FORVM, No. 226/227
Dezember
1972

Kärntner Abwehrkampf — eine Geschichtsfälschung

Die diplomatischen Hintergründe

I. Alldeutsche Wissenschaft

Ein neuerrichtetes Abwehrkampfmuseum mit Waffen und historischen Puppen, pompöse Umzüge, Verleihungen des „Kärntner Kreuzes“, tönende Reden das war das Bild der 50-Jahr-Feiern zur Unterkärntner Volksabstimmung. Mit diesem Spektakel stieß das offizielle Kärnten im Oktober 1970 die slowenische Minderheit und das interessierte Ausland vor den Kopf. Bis zur Kampagne gegen die zweisprachigen Ortstafeln im Oktober 1972 hat kein anderes Ereignis so viel zur Verschärfung der nationalen Spannungen beigetragen.

Wenn der Abwehrkampf derart mythologisiert wird, dann bekommt auch der scheinbar esoterische Gelehrtenstreit, welchen Einfluß gewisse Unterkärntner Scharmützel der ersten Jahreshälfte 1919 auf die diplomatischen Verhandlungen der Großmächte über die Kärntner Grenze hatten, eine politische Bedeutung. Deshalb war es für die deutschnationale Kärntner Wissenschaft immer eine Haupt- und Staatsaktion, wenn ihr Geschichtsbild in Frage gestellt wurde. Das rief unweigerlich gereizte Reaktionen hervor.

„Zu einer Revision des Geschichtsbildes besteht nicht der geringste Anlaß“ — dieses Diktum des Direktors des Kärntner Landesarchivs, Wilhelm Neumann, bleibt der letzte Schluß Kärntnerischer Weisheit. [1] Klagenfurt hat außerdem die Bewilligung zur Benützung der Akten des Landesarchivs allen Historikern entzogen, und damit gibt es keine Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit jenes Standardwerkes zu überprüfen, das nach Meinung von Direktor Neumann keiner Revision bedarf: „Kärntens Freiheitskampf“ von Martin Wutte, Landesarchivdirektor von 1922 bis 1939. [2] Neumann läßt sich in seinem Bekenntnis zum Altvordern Wutte auch nicht durch dessen offenherziges politisches Programm stören: „Daß die Kärntner, viele bewußt, manche unbewußt, in einem Freiheitskampf nicht bloß um die Grenze ihrer Heimat, sondern auch um die Grenze Großdeutschlands gekämpft haben.“ [3]

Heute begnügt man sich bei offiziellen Anlässen mit Bekenntnissen zum Deutschtum „im allgemeinen“.

II. Der militärisch verlorene Abwehrkampf

Seit Jahrzehnten preist man in Kärnten bei Abstimmungsfeiern den heldenhaften Kampf gegen die slowenischen Eindringlinge. Er allein habe die Landeseinheit erhalten. Das Paradoxon: Die Abwehrkämpfe endeten militärisch mit einem völligen Debakel der Kärntner Truppen, die am 6. Juni 1919 sogar Klagenfurt räumen mußten. [4] Ein gescheiterter Abwehrkampf konnte die Ententemächte schwerlich für Österreich eingenommen haben. Also greift die Kärntner Wissenschaft auf jene Phasen zurück, in denen österreichische Verbände zweimal vorübergehend Erfolge verzeichnen konnten, nämlich im Jänner und Anfang Mai 1919.

Den originellsten Beitrag zu diesem Thema hat Martin Wutte geliefert: Die Jännerkämpfe 1919 wären von größtem Einfluß gewesen, weil sie die Aufmerksamkeit der in Wien weilenden US-Studienkommission auf sich gelenkt hätten, die sich hierauf ein objektives Bild von der Wehrhaftigkeit der Kärntner Bevölkerung und von deren wahren Wünschen machen konnte. Die siegreichen Kämpfe der Österreicher Anfang Mai 1919 hätten die Amerikaner in ihrem Eintreten für Kärnten bestärkt. Schwierigkeiten hat Wutte nur mit der österreichischen Juni-Niederlage, da sie von den Großmächten als vollendete Tatsache hätte hingenommen werden können. Wutte: „Diese Rechnung scheiterte allein an Wilson und seinen Beratern Seymour und Day.“ [5] Damit hebt sich aber die militärische Argumentation selbst auf. Die „berufene Käntner Seite“ erklärt die Niederlage vom Juni 1919 implizit für bedeutungslos.

Die Kärntner Forschung ist nur in einer einzigen Arbeit über Wutte hinausgegangen, und zwar in der 1970 publizierten Dissertation von Claudia Kromer über „Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Frage Kärnten 1918 bis 1920“. [6] Kromer kommt zu dem Ergebnis, daß „in Paris das Schicksal Kämtens entschieden wurde, wenn auch das für die Kärntner Frage folgenschwerste Ereignis der Besuch einer amerikanischen Kommission war“. [7] (Seit Jänner 1919 verhandelten die Ententemächte in Paris über Friedensverträge mit den besiegten Mittelmächten.) Kromer stellt alle Abwehrkämpfe nach dem Jänner 1919 als unbedeutend hin. Der US-Präsident Thomas Woodrow Wilson und seine Berater hatten sich in der Kärntner Frage von Anfang an auf eine bestimmte Meinung festgelegt, und zwar die geographische Einheit Kärntens zu bewahren. [8]

Da Wilson sich seine Ansicht im Jänner gebildet hatte, konnten — laut Kroner — nur die Jännerkämpfe diese Meinungsbildung noch beeinflußt haben. In der Argumentation der Kärntner Wissenschaft ist die Bedeutung der Abwehrkämpfe damit auf die Jännergeplänkel zusammengeschmolzen.

III. US-Interesse

Die Unterstützung Wilsons für die Aufrechterhaltung der Einheit Kärntens zieht sich tatsächlich wie ein roter Faden durch die Friedensverhandlungen. Eine zentrale Rolle in Wilsons Überlegungen spielten geographische Einheiten mit natürlichem Grenzabschluß. Das waren für ihn einheitliche Wirtschafts- und Verwaltungsgebiete, deren Zerreißung zum Nachteil der betroffenen Bevölkerung wäre, Keime für spätere Auseinandersetzungen. [9] Zugunsten der Aufrechterhaltung geographischer Einheiten konnten sogar — wie dies in Böhmen, Südtirol und in Kärnten geschah — ethnographische Faktoren ignoriert werden. Das heißt: Nationalitäten oder Teilgruppen, die über bestimmte „natürliche“ Grenzlinien hinausragten, wurden zu anderen Nationen geschlagen — wie die Sudeten im böhmischen Becken, die Tiroler südlich des Brenners und die Slowenen nördlich der Karawanken.

Die „Staatsmänner“ der europäischen Verbündeten mußten die Entscheidungsgewalt Wilsons im westlichen Allianzsystem anerkennen, da die Ententestaaten dem amerikanischen Kapital aufgrund der Kriegskredite vollkommen verschuldet waren. Als Kapitalgeber konnten die Amerikaner im Hintergrund bleiben und die unmittelbare Profitwirtschaft ihren europäischen Verbündeten überlassen. Die Präsenz amerikanischer Interessen erschien „objektiv“ und „unengagiert“. Demgegenüber machten die europäischen kapitalistischen Staaten —etwa Frankreich im deutschen Kohlegebiet, oder Italien im Donaugebiet, oder England im Streben nach dem Freihandelsprinzip — leicht den Eindruck machtgieriger Gewaltpolitik. Die Pariser Friedensregelung spiegelt diese Auseinandersetzung von „US-Idealismus“ mit innereuropäischen Machtkämpfen wider, wobei nicht selten das „niedrige“ Motiv europäischer Kapitalisten den Sieg über das „höhere“ Motiv der Amerikaner den Sieg davontrug. [10]

Die US-Vertreter hatten in eigenen Kommissionen in Washington sämtliche Fragen der Friedensregelung monatelang beraten; [11] zur Überprüfung der schriftlich fixierten Studien und zur Sammlung neuen Materials schickte man Anfang Jänner 1919 den Geschichtsprofessor Archibald Cary Coolidge als Sonderbeauftragten Präsident Wilsons nach Wien. Bis Mai 1919 sandte er detaillierte Berichte über die neuen Donaustaaten an die US-Delegation bei den Friedensverhandlungen in Paris. Es gab kein Problem, das Coolidge nicht behandelt hätte. Lange vor seiner Kärnten-Berichterstattung schrieb er beispielsweise, daß die oberschlesischen Kohlenarbeiter zu Deutschland wollten, daß Österreich den Verlust von Südtirol niemals verschmerzen würde und daß sich die Deutschböhmen mit ihrem Wunsch, nicht zum tschechoslowakischen Staat zu kommen, auf Wilson beriefen. [12] Coolidges Aufgabe war es nicht, das Material unter dem Gesichtspunkt der gesamtpolitischen Lage zu beurteilen, er sollte nicht vorsortieren, sondern in breitester Form berichten. Die Entscheidung hatte die amerikanische Delegation in Paris. Coolidge sprach einmal davon, daß ein Brief an Santa Claus größere Chancen hatte, beantwortet zu werden, als ein Brief an Wilson. [13] Coolidges Berichte wurden jedenfalls dort, wo es die Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Verbündeten zuließen, zur Grundlage der US-Verhandlungsposition.

IV. Beispiel Burgenland

Daß Coolidges Berichte den Präsidenten Wilson beeinflußt haben, ist im Fall des Burgenlandes noch eindeutiger als im Fall Kärntens. Bald nach den ersten Kärntenberichten, am 29. Jänner 1919 referierte Coolidge über das Burgenland. [14]

Das heutige Burgenland war in der Monarchie ein Bestandteil Ungarns, die Grenze zwischen den beiden Reichshälften lief entlang der Leitha. Als im Frühsommer 1919 der ungarische Abschnitt der österreichischen Grenze auf der Friedenskonferenz behandelt wurde, drang Wilson mit seinem Wunsch nach Zusprechung Westungarns zu Österreich nicht zuletzt deshalb durch, weil er ständig auf die sachliche Information seines Wiener Vertreters zurückgreifen konnte. [15] Mit ausschlaggebend war der englische Chefdelegierte Lloyd George, der Wien aus Gründen der Finanzrivalität zwischen England und Italien um den Einfluß auf Neu-Österreich entgegenkommen wollte. Italien kam mit seiner Unterstützung Ungarns nicht durch, da die ungarische Räteregierung (März bis August 1919) nicht die Sympathien der Großmächte besaß. [16]

Anlaß für das erste Burgenland-Memorandum von Coolidge war der Besuch von drei westungarischen Deutschen, die ihm berichteten, daß die Bevölkerung dieses Gebietes durch das ungarische Regime daran gehindert werde, frei ihre Zugehörigkeit zu Österreich zu proklamieren. Der geringe Wehrwille der Burgenländer sprach demnach in den Augen der Siegermächte nicht gegen sie!

Zweifelsohne spielte das militärische Element in der Kärntenproblematik eine gewisse Rolle. In die Berichterstattung Coolidges gingen die Kärntner Kämpfe vom Jänner 1919 nur insofern ein, als hervorgehoben wird, daß die slowenischen Bauern die slowenischen Truppen nicht unterstützt hätten. [17]

Im Anschluß an die Grazer Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Kärntner und Slowenischer Landesregierung Ende Jänner 1919 befragten die Amerikaner unsystematisch die Bevölkerung und gewannen den Eindruck, daß ein Großteil der Slowenen Kärntens bei Österreich bleiben wollte. So kam man auf die geographische Einheit des Landes zurück, und darauf berief sich Wilson stets bei den weiteren Unterhandlungen. Das geographische Argument war schon in den Vorstudien in Washington aufgetaucht, daneben auch mehrmals das ethnographische Argument, ein Zeichen für das Schwanken der Fachleute und für ihre Bereitschaft, sich an Ort und Stelle über die Verhältnisse zu informieren.

Die Behauptung, ohne Abwehrkampf wäre keine günstige diplomatische Berichterstattung und keine Volksabstimmung gekommen, ist demnach ohne Basis, sowohl die Arbeitsweise der „Inquiry“ (Studienkommission) in Washington als auch dann diejenige von Coolidge an Ort und Stelle schließen ein Übersehen der objektiven Gegebenheiten in Kärnten vollkommen aus. Für die sachliche Information der Amerikaner waren die Abwehrscharmützel nicht notwendig. Hätte aber ein militärisches fait accompli accompli gegolten, dann wäre Kärnten von vornherein verloren gewesen — das Gesamtstärkeverhältnis zwischen österreichischer und jugoslawischer Militärmacht war eindeutig: als die jugoslawischen Kräfte Ende Mai/Anfang Juni 1919 voll eingesetzt wurden, blieb den Kärntnern nur schleunigste Flucht.

V. Diplomatische Tauschgeschäfte

Gleichfalls ohne Bedeutung war das militärische Argument in den Verhandlungen der Gebietskommission im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz, die Anfang März 1919 begannen. Es wurde nur ein einzigesmal von Seymour gebraucht, der ansonsten ausschließlich mit geographischen Überlegungen die Zuteilung Kärntens zu Österreich verfocht. [18] Er fand von Anfang an die volle Unterstützung der britischen Delegation, nicht aber bezüglich des Prekmurje (das nördlich der Mur gelegene slowenische Territorium östlich von Radkersburg, heute bei Jugoslawien), welches die amerikanische Delegation aus den gleichen Erwägungen, die sie für Kärnten vorbrachte (Unmöglichkeit der Schaffung einer haltbaren Grenze), Ungarn zuteilen wollte, obwohl sie wußte, daß seine Bevölkerung zum überwiegenden Teil slowenisch war. [19] Die Auseinandersetzung um die jugoslawische Nordgrenze entwickelte sich mehr und mehr zu einem Streitgespräch über die US-Kriterien der Grenzziehung überhaupt: die Engländer wandten sich gegen die schulmeisterlichen Geographievorstellungen der Amerikaner. Sie wollten den Jugoslawen das ethnisch zu Jugoslawien gehörende Gebiet Prekmurje nicht vorenthalten, wie die Amerikaner das in ihrem geographischen Dogmatismus verlangten, wobei die USA als Argument gebrauchten, es ließe sich nördlich der Mur keine geeignete natürliche Grenze finden. [20] Die US-Delegierten schlossen im Unterausschuß der Gebietskommission einen Kompromiß: Marburg zu Jugoslawien und dafür das Prekmurje zu Ungarn. Dann wurde zum erstenmal die Kärntner Grenze behandelt (Anfang März 1919). Es wurde im Unterausschuß ein grundsätzlicher Konsens erzielt, Kärnten bei Österreich zu belassen. Die genaue Ostgrenze war im Unterausschuß noch nicht fixiert: die englischen Unterhändler wollten das zum ehemaligen Kronland Kärnten gehörende Mießtal abtrennen, die amerikanischen nicht. Als nun der ganze nordjugoslawische Grenzabschnitt im Hauptausschuß der Gebietskommission behandelt wurde, kamen die beiden Delegationen (Amerikaner und Engländer) überein, den amerikanischen Prekmurjestandpunkt und den britischen Kärntenstandpunkt zu fixieren. Der Amerikaner Seymour schlug vor, das nördlich der Mur gelegene slowenische Gebiet Prekmurje aus geographischen Überlegungen bei Ungarn zu belassen; lieber war es ihm, Jugoslawien mit dem Mießbachtal abzuspeisen — wenn das geographische Begrenzungsprinzip schon durchbrochen werden mußte. Außerdem wurde von beiden Delegationen anerkannt, daß die Slowenen mehr Wert auf das Mießtal als auf das Prekmurje legten. Von Abwehrkämpfen war keine Rede. Die Kärntner verloren das Mießtal — endgültig, trotz der Kämpfe. Im Prekmurje gab es keine Kämpfe, und die US-Delegation entschied nach ihrem geographischen Prinzip. [21] Prekmurje blieb zunächst bei Ungarn.

Im Rapport Nr. II der Gebietskommission an den Obersten Rat (Conseil Suprême) der Pariser Friedenskonferenz vom 6. April 1919 erfolgte die Festlegung des gesamten Grenzabschnittes in der eben dargelegten Weise: Prekmurje zu Ungarn, Marburg zu Jugoslawien, das Klagenfurter Becken zu Österreich, wobei im letzteren Fall die Möglichkeit einer Volksbefragung in Erwägung gezogen wurde. [22] Der Conseil Suprême bewilligte nach längeren Beratungen am 12. Mai 1919 das Plebiszit für Kärnten. [23]

Die — wie Wilson sie nannte — „Insistenz“ der Jugoslawen erforderte ein neuerliches Überdenken der ganzen Materie. [24] Die Amerikaner mußten gegen ihre Überzeugung nachgeben und Prekmurje den Jugoslawen überlassen. [25] Eine genaue Analyse ihrer Motive würde zu weit abführen.

Es war Wilson und seinen Beratern zu verdanken, daß Südkämten, die spätere Abstimmungszone A, nicht ohne Abstimmung Slowenien zugesprochen wurde, wie die Franzosen und Engländer forderten, sondern der Gedanke der Volksabstimmung beibehalten wurde. Dieses Plebizist sollte in zwei Zonen stattfinden. In Kärnten wollte Wilson keinesfalls vom geographischen Argument abrücken, unter anderem weist er am 26. Mai 1919 auch auf das Beispiel Südtirol hin, als direktes Vorbild für die Kärntenlösung: geographische Einheit durch Brennergrenze. [26]

Wenn das militärische Argument der Kärntner stimmt: Was wäre für Wilson näher gelegen, als bei dieser Gelegenheit den für Kärnten positiven Ausgang der Abwehrkämpfe von Anfang Mai ins Spiel zu bringen? Statt dessen äußert sich der amerikanische Präsident mehrmals ausgesprochen mißbilligend über den neuerlichen Ausbruch der Kämpfe, die er auf die Unsicherheit bezüglich der staatsrechtlichen Zukunft des Landes zurückführt. Der Ausgang der Kämpfe ließ die Verhandler in Paris vollkommen gleichgültig. Umgekehrt: der diplomatische Mißerfolg der Slowenen dürfte die slowenische Offensive in Kärnten vom 29. Mai 1919 ausgelöst haben.

In der nationalistischen Argumentation der Zwischenkriegszeit wird auch die Zuteilung von Radkersburg zu Österreich auf Abwehrkämpfe zurückgeführt. Im August 1919 hatten nämlich in dieser südsteirischen Stadt Auseinandersetzungen stattgefunden. Auch hier ist das militärische Argument falsch. Die Stadt war am 8. Juli 1919 gemeinsam mit dem Prekmurje Slowenien zugesprochen worden, da die Jugoslawen sie als Hauptort des Territoriums bezeichneten. [27] Aufgrund der Gegenvorstellungen der Österreicher hatte eine Unterkommission der Konferenz beschlossen, sowohl für Radkersburg als auch für Marburg eine Volksabstimmung zu verlangen. Im Obersten Rat der Pariser Konferenz wurde Ende August 1919 die Frage des längeren behandelt und mit dem Beschluß entschieden, in Marburg keine Abstimmung zu gestatten, und dafür Radkersburg zu Österreich zu geben. Durch die Marburg-Abstimmung wäre, wie der britische Chefdelegierte Balfour erklärte, das gesamte Agreement bezüglich der österreichisch-jugoslawischen Grenze zerstört worden. [28] Die im August 1919 stattgefundenen Kämpfe hatten demnach keinen Einfluß auf die für Österreich günstig ausgefallene Entscheidung.

VI. Die Abstimmung

Als die Kärntner und Wiener Verbände im Mai 1919 die jugoslawischen Truppen aus Kärnten drängten, kam es zu unliebsamen Übergriffen gegen jene Kärntner Siowenen, die mit den „fremden Truppen“ sympathisiert hatten. Dies wurde selbst von Kärntner Seite zugegeben: „Es ist ein trauriges Kapitel dieser sonst so erfreulichen Abwehrkämpfe, daß in den vielen von unseren Kämpfern eingenommenen Orten leider wiederholt Plünderungen vorkamen, welche den späteren Abstimmungsarbeiten viel schadeten.“ [29] Insbesondere „ist es gewiß bemerkenswert, daß die meisten Pfarrhöfe des besetzt gewesenen Gebietes der Volkswut zum Opfer fielen“. [30] Der österreichische Staatssekretär für Äußeres Otto Bauer trug Sorge, daß die von Aktionen der Volkswut „betroffenen Kirchen möglichst feierlich wieder eingeweiht werden“. [31]

Andere Faktoren, die den Ausgang der Abstimmung beeinflußt haben, waren: Die alte administrative Einheit des Landes, die wirtschaftliche Abhängigkeit der Südkärntner vom Klagenfurter Zentrum und das emotionale Zugehörigkeitsgefühl der Slowenen zu Kämten (nicht allerdings zu „Großdeutschland“). Den größten Einfluß hatte aber das Faktum, daß es auch um eine Abstimmung zwischen Republik und Monarchie ging, ein Argument, dessen sich die Sozialdemokraten bedienten und das für viele Slowenen ausschlaggebend war. [32]

Das Resultat der Abstimmung vom 10. Oktober 1920 enthält auch politisch-moralische Implikationen. In der Zone A (Distrikte Rosegg, Ferlach, Bleiburg und Völkermarkt) wohnten 1910 43,6 Prozent Deutschsprachige und 56,4 Prozent Slowenen; die „elsässische“ Haltung eines Großteils der Slowenen brachte ein Gesamtabstimmungsergebnis von 59,04 Prozent für Österreich und 40,96 Prozent für Jugoslawien. Mithin wollten zwei Fünftel der Südkärntner oder 15.279 Wahlfähige nicht bei Österreich verbleiben. [33]

Noch gravierender fallen die für Jugoslawien abgegebenen Stimmen ins Gewicht, wenn man die Abstimmungsergebnisse im Detail betrachtet. Die Distrikte Rosegg und Bleiburg stimmten mehrheitlich für Jugoslawien, das günstige Ergebnis in der Gesamtzone A wird nur durch die Zahlen für Völkermarkt verständlich. Südlich der Drau entfielen 10.355 Stimmen auf Österreich und 10.799 Stimmen auf Jugoslawien, was einen wenn auch geringen Vorsprung der slowenischen Stimmen ergibt.

Angesichts eines solchen durch eine Kette von Zufälligkeiten zugunsten Österreichs ausgegangenen Abstimmungsverhältnisses hätten Wien und Klagenfurt seit 1920 allen Grund gehabt, den für Österreich stimmenden Slowenen ihre Einstellung zu honorieren und die für Jugoslawien stimmenden Slowenen durch großzügiges Entgegenkommen zu überzeugen.

Stattdessen versteigen sich Kärntner Traditionsträger zu der ungeheuerlichen Feststellung anläßlich der Abstimmungsfeiern: „Die Slowenen waren daran 1920 sozusagen nicht direkt beteiligt. Sie sind ihren eigenen Weg gegangen. Das war absolut ihr Recht. Sie können daher auch heute nicht mitfeiern. Mitfeiern werden die Windischen, die auch 1918/1920 auf unserer Seite standen.“ [34] Nicht einmal die Einsicht, daß es doch ein Zufall war, daß Moskau bei den Staatsvertragsverhandlungen nach dem Bruch mit Jugoslawien die slowenischen Gebietsforderungen in Unterkärnten nicht mehr unterstützte, dämpft die völkischen Ressentiments der Abwehrkämpfer in dritter Generation. Statt die proösterreichische Haltung der Slowenen bei der Abstimmung herauszustreichen und die Pflichten des Mehrheitsvolkes gegen die Minderheit zu betonen, wird bei den Abstimmungsfeiern der „heldenhafte Kampf“ der Kärntner gegen die slowenischen „Eindringlinge“ gepriesen.

VII. Überwindung der Abwehrpsychose

Fromme Aufforderungen an Kärntner Verantwortliche gehen allerdings an der realen Funktion vorbei, welche die Abwehrkampfideologie in Unterkärnten hat. Diese Ideologie stand immer im Zeichen einer konkreten antislowenischen Politik. Ihre aggressivste Form nimmt sie an, sobald sich Chancen eröffnen, über die derzeitigen Grenzen Kärntens hinauszugreifen und den Bestand der Minderheit als solcher infrage zu stellen. In solchen Perioden arbeitet sie mit dem gesamtdeutschen Gefühl und der Kärntner Leistung für das Reich; so appellierten beispielsweise der Kreisleiter Dr. Pachneck und die Gauleitung Kärnten der NSDAP durch Pg. Maier-Kaibitsch 1940 an das Auswärtige Amt in Berlin, das Mießtal und das (reinslowenische) Dreieck von Jesenice Kärnten zuzuteilen. [35]

Die „Urangst um den Bestand der Kärntner Grenze“ wird mobilisiert, wenn das allgemeine politische Ziel zurückgeschraubt werden muß. Der territorialen Defensivideologie entspricht das politische Programm der Assimilierung der in Kärnten verbliebenen Slowenen.

Landesarchivdirektor Wilhelm Neumann hat recht: Die Beweisführung, daß der Abwehrkampf für die Plebiszitentscheidung unbedeutend war, „müßte das Geschichtsbewußtsein des Landes tief berühren“. [36] Dieser Beweis würde eine bestimmte Politik in Frage stellen. Diese Politik wiederum bedarf keiner Beweise. Sie begründet sich selbst mit dem Argument, daß nicht sein kann was nicht sein darf. Wenn „Wissen“ eine Folge der „Haltung“ ist, der Einstellung, und nicht umgekehrt, bestehen wenig Chancen zu einer Neubewertung des Abwehrkampfes durch Kärntner Historiker.

Dies belegt auch die Arbeit von Claudia Kromer, die dort, wo sie interpretiert, einen Teil der eigenen Forschungsergebnisse unbewußt ignoriert. Ein Fortschritt des Kärntner Geschichtsbewußtseins wird erst zu erzielen sein, wenn die Motive für die „Urangst um den Bestand der Kärntner Grenze“ selbst aufgeklärt sind. Diese „Urangst“ resultiert aus dem schlechten Gewissen, das die Germanisierungsbestrebungen begleitet.

Eine die Rechte der Minderheit befriedigende Politik, deren Leitlinien bereits in internationalen Verträgen fixiert sind, wird nur Erfolg haben, wenn sie sich nicht von dieser Urangst ins Bockshorn jagen läßt, konkret, wenn sie nicht vor den Forderungen der nationalistischen Kreise Kärntens zurückweicht.

[1Wilhelm Neumann: Abwehrkampf und Volksabstimmung in Kärnten 1918—1920. Legenden und Tatsachen. Klagenfurt 1970, S. 16 (Das Kärntner Landesarchiv, 2).

[2Martin Wutte: Kärntens Freiheitskampf, 2. Aufl., Weimar 1943 (Kärntner Forschungen).

[3Ebenda, S. XI. In gleicher Weise äußert sich der Kärntner Siegmund Knaus: Freiheitskämpfe in Deutschösterreich. Kärntner Freiheitskampf. 2. Teil. Berlin 1942, S. V. Den Kampf Kärntens für „Großdeutschland“ stellte Wutte in seinem 1940 in der Zeitschrift Carinthia I erschienenen Beitrag: „Der gesamtdeutsche Gedanke in Kärnten“ detailliert dar, wobei er auch auf „Leistungen“ vor 1918 verweist.

[4Wutte, a.a.O., S. 253-284; zur Stärke, Ausrüstung und Aktivität der Kärntner Verbände siehe Erwin Steinböck: Die Volkswehr in Kärnten unter besonderer Berücksichtigung des Einsatzes der Freiwilligenverbände. Wien, Graz 1963. (Publikationen des österr. Instituts für Zeitgeschichte, 2.) Für weitere Studien vgl. Josef Höck: Schrifttumshinweise zur „Kärntner Frage“ (Abwehrkampf — Volksabstimmung — Minderheit). In: Südkärnten. Beiträge zur Geschichte, Kultur und Landschaft. Klagenfurt 1970, S. 83 (Kärntner Museumsschriften. L.).

Die jüngste und umfassendste Untersuchung dieses Problems von slowenischer Seite: Koroški Plebiscit. Razprave in članki. Uredili Janko Pleterski, Lojze Ude, Tone Zorn. Ljubljana 1970 (mit kurzen deutschen Resumées).

[5Wutte, S. 242.

[6Claudia Kromers Buch erschien 1970 in Klagenfurt in der Reihe „Aus Forschung und Kunst“.

[7Kromer, S. 111.

[8Ebenda, S. 181.

[9Zur Problematik des „Selbstbestimmungsrechtes“, dem Prinzip, nach dem die neuen demokratischen Staaten in Mittel- und Osteuropa errichtet werden sollten, vgl. Georg E. Schmid: Selbstbestimmung 1919. Anmerkungen zur historischen Dimension und Relevanz eines politischen Schlagwortes. In: Versailles — St. Germain — Trianon. Umbruch in Mitteleuropa vor 50 Jahren. Hrsg. K. Bosl. München 1971.

[10Seth P. Tillman: Anglo-American Relations at the Paris Peace Conference of 1919. Princeton 1961.

[11Lawrence Gelfand: The Inquiry: American Preparation for Peace, 1917-1919. New Haven 1963.

[12Papers Relating in the Foreign Relations of the United States. The Paris Peace Conference, 1919 (US-Aktenausgabe in 13 Bänden, Washington 1942-1947). Band 2, S. 227-236.

[13Georg E. Schmid: Die Coolidge-Mission in Österreich 1919. Zur Österreichpolitik der USA während der Pariser Friedenskonferenz. In: Mitteilungen des Österr. Staatsarchivs 24 (1971), S. 467.

[14Hanns Haas: Anmerkungen zur Burgenlandfrage auf der Pariser Friedenskonferenz. In: Burgenländische Heimatblätter 1971, S. 99-100.

[15Jon d. Berlin: Die Rolle der amerikanischen Diplomatie in der Burgenlandfrage, 1919-1920. In: Österr. Osthefte 14 (1972), S. 292-295.

[16Robert Hoffmann: Die Mission Sir Thomas Cuninghames in Wien. Britische Österreichpolitik zur Zeit der Pariser Friedenskonferenz. Phil. Diss. Salzburg 1971, S. 135. Enzo Santarelli: Italia e Ungheria nella crisi postbellica (1918-1920). Urbino 1968.

[17Bericht von Miles und King vom 7.2. an Coolidge. Foreign Relations, Band 12, S. 507.

[18Recueil des actes de la Conférence. Conférence de la Paix. (Französische Aktenausgabe in 44 Bänden, Paris 1923 ff.) IV, C, 4: Commission des affaires Roumaines et Yugo-Slaves, Sitzung vom 2.3.1919, S. 78.

[19Ebenda, S. 78-79.

[20Ebenda, S. 138.

[21Ebenda, S. 139.

[22Ebenda, S. 221-263.

[23Foreign Relations, Band 4, S. 502.

[24Aus dem Protokoll der Sitzung des Rates der Vier von Paul Mantoux: Les Délibérations du Conseil des Quatre. Notes de l’Officier Interprète. Paris 1955, Band 2, S. 218.

Kromer neigt dazu, auch dem italienischen Verlangen nach Herstellung einer direkten, nicht durch jugoslawisches Territorium unterbrochenen Bahnverbindung Triest—Jesenice—Klagenfurt eine entscheidende Bedeutung für das Wiederaufgreifen des Problems beizumessen. Zweifelsohne komplizierten die italienischen Unterhändler durch ihre Forderung, daß das Dreieck von Jesenice Österreich zugesprochen werden sollte, die Verhandlungen, doch die US-Delegierten waren zu keinem Zeitpunkt bereit, auf diesen Vorschlag einzugehen. Ausschließlich auf jugoslawisches Verlangen wurden den Österreichern die Klagenfurt-Bestimmungen im ersten Friedensvertragsentwurf vom 2. Juni vorenthalten.

[2520.5.1919. Recueil IV, C, 4, S. 305.

[26Mantoux, a.a.O., S. 219.

[27Foreign Relations Band 7, S. 62 und 75-76.

[28Ebenda, Bände 7 und 8 für die Zeit vom 25. August bis 2. September.

[29Hans Lagger: Abwehrkampf und Volksabstimmung. Klagenfurt 1920, S. 52.

[30„Bericht über die Ereignisse in Unterkärnten während der Besetzung und nach dem Abzuge der Südslawen“ des Nationalpolitischen Ausschusses in Klagenfurt, Landhaus, 20. Mai 1919. Wien, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akt der Staatskanzlei 2322 ex 1919.

[31Otto Bauer an die Staatskanzlei, 16.5.1919. Staatskanzlei (wie unter 30).

[32Siehe dazu die Dissertation von Thomas Pluch: Das Kärntner Plebiszit des Jahres 1920. (Die öffentliche Meinung Kärntens nach dem Ersten Weltkrieg, untersucht im Hinblick auf die Alternative des Plebiszites vom 10. Oktober 1920.) Wien 1927.

[33Alle Daten nach Wutte, S. 471-472.

[34„Südpress“ Pressedienst der Arbeitsgemeinschaft für Südkärnten. Nr. 124, 16.12.1969, S. 5 (Hg. Österreichische Landsmannschaft, Wien).

[35National Archives, Washington, Microcopy N. T-120/1536/D 653115-27.

[36Wilhelm Neumann, Abwehrkampf und Volksabstimmung, S. 14.

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)