FORVM, No. 94
Oktober
1961

Kein Brückenschlag in Belgrad

Ergebnisse und Versäumnisse der Neutralisten-Konferenz

Es war nicht nur eine ungewöhnliche Schau, zu der sich ein Kaiser, zwei Könige, mehrere Prinzregenten, eine Anzahl kommunistischer, nationalistischer und anderer Diktatoren samt einer großen Zahl von Ministern in Belgrad eingefunden hatten. Das politische Gewicht dieser Tagung ergab sich daraus, daß von 99 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen immerhin 24 daran teilnahmen und daß ein bedeutsamer Kandidat für die Mitgliedschaft (Algerien) zur Stelle war. Die Belgrader Konferenz eine Tagung der Neutralen zu nennen, wie das in manchen Berichten geschehen ist, wäre dennoch eine Übertreibung. Von den europäischen blockfreien Staaten war nur Jugoslawien dabei. Die Schweiz, Schweden, Österreich, Irland, Finnland fehlten. Man hatte sie durch einen Beschluß, der einige Monate früher auf einer Vorkonferenz in Kairo gefaßt worden war, von der Einlade-Liste gestrichen, weil von ihnen keine Beteiligung an Demonstrationen gegen den „kapitalistischen Kolonialismus“ zu erwarten war, und solche Demonstrationen gehören nun einmal zum Ritus aller Veranstaltungen mit Mehrheiten aus den ehemals kolonialen und halbkolonialen Gebieten. Was als Kolonialismus, insbesondere als „Neokolonialismus“ zu gelten hat, bleibt ziemlich offen. Ein erfahrener Amerikaner definierte in Belgrad: „Neokolonialismus liegt vor, wenn wir den Entwicklungsländern Kredithilfe, Handelsverbindungen oder militärische Unterstützung gewähren, oder wenn wir all dies zu gewähren ablehnen.“

Übrigens fehlten in Belgrad nicht wenige Entwicklungsländer, zumal westafrikanische und lateinamerikanische, darunter auch solche, die ebenfalls blockfreie Politik betreiben wollen. Die Teilnehmer waren anderseits nicht nur aus dem Bereich der antikolonialen Länder rekrutiert worden, die sich fünf Jahre früher in Bandung zusammengefunden hatten, wo auch Staaten des Ostblocks wie China oder westlich orientierte Bündnispartner wie Pakistan vertreten waren. Jedenfalls gehören die Belgrader Konferenzteilnehmer allesamt zum radikalen Flügel der Neutralen, wobei sich sozialradikale und nationalradikale Strömungen zusammenfanden.

Was war der Zweck der Übung? Keine Gründung eines neutralen Blocks zwischen den Blöcken, wurde nachdrücklich versichert. Das ist auch glaubhaft, denn weder militärisch noch wirtschaftlich können diese großen und kleinen Staaten einander viel helfen. Die meisten von ihnen holen sich Kredite und Exportgewinne im Westen wie im Osten und sehen gerade darin einen Hauptvorteil ihrer Blockfreiheit. Wenn sie an eine von West und Ost unabhängige gemeinsame Politik denken, haben sie in erster Reihe ein einheitliches Auftreten im Kreise der Vereinten Nationen und in anderen internationalen Gremien im Auge.

In der Vollversammlung der UNO hatte sich eine solche blockfreie Fraktion in loser Form schon früher gebildet, ohne stets fest zusammenzuhalten und ohne etwa bei jeder Gelegenheit alle Delegationen um sich zu sammeln, deren Staaten außerhalb der westlichen und östlichen Bündnisse geblieben sind. Die Zusammenarbeit dieser Gruppe durch ein Treffen ihrer leitenden Männer stabiler zu gestalten, war zweifellos die Absicht der Organisatoren aus Belgrad, Kairo und Djakarta. Sie konnten es bereits als beträchtlichen Erfolg buchen, daß nach einigem Zögern auch Nehru sich bereit fand, an den Beratungen teilzunehmen. Er schien lange die Anwendung des Satzes vorzuziehen, daß der Starke am mächtigsten allein sei, ließ sich aber schließlich durch die Hoffnung locken, daß er in diesem Kreise eine wenn nicht dominierende, so domestizierende Rolle spielen könnte. Diese Annahme bewährte sich mindestens insoweit, als nichts beschlossen wurde, was Nehru für unzweckmäßig erklärte, und daß jenen Verhandlungsthemen der größte Nachdruck gegeben wurde, die er als die dringlichsten erklärte. Dazu gehört nach Meinung des Inders die Kolonialfrage gegenwärtig nicht mehr, da die Liquidierung der ehemaligen Herrschaftsgebiete des weißen Mannes in fremden Erdteilen schon weit fortgeschritten ist und auch ohne starke Nachhilfe der bereits befreiten früheren Kolonialvölker in raschem Tempo weitergeht.

Erfolg für Chruschtschew

Was Nehru von Belgrad aus in Bewegung setzen wollte, war vor allem eine Aktion der Blockfreien gegen die Verschärfung der unmittelbaren Kriegsgefahr zwischen West und Ost und gegen die Drohung, daß dadurch die Geschichte der ganzen Menschheit aufs Spiel gesetzt werden könnte. Da er selbst unmittelbar nachher eine Zusammenkunft mit Chruschtschew auf dem Terminkalender hatte (später soll auch ein Treffen mit Kennedy folgen), wollte er sich in Belgrad noch eine breitere Autorisierung für seine Versuche geben lassen, die auf Abtasten und Fördern aller Entspannungsmöglichkeiten hinauslaufen.

In dieser Beziehung waren die langen Beratungen der blockfreien Staats- und Regierungshäupter nicht allzu ergiebig. Chruschtschew hatte es so eingerichtet, daß seine Ankündigung, die Sowjetunion wolle ihre Kernwaffenversuche wiederaufnehmen, unmittelbar am Vorabend der Konferenz veröffentlicht wurde. Die Reaktion war in Belgrad weder einheitlich noch stark. Nehru sprach zwar offen sein tiefes Bedauern aus, und auch Nasser erklärte sich schwer schockiert. Tito aber fand den Moskauer Beschluß und seine Begründung „verständlich“ und bedauerte nur den Zeitpunkt. Die mit solcher Milde akzeptierte Moskauer Erklärung enthielt immerhin die Behauptung, der Westen habe die Absicht, die Sowjetunion und den ganzen Ostblock anzugreifen! Einen ersten Test hatte Chruschtschew also schon mit der bloßen Ankündigung der neuen Kernwaffenversuche durchgeführt, und zwar mit Erfolg. Die Belgrader Blockfreien konnten sich nicht einmal zu einem einheitlichen Protest aufraffen.

Es scheint freilich, daß Tito nachträglich doch begriffen hat, wie sehr er mit seiner schwächlichen, wenn nicht gar Moskau gefälligen Haltung in diesem Punkt sich selbst und der ganzen Gruppe seiner neutralen Freunde geschadet hat. Im eigenen Land gab es, sogar in der Öffentlichkeit, einige um mehrere Nuancen schärfere Reaktionen auf diesen Schachzug der Sowjetpolitik, und im gesamten Westen geriet Tito zum erstenmal wieder in ein ziemlich schiefes Licht. In zwei Interviews für italienische Linksblätter versuchte er nachträglich darzulegen, daß sein „Verständnis“ für den Moskauer Beschluß durchaus keine Billigung bedeute. Auch schickte er zur Vollversammlung der Vereinten Nationen unmittelbar hinterher nicht mehr seinen Außenminister Koča Popović, welcher zu der unglückseligen Konferenzrede geraten hatte, sondern den vorsichtigeren und für die Psychologie des Westens aufgeschlossenen kroatischen Unterführer der Partei, Vladimir Bakarić, welcher auf der Belgrader Konferenz als rechter Flügelmann Titos fungierte.

Niederlage für Ulbricht

Nehrus Bemühungen, die Kriegsgefahr und ihre Ursachen in den Vordergrund zu schieben, führten zu einer Konzentration der Belgrader Reden auf das Deutschland-Problem. Das kam dem jugoslawischen Präsidenten sehr gelegen. Nach seiner vor drei Jahren vollzogenen Anerkennung der Ostberliner Regierung steht ihm nun bevor, daß er im Falle eines einseitigen Friedensschlusses zwischen der Sowjetunion und ihrem deutschen Satellitenstaat eingeladen wird, sich daran zu beteiligen. Und er hätte kein plausibles Argument, dies abzulehnen. In der Sache ist Jugoslawien ja bereits festgelegt, in der Form aber wäre ihm ein isoliertes Auftreten an der Seite des Ostblocks höchst unwillkommen. So suchte Tito für seine Anerkennung der Ostberliner Regierung gewissermaßen neutrale Komplicen. Aber nur wenige Teilnehmer der Konferenz sprachen sich in seinem Sinn für die juristische Anerkennung des Ulbricht-Staates aus. Die meisten begnügten sich damit, die Berücksichtigung des faktischen Vorhandenseins eines solchen Gebildes bei der Entwirrung der deutschen Frage zu empfehlen. In der Schlußresolution wurde das Deutschland-Problem nur ganz allgemein behandelt und seine Lösung ohne Anwendung von Gewalt gefordert. Nehru wies darauf hin, daß eine Anerkennung des Ostzonen-Staates durch weitere Regierungen in diesem Augenblick die Verhandlungen zwischen West und Ost nur erschweren könnte. Er deutete dabei an, daß wahrscheinlich auch der Westen in den kommenden Auseinandersetzungen sich zu einer de facto-Anerkennung verstehen würde.

In Übereinstimmung mit den Vorstellungen mancher angelsächsischer Politiker waren die Belgrader Neutralen, wenn sie bezüglich der Sicherheit und der Verbindungswege Westberlins westdeutschen Wünschen näher kamen als bezüglich der Behandlung des Deutschland-Problems in seiner Gesamtheit. Sie konnten sich allerdings mit der Forderung nach Offenhaltung des freien Zugangs nach Westberlin auch auf öffentliche Versprechungen Chruschtschews berufen. In Kulissengesprächen zeigten viele Delegationsführer immerhin Verständnis dafür, daß mit dem freien Zugang nach Westberlin die Existenzgrundlagen dieser isolierten Stadt noch nicht gesichert sind. Ein Staatsmann wie Nehru ließ sich in solchen Gesprächen die Rechtsgrundlagen der Verbindung zwischen Westberlin und der Deutschen Bundesrepublik erklären. Er fand sie widerspruchsvoll und meinte, es bedürfte einer Koordinierung der staatsrechtlichen mit den von den Siegermächten aufgestellten völkerrechtlichen Normen oder aber einer völligen Neufassung durch Verhandlungen. Ein solches Abtasten weiterer Verhandlungsmöglichkeiten über Berlin zeigte, daß führende Politiker unter den Belgrader Blockfreien den Plan Chruschtschews für die Freie Stadt Berlin nicht etwa als der Weisheit letzten Schluß betrachten und daß sie überzeugt sind, daß bei Verhandlungen über eine Neuregelung noch Wesentliches herauszuholen sei.

Zwischen Israel und Angola

Obwohl die Kolonialfrage hiedurch etwas in den Hintergrund rückte, kam sie dann in den Entschließungen zu genauerer und schärferer Behandlung als das deutsche Problem, welches den meisten Afrikanern und Asiaten oder auch Lateinamerikanern im Detail wenig vertraut ist. Dabei ließ sich ein geschickter Taktiker wie Nasser seine Zurückhaltung in den zwischen Ost und West strittigen Fragen durch Zustimmung zu seinen arabischen Sonderwünschen bezahlen. Es gelang ihm, Gründung und Existenz des Staates Israel als eine Art Kolonialproblem behandeln zu lassen und seine bekannte Forderung nach Rückführung aller arabischen Flüchtlinge auf israelisches Staatsgebiet durch eine Empfehlung der Konferenz abzudecken. Große praktische Bedeutung werden weder diese Forderung noch die Proteste gegen die Kolonialpolitik Frankreichs in Algerien und Tunesien sowie Portugals in Angola haben. Bezeichnenderweise schloß der wendige tunesische Staatschef Bourguiba wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Belgrad ein neues Interimsabkommen mit Frankreich über den umkämpften Stützpunkt Bizerta.

Der Kampfplatz, auf dem solche Fragen von den blockfreien Staaten weiterhin gemeinsam behandelt werden können, ist die Vollversammlung der Vereinten Nationen samt den anderen Organen der Weltorganisation. Die große Frage, ob dieses Instrumentarium in Zukunft noch anwendbar bleibt, wird durch den tragischen Tod Hammarskjölds überschattet. Während der Belgrader Konferenz waren die Antworten der neutralen Politiker auf diese Frage noch ziemlich optimistisch. Fast keiner von ihnen sprach sich für Chruschtschews Vorschlag einer Dreiteilung des UNO-Generalsekretariats und anderer Exekutivorgane der Völkergemeinschaft aus. Selbst ein Kommunist wie Tito ging nur so weit, einen Kompromißvorschlag zu empfehlen, wonach dem Generalsekretär künftig fünf Untersekretäre mit erweiterten Rechten beizugeben seien. Gegen den Troika-Plan Moskaus wandte sich mit besonders einleuchtenden, auf die eigenen Erfahrungen seines Landes gestützten Argumenten der Ministerpräsident der Zentralregierung des Kongo-Staats, Adoula, welcher die Notwendigkeit einer einheitlichen und starken ausführenden Gewalt für die internationale Weltorganisation darlegte.

Die Blockfreien begreifen fast alle, daß eine Aufspaltung und Schwächung der UNO-Exekutive eine Verminderung ihres eigenen Einflusses und eine Gefährdung des Schicksals ihrer Länder bedeuten würde. Ein künftiger Generalsekretär oder ein von der Weltorganisation einzusetzender Kontrolleur für Abrüstungsmaßnahmen könnte nach dem heutigen Stand der Dinge immer nur ein Neutraler sein. Müßte dieser seine Entscheidungen und Handlungen mit je einem Kollegen aus West und Ost abstimmen, dann würde dies nicht nur das Funktionieren der Weltorganisation in Frage stellen, sondern auch das Betätigungsfeld der Neutralen einengen.

Wie einige Interviews mit westlichen Besuchern erkennen ließen, unternahm Chruschtschew während der Belgrader Konferenz den Versuch, von seinem Troika-Vorschlag abzurücken. Seit dem Tod Hammarskjölds hat er jedoch seine alte Stellung in dieser Frage wieder eingenommen. Er ist wohl kaum einer Meinung mit den chinesischen Kommunisten, welche nach der Konferenz in ihrer Presse Nehru als Mitläufer des Westens angriffen. Aber er hat auch keinen Grund, den blockfreien Staaten nach dieser Generalprobe für ihr künftiges Auftreten mehr Sympathie oder auch nur höheren Respekt als vorher zu erweisen. Was seine Stärke gegenüber dem Westen betrifft, glaubt er im derzeitigen geschichtlichen Augenblick eine leichte Überlegenheit des Ostblocks in Rechnung stellen zu können; in seinen Augen besitzt er einen kleinen Vorsprung auf dem Spezialgebiet der Kernwaffen- und Raketenrüstung sowie eine Reihe von Positionsvorteilen, etwa in Berlin. Allen Anzeichen zufolge strebt er daher nach einer direkten Auseinandersetzung mit dem Gegenblock. Eine dritte Gruppe einzuschalten, fühlt er sich nicht genötigt. Auf einzelne blockfreie Staaten nimmt er gewiß Rücksicht, vor allem auf Indien, dessen Existenz es ihm erspart, in Asien nur mit den Chinesen rechnen zu müssen. Im Weltmaßstab jedoch erwartet ervon den Neutralen keinen Nutzen.

Man hat dem amerikanischen Außenminister Dulles nachgesagt, er habe seine Politik gegenüber den Neutralen nach dem Bibelspruch „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich“ (Lukas 11, 23) betrieben. Erst später habe er auch jene andere Evangelienstelle entdeckt, die da sagt „Wer nicht wider uns ist, der ist für uns“ (Lukas 9, 50). Anders als sein Vorgänger Stalin und sein Kollege Mikojan ist Chruschtschew kein studierter Theologe. Aber die bibelkundigen unter den Belgrader Delegationsführern hatten das düstere Gefühl, seine Auffassung von den Neutralen habe sich gerade in entgegengesetzter Richtung entwickelt, als dies bei Dulles der Fall war.

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