Gebräuche in B. werden nicht von der kommunistischen Führung, sondern von den Muselmanen bestimmt. Wenn nun eine — eingeborene oder durchreisende — Frau das Bedürfnis empfindet, ein Kaffeehaus aufzusuchen, so kann sie dies nur im Hotel tun. In den sehr hübschen und von sehr malerischen Typen frequentierten Moslem-Cafés gälte sie als „puella publica“.

Das Beispiel von B. ist nur in der extremen Form der gigantischen Anlage und der ebenso gigantischen Verluderung ein Einzelfall. Ähnliche Fälle in kleinerem Umfang gibt es zahllose. Was gebaut worden ist, zu bewahren, hat man vielerorts in Jugoslawien noch nicht gelernt. Der rasche Verfall auch der neuen Bauten ist eine Quelle steter Verluste, die auf das Konto des Kollektivs und der Löhne gehen. „Neue Maßnahmen“ auf diesem Gebiet wären echte Entwicklungshilfe für alle und jeden.

nächster Teil: Jugoslawien ohne Jugoslawen

[1Das Parlament hat bei der Beratung der neuen Verfassung Anfang April den ursprünglichen Vorschlag auf Umänderung der Staatsfahne abgelehnt. Die neue Fahne wird die Trikolore und das Wappen beibehalten; sie soll jedoch zusätzlich das den revolutionären Sozialismus symbolisierende Rot erhalten. Das genaue Bild der neuen Fahne ist noch nicht bekannt.

[2Paul Willen hat im Vorwort zu M. Djilas’ „Anatomie einer Moral“ aus einem Diskussionsbeitrag Titos vom Jänner 1954 zum ersten „Fall Djilas“ den folgenden Absatz zitiert, der heute in vielem noch gültig zu sein scheint: „Warum hat Djilas sich von den alten Genossen, mit denen er 17 Jahre zusammengearbeitet hat, getrennt? Genosse Djilas hatte jede Möglichkeit, alles, was er wollte, über unsere Krise zu sagen, ja mehr sogar, als er geschrieben hat. Wir kannten ihn und diskutierten alles untereinander, wir machten Witze miteinander, und im Scherz kann man alles sagen.“

[3Diese und die folgenden Zitate aus: „Die jugoslawische Presse ist ein grundlegender Faktor bei der Formung und Verbreitung des sozialistischen Bewußtseins — Unterredung Präsident Titos mit den Mitgliedern des Präsidiums des Journalistenverbandes Jugoslawiens“, in „Internationale Politik“, Belgrad, Heft 309.

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