FORVM, No. 94
Oktober
1961

Kelsen und das Naturrecht

Viele Rechtsgelehrte, Rechtskundige, Diplomaten und Staatsmänner nennen Hans Kelsen den größten Juristen der Gegenwart, bezeichnen ihn als einen der prägenden Rechtsdenker der Geschichte. Manche bestreiten dies leidenschaftlich, und andere schweigen; diese und jene scheuen sich aber nicht, Wesentliches seiner Theorie heimlich zu übernehmen. Etliche polemisieren gegen ihn, ohne eine Zeile von ihm gelesen zu haben. Andere zitieren hiebei nur das, was ihnen gerade paßt.

Wie das Gesetz, so hat der Ideenbau des Theoretikers einen objektiven Sinn, eine „überschießende Bedeutung“, das heißt: einen Sinn, der über den subjektiven Sinn, den der Autor dem Opus beilegt, hinaus schießt in die ungewisse Weite. Darin gründet die Erscheinung, daß von der Lehre eines überragenden Denkers ganz verschiedene Schulen ausgehen können. Ob in Kelsens Schrifttum vollkommene Folgerichtigkeit waltet, ist, für die Sachproblematik, die er aufwirft, unerheblich. Heute liefert seine Fragestellung den zuverlässigen Grund für die thematische Entfaltung des Rechts schlechthin. Die geistesgeschichtliche Konstellation der Gegenwart ist ihm heute günstiger als 1910, im Publikationsjahr seines großen Erstlingswerkes „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“. Freilich muß man zunächst die Mißverständnisse, Entstellungen und Sinnunterschiebungen aufklären, mit denen Kelsens theoretische und praktische Gesamtleistung belastet ist. Dann erledigt sich ein gewichtiger Teil der Vorwürfe, die gegen ihn erhoben werden.

Von der Theorie zur Praxis

Kelsens Werk bietet wenig Sicherheit dagegen, daß man dem einen oder andern Riß im Lehrgebäude auf die Spur kommt, aber es ist von erstaunlicher Folgerichtigkeit, welche Gedanken und Gestalt, Idee und Institution unlöslich verbindet. Die praktischen Konsequenzen, die Kelsen aus seinem theoretischen Konzept gezogen hat, präsentieren sich als ein großartiger, fortschrittlicher und zeitbildender Wurf, welcher in der Geschichte Europas seinesgleichen sucht. Mag sein, daß der Wiener Meister unbewußt — vom Idealismus Kant’scher und neukantianischer Observanz kommend — in die Reichweite des dialektischen Materialismus geriet und der Strahlkraft des Dogmas der Einheit von Theorie und Praxis anheimfiel. Doch was immer es sein mochte, es war eine Sternstunde, da die Frucht solchen Einheitswirkens im Entwurf zur österreichischen Bundesverfassung Gestalt annahm: die Verfassungsgerichtsbarkeit. Der Jubilar selbst nannte sie unlängst, anläßlich der akademischen Feier im Kleinen Festsaal der Wiener Universität, wo ihm das Ehrendoktorat der Staatswissenschaften verliehen wurde, sein „liebstes Kind“. [1]

Die Verfassungsgerichtsbarkeit in allen ihren Erscheinungsformen, namentlich die Normenkontrolle und der Grundrechtsschutz, verwirklichen auf vollkommene Weise Kelsens reine Lehre des Rechts und dessen Theorie des Staates als Rechtsphänomen. Worum sämtliche ontologisch-kosmologisch orientierten Naturrechtslehren zweieinhalb Jahrtausende gerungen batten, vollzog der Autor der Reinen Rechtslehre in den Institutionen der österreichischen Bundesverfassung: den Gedanken einer rechtswirksamen Garantie der Rechtsgebundenheit aller Staatsgewalt. Die Garantie hat die Form der gerichtsförmigen Rechtskontrolle. Die Rechtsgebundenheit der Staatsgewalt ist nicht nur auf der unteren Ebene der Vollziehung, Rechtsprechung und Verwaltung, sondern auch auf der höheren Rangstufe der Gesetzgebung als Rechtserzeugung verbürgt.

Vom Rechtsstaat ...

Mit dem Problem der Rechtsgebundenheit des Richters war Europa schon längst fertig geworden. Im XIX. Jahrhundert galt es, das Problem der Rechtsgebundenheit der Verwaltung (Exekutive) zu lösen. Die erstrittene Verwaltungsgerichtsbarkeit gewährleistet die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Legalitätsprinzip: Legitimität im Sinne der Legalität). Die Gesetzmäßigkeit der Vollziehung, Verwaltung und Rechtsprechung, gibt dem Namen „Rechtsstaat“ seinen Sinn. Das ist der Positiv. Im XX. Jahrhundert erringt Europa den Komparativ: den „Verfassungsstaat“. Über die Gesetzmäßigkeit der Vollziehung hinaus wird hier die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung durch gerichtsförmige Rechtskontrolle gesichert, eben durch die Verfassungsgerichtsbarkeit (Prinzip der Legitimität im Sinne der Konstitutionalität). Wir Heutigen erleben das Wachstum des Superlativs: des „Völkerrechtsstaates“. Die Völkerrechtmäßigkeit der gesamten Staatsordnung, folglich die Völkerrechtmäßigkeit schlechthin aller Staatsgewalt soll gewährleistet sein (Legitimität im Sinne der Konventionalität und internationalen Rechtlichkeit).

Der Komparativ, der „Verfassungsstaat“ mit Verfassungsgerichtsbarkeit, und der Superlativ, der „Völkerrechtsstaat“ mit Verfassungsgerichtsbarkeit als Völkerrechts-Gerichtsbarkeit (Art. 145 B-VG) sind Leistungen, die Kelsen vor mehr als vier Jahrzehnten vollbracht hat. Seinem institutionell-rechtspraktischen Werk ist ein ähnliches Schicksal beschieden wie seinen rechtstheoretischen Schriften. Man kopiert sie in aller Welt und denkt nicht daran, das „Made in Austria by Hans Kelsen“ anzuzeigen.

Das große Problem des Rechtsstaates im weiteren Sinn des Wortes ist weder die Sorge um die rechtswirksame Sicherung der Rechtsgebundenheit des Verwaltungsbeamten und des Richters, also der Staatsgewalt auf unterer Ebene, noch die Sorge um die Gesetzmäßigkeit der Vollziehung. Das eigentliche Rätsel ist die Frage: Wie können Rechtens die Träger der obersten Staatsgewalt wirksam gebunden werden? Kelsen hat die Lösung gefunden und sie institutionell aktualisiert. Damit hat er die Demokratie vor der Geschichte gesichert und gerechtfertigt. Er sagt mit Recht:

Die Demokratie beruht geradezu auf den politischen Parteien, deren Bedeutung um so größer ist, je stärker das demokratische Prinzip verwirklicht ist. Nur Selbsttäuschung oder Heuchelei kann vermeinen, daß Demokratie ohne politische Parteien möglich sei. Die Demokratie ist notwendig und unvermeidlich ein Parteienstaat.

Das Hauptproblem der Demokratie ist die Frage nach dem Verhältnis der Opposition zur Regierungspartei oder zu den Regierungsparteien, das Verhältnis der parlamentarischen Minderheit zur parlamentarischen Mehrheit, das Verhältnis der Minorität aller Art (Volk, Rasse, Religion, Sprache, Kultur usf.) zur Majorität im Staat. Hier verrichtet die Verfassungsgerichtsbarkeit die entscheidende politische Ausgleichs- und Integrationsfunktion, weil sie die Klammer ist, die Mehrheit und Minderheit zusammenbringt und zusammenhält. Denn die „Wahrung der Verfassung im Gesetzgebungsverfahren liegt eminent im Interesse der Minorität“. Nur auf dem Wege der Verfassungsgerichtsbarkeit erhält die Minorität die rechtliche Möglichkeit, ihre „für das Wesen der Demokratie so bedeutungsvolle politische Existenz und Wirksamkeit“ zu behaupten. Kelsen erhebt infolgedessen die Forderung, daß die Opposition und jegliche sonstige Minderheit die Möglichkeit haben sollen, „das Verfassungsgericht, sei es direkt, sei es indirekt, anzurufen“.

... zum Verfassungsstaat

Kelsen wurde hier zum Vollstrecker des Auftrages, den die abendländische Rechtsgeschichte erteilt hat. Von altersher behauptet sich der Mensch in der Rechtsordnung in dem Maß, wie er im Bereich der sogenannten ordentlichen Straf- und Zivilgerichtsbarkeit als Subjekt am Rechtsgeschehen mitwirkt. Im Bereich der Hoheitsverwaltung wirkt der Einzelmensch als Subjekt mit, seit es ein ordentliches Verwaltungsverfahren und eine Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt. Auf der Rangstufe der Gesetzgebung erschöpfte sich die Mitwirkung des Einzelnen meist im Wahlakt. Hans Kelsen hat den Einzelmenschen in den Rechtserzeugungsprozeß auf der ranghöchsten Stufe eingegliedert. Dem Menschen wurde die Rechtsmacht zugeteilt, als Glied im Staatsgeschehen an der Spitze mitzuwirken und den Inhalt des Gesetzesbefehls in concreto mitzugestalten. [2] Demokratien mit Verfassungsgerichtsbarkeit kann man sachgerecht als Realdemokratien bezeichnen.

Bei aller Nüchternheit darf Kelsens „Lieblingskind“, die Verfassungsgerichtsbarkeit, als ein epochales Opus im strengen Sinn des Wortes bezeichnet werden. Darin geschieht eine Vollendung; doch wäre sie nicht möglich ohne einen bestimmten geistesgeschichtlichen Horizont. Mit Descartes beginnt in der europäischen Geistesgeschichte die Herrschaft der Methode. Das Wesen jeder eigentlichen Wissenschaft ist Methode. Die Methode der Erfahrung geht jeder Frage nach dem Inhalt der Erfahrung voraus. Vollends sublimiert wird dieser Ansatz im Neukantianismus, namentlich bei Hermann Cohen. Kelsens Rechtstheorie reift in einer Denkwelt heran, die vom Neukantianismus und von Husserls Phänomenologie beherrscht wird. Die Frage nach dem Verfahren der Rechtserzeugung und Rechtsvollziehung nahm Kelsen gefangen. Alles kommt auf die Evidenz, auf das einwandfreie Zustandekommen eines Aktes an. Der Gehalt dessen, was zustande kommt, liegt außerhalb des Blickfeldes. Rechtserkenntnis ist Methode; Rechtserzeugung und Rechtsvollziehung sind gleichermaßen Methoden. Der Struktur der Rechtserkenntnis entspricht die Struktur des Rechtsgeschehens, d.h. der Erzeugung und Vollziehung, der Setzung und Anwendung. Bloß auf diese Weise vermag der Mensch das Recht als positives Recht streng-wissenschaftlich in den Griff zu bekommen. Als Rechtsphänomen kann ausschließlich gelten, was einwandfrei, d.h. in einem ordentlichen Verfahren zustande gekommen ist. Zum ordentlichen Zustandekommen eines Aktes gehört jedoch nicht allein die Frage nach dem Prozeß im engeren Sinne des Wortes, sondern insbesondere die Frage nach der Zuständigkeit dessen, der den Akt setzt. Selbst die Demokratie ist für Kelsen „eine bestimmte Methode der Erzeugung der sozialen Ordnung“, deren „Inhalt in keinem Wesenszusammenhang mit der Methode steht“. Wie von selbst drängt sich nun der Schluß auf: es muß eine Instanz eingerichtet sein und wirken, die prüft, ob ein bestimmter Akt einwandfrei zustande gekommen sei oder nicht. Denn sonst wäre es sinnlos, alles Gewicht auf das ordentliche Verfahren zu legen.

Weil die Methode in Kelsens Rechtstheorie zur Vollendung gelangt ist, findet bei ihm auch die institutionelle Rechtskontrolle ihre Perfektion. Kelsen errichtet sie sogar auf jenen Rangstufen der Rechtsordnung und auf jenen Etappen des Rechtsgeschehens, die bisher noch keiner gerichtsförmigen Rechtskontrolle zugänglich waren.

Reines Recht und reine Lehre

Kelsen schreibt, um Mißdeutungen abzuwehren, die Reine Rechtslehre sei nicht die Lehre eines reinen Rechts, vielmehr sei sie eine reine Lehre des Rechts. Anders gewendet: nicht das Recht sei rein, sondern die Lehre trage ein reines Kleid. Darin drückt sich die vollkommene Konzentration aller wissenschaftlichen Arbeit auf die Methode aus. Der Autor der Reinen Rechtslehre hat sich ein streng beschränktes und erreichbares Ziel vorgenommen — und er hat sich nicht übernommen. Gegen den vulgären Rechtspositivismus des XIX. Jahrhunderts hebt sich Kelsens theoretischer Positivismus scharf ab. Jener übernimmt sich, überschreitet unentwegt die Grenzen, gibt an, Probleme lösen zu können, die sich jeglichem Vermögen des Positivismus entziehen. Kelsens theoretischer Positivismus hingegen maßt sich nicht das Vermögen an, die Frage der sogenannten materialen Gerechtigkeit zu beantworten. Er verspricht nicht, was er nicht zu geben vermag; die einmal gezogenen Grenzen werden genau eingehalten.

Wann immer bei Kelsen das Wort „Recht“ auftaucht, ist ausschließlich das positive Recht gemeint, das „ius (humanum) positivum“, das Recht, das kraft menschlicher Akte gesetzt worden ist. (Der Verfasser dieses Aufsatzes meint aus Gründen, die hier nicht erläutert werden können, mit „Recht“ nicht nur das positive, sondern auch das präpositive Recht.) Die Reine Rechtslehre als wissenschaftliches Wissen klärt erschöpfend alle methodologischen Probleme des positiven Rechts:

Die Reine Rechtslehre ist nichts anderes als eine Theorie des positiven Rechts, und will nichts anderes sein. Sie lehnt es ab, die Frage nach dem richtigen Recht zu beantworten, ohne über die Würde dieser Frage etwas auszusagen.

Was nicht in den solchermaßen eingefriedeten Bezirk gehört, wird rücksichtslos ausgewiesen. Analysierend legt die Reine Rechtslehre die Strukturen des positiven Rechts frei, „sie bewertet nicht ihren Gegenstand, sondern beschreibt ihn“. Die Größe der theoretischen Leistungen Kelsens verbirgt sich in solcher Askese. Ein derart subtiler Rechtspositivismus hat — wie schon angedeutet — seinen geistesgeschichtlichen Grund, der die Gedanken in eine bestimmte Richtung zwingt. [3] Die Originalität des Meisters besteht darin, daß er die Ergebnisse des geistesgeschichtlichen Vorganges ganz und gar begriffen, die Eigenschaften der Methodenreinheit erkannt und sie als jene Erkenntnisweise angewandt hat, welche der Struktur des positiven Rechts angemessen ist. Durch Kelsen hat das positive Recht seine wesenseigene Methode gefunden; so ist wissenschaftlicher Rechtspositivismus überhaupt erst möglich.

Zwischen Kant und Husserl

Mit ganz seltenen Ausnahmen [4] wird Kelsen in eine verdächtige Nähe zu Kant (und Hermann Cohen) gebracht. Man meint, Reine Rechtslehre und Kritik der reinen Vernunft hätten Wesentliches gemeinsam. Man übersieht, daß Kelsen mit Edmund Husserl gut bekannt war (er kannte ihn auch persönlich, suchte ihn auf und unterhielt sich mit ihm), dessen Phänomenologie vor einem halben Jahrhundert den Idealismus zu verdrängen begann. In der Rechtserkenntnis Kelsens ist kein subjektives Apriori im kantischen Sinne die notwendige Bedingung, damit die Struktur des Rechts erfaßt wird; das Apriori ist vielmehr im Sinn der Husserl’schen Phänomenologie als Wesensschau zu verstehen: ein objektiv notwendiger Zusammenhang, der für alle Gebilde des positiven Rechts und für alle Sondergebiete dieses Bereichs gelten muß. Was am wenigsten hervorgehoben wird, scheint mir das wichtigste zu sein: Kelsen versucht, sich vom Subjektivismus zum Objektivismus zu wenden. Wohl wird die Erfahrung auf die wesentlichen Möglichkeiten des positiven Rechts eingeschränkt (d.h. auf die Kritik), doch stützt sie sich nicht auf die Prinzipien a priori, nicht auf das Vermögen, aus Prinzipien a priori zu erkennen, wie bei Kant; die Erfahrung stützt sich auf die Wesensschau der geltenden wie der historischen positiven Rechtsordnungen. Dabei wird versucht, die apriorischen Zusammenhänge freizulegen. Das ist Strukturanalyse, aber eine Analyse objektiver Strukturen.

Relativismus ...

Die Reine Rechtslehre entblößt gleichsam die Struktur des positiven Rechts und bringt solchermaßen die Form des Rechts zum Vorschein. Diese Form wird als Bestand der Wirklichkeit enthüllt. Die Form des Rechts ist die Wirklichkeit — nicht die Macht. Das positive Recht ist die Rechtswirklichkeit. Die Form des Rechts ist die Norm. Kelsen hat die Norm als Zentral- und Fundamentalbegriff aller Rechtserkenntnis wie aller Rechtserzeugung und Rechtsvollziehung ins Wissen gehoben. Das Wesen der Norm fesselt ihn dermaßen, daß er sich in seinem späten Schaffen anschickt, ein großes Werk über die allgemeine Logik der Norm — auch der Moralnorm — seiner Mitwelt vorzulegen. Die Norm hat ihre Eigengesetzlichkeit, gleichsam ihre eigene Logik. Die Norm ist — der Meister und der Verfasser dieses Aufsatzes haben in einem Gespräch darin ihre Einmütigkeit festgestellt — ein modus essendi, eine eigenartige Seinsweise; dementsprechend ist das Gelten die der Norm eigene Seinsweise. Die Unrechtsfolge wird von dem Unrecht nicht bewirkt, wie etwa die Ausdehnung des Metalls von der Erwärmung bewirkt wird, doch wird die Unrechtsfolge von dem Unrecht bedingt.

In dem Maße, wie die Rechtswelt eine Normenwelt ist, ein Bedingungszusammenhang, der im Stufenbau aufsteigt und absteigt, in demselben Maße ist es gewiß, daß eine einzige Grundnorm das gesamte Gefüge trägt (principium unitatis). Die Grundnorm ist nicht nur die hypothetische Voraussetzung aller Rechtserkenntnis, sie ist zugleich die erfahrene unbedingte Bedingung, von der das positive Recht ausgeht. „Die Grundnorm ist ... nicht das Produkt freier Erfindung.“ [5] Hier allerdings verrät sich eine Verwandtschaft mit Kant. Wie Kants „Kritik der reinen Vernunft“ gerade durch die unterscheidende Bestimmung, Begrenzung und Einschränkung die Linien erkennen läßt, hinter denen der absolute Grund emporragt, der alles Bedingte ermöglicht, so daß die „Kritik der reinen Vernunft“ die Möglichkeiten einer Ontologie und Fundamental-Ontologie sondiert — so verweist die Reine Rechtslehre, eben weil sie auf das unbedingte Einhalten der Grenzen hartnäckig pocht, auf die Existenz der vorausgesetzten, präpositiven unbedingten Bedingung, durch welche die Normen der positiven Rechtsordnung ermöglicht werden.

Die Positivität des Rechtes kann man erst dort scharf erkennen, wo als abstechender Hintergrund die vorausgesetzte, präpositive Absolutheit der Grundnorm wirkt. Was positiv, bedingt, bezogen, relativ, endlich, kontingent heißt, begreift man, wenn die über alle endlichen Bedingungen hinausgreifende, sie übersteigende, d.h. transzendente Unbedingtheit in Sicht kommt, die alles Bedingte umgreift. Wenn Kelsen die Grenzen des wissenschaftlichen Wissens vom positiven Recht sorgfältig absteckt, dann geschieht nichts anderes als eine direkte Anerkennung der formalen Existenz dessen, was man auch Naturrecht nennen kann. [6] „Form“ und „formal“ haben mit dem, was man sich nebulos unter „Formalismus“ vorstellt, nichts gemein. In der klassischen griechisch-christlichen Philosophie meint „Form“ die eigentliche Wirklichkeit. (Die sinn- und wortgetreue Übersetzung von „formal“ lautet: „eigentlich“.)

Kelsen, wie paradox dies auch klingen mag, hat logisch den Weg geebnet, auf dem man neuerdings zur Ontologie des Rechts gelangen kann, zur Einsicht in die Präpositivität der Grundnorm allen positiven Rechts, zur Erkenntnis, daß es ein Seinsrecht gibt; denn alles positive Recht ist, nach Kelsen, bedingt-kontingent.

... ist kein Nihilismus

Damit erscheint der sogenannte Relativismus Kelsens in einem neuen Licht. Selbst ein Denker vom Format Jacques Maritains [7] glaubt, daß er Kelsen Relativismus im Sinn des Nihilismus vorwerfen muß. Welch ein Mißverständnis! Der Pfeil des „Relativismus“, den Kelsen abschießt, sucht ein ganz anderes Ziel als oberflächliche Kritiker vermuten. Weil die Reine Rechtslehre die bedingte und in diesem Sinn relative Struktur des positiven Rechts trifft, verneint sie den Absolutheitsanspruch einer jeden konkreten, geschichtlichen Staatsordnung. Wenn Kelsen dem Inhalt des positiven Rechts den Absolutheitsanspruch streitig macht, legt er den Sachverhalt bloß, daß die positive Rechtsordnung nicht losgelöst werden kann von allen möglichen endlichen, relativen Bedingungen und Voraussetzungen. Kelsens Relativismus unternimmt nichts anderes, als den Werten und der Bewertung, die er für unabdingbar hält, gleichsam negativ, den rechten Platz anzuweisen. Er verhindert, daß Machtideologien unter der Tarnkappe der Werte in einen Raum eindringen, in dem sie nichts zu suchen haben und den sie bloß verunstalten.

Kelsens sogenannter Relativismus und Formalismus sind von hoher Aktualität. Nur wenn man diesem Gebot entspräche, vermöchte man unsere Situation zu meistern, welche nicht mehr durch eine geschlossene christliche Gesellschaft ausgezeichnet, sondern durch eine pluralistische gemischte Gesellschaft gekennzeichnet ist. In den verflossenen Jahrhunderten entglitt das Naturrecht dem Bewußtsein der Menschen und Völker. Die Herrschaft einer christlichen Moral stieß nach, doch die geistesgeschichtliche Wende der Neuzeit verdeckte die Prinzipien der christlichen Moral. Leerräume taten sich auf, in die Taschenspieler aller Art eindrangen. Unter dem Mantel des sogenannten Vernunftrechtes trieben Amoral und Wille zur Macht ihr Unwesen. Der Tiefstand war Ende des XIX. Jahrhunderts erreicht. Dann trat Kelsen auf den Plan: das aller Ideologien entkleidete Recht, das Recht in seiner reinen Form, bildet die taugliche untere Grenze der Moral, indem es Normen des menschlichen Zusammenlebens anbietet, die von Völkern aller Religionen, Rassen und Farben, von Gesellschaften aller Konfessionen als verbindliche Verhaltensregeln angenommen werden können. In einer gemischten, offenen Welt, in der geschlossene Sittenordnungen bloß einzelne Gruppen und Gemeinschaften umfassen, hat das Recht auch die Funktion der Moral übernommen.

Ohne die theoretische Vorleistung der Reinen Rechtslehre hätte das positive Recht diese Eignung niemals gewinnen können. Diese Vorleistung schafft zugleich die Voraussetzung für die Verwirklichung des Gedankens einer obligatorischen internationalen Gerichtsbarkeit, die alle Völker, Staaten und Länder der Erde zu einer einzigen Rechtsgemeinschaft zusammenschließt. Erfüllte sich dieser Traum, wie der Traum der Verfassungsgerichtsbarkeit, so wäre dem Menschengeschlecht der Friede gesichert.

Zweierlei Recht ...

Die von Kelsen freigelegten, gereinigten Strukturformen des positiven Rechts verweisen kraft des „principium unitatis“ auf die vorausgesetzte Grundnorm. Hier hakt der Rechtsontologe ein und folgert: die vorausgesetzte Grundnorm kann nicht ein schwächeres Recht sein als das positive, vielmehr muß sie rechtlicher sein als das gesetzte Recht. Er kann sich auf Heraklit berufen: Des Rechtes Namen kennten sie nicht, wenn das, was er anzeigt, nicht wäre. Gesetzt, jede Spur vom Wesen des schlechthinigen Rechts bliebe verhüllt und jede Erhellung dessen, was Recht als solches ist, wäre versagt, dann bliebe auch dasjenige, was wir das Rechtliche nennen, verborgen. Wie es zweierlei Seiende gibt, eines phýsei ón und eines téchne ón, also eines, das „von sich her aufgeht“, und eines, das „hergestellt“ wird: so gibt es auch Rechtliches zwiefach: das phýsei dikaion, das von sich aus aufgehende, sich zeigende Rechtliche (präpositives Recht, Naturrecht) und ein hergestelltes, erzeugtes, gesetztes Rechtliches, das positive Recht. Die beiden Seinsweisen des Rechts stehen zueinander in einem Bedingungszusammenhang, sind aneinander gebunden.

Das Bindungselement bildet als Folge des normativen Charakters des Rechts den Mittelpunkt von Kelsens Staatslehre als Rechtslehre. Der Staat ist nicht ein Gefüge von Befehlen, Weisungen, Vorschriften und Maßstäben, die der (psychologische) subjektive Wille der menschlichen Träger der Staatsorgane gibt, erteilt, erzeugt und liefert; der Staat ist ein Gefüge objektiver Normen, die einen Stufenbau bilden und miteinander, aufsteigend und absteigend, in einem Bedingungszusammenhang stehen. Das Verhältnis von Überordnung und Unterordnung sowie das Verhältnis von Gleichordnung sind nicht Folgen des Verhältnisses, in dem ein schwächerer zu einem stärkeren subjektiven Willen steht, oder in dem zwei gleich starke subjektive Willen zueinander stehen, sondern die Folge des objektiven Verhältnisses, in dem die Normvollziehung zur Normerzeugung steht, oder in dem zwei Erzeuger und zwei Vollzieher derselben Norm zueinander stehen. Die Gehorsamspflicht gilt nicht eigentlich der Person des „Vorgesetzten“, sondern der objektiven Norm, die zu erzeugen Funktion des „Vorgesetzten“ und die zu vollziehen Pflicht des „Untergebenen“ ist.

Staat ist Rechtsordnung. Staatsakt ist Rechtsakt. Ist der Akt nicht einwandfrei zustande gekommen, hat es dem Normerzeuger oder Normvollzieher an Zuständigkeit gefehlt — dann haben wir es mit keinem Staats-, mit keinem Rechtsakt, sondern mit einem Scheinakt zu tun. Die Gehorsamspflicht ist bedingt (Widerstandsrecht als Prüfungsrecht).

Zwei Grundkonzepte der Ordnungsmacht sind bekannt (hier sind die Probleme der Gottesmacht und der Staatsmacht von gleicher Struktur). [8] Das eine geht davon aus, daß der Träger der Ordnungsmacht rechtmäßiger Machtträger selbst dann bleibt, wenn er die Kompetenz überschreitet und wenn er seinen Willen in keinem einwandfreien Verfahren kundgibt. Nach dem anderen Grundkonzept hört der Träger der Ordnungsmacht auf, das zu sein, was er ist, wenn er seine Kompetenz überschreitet und wenn er seinen Willen nicht in einem geordneten, vorgezeichneten Verfahren kundgibt. Dies ist Kelsens Grundkonzept, wonach der Staat deshalb nicht rechtswidrig handeln kann, weil er in dem Augenblick nicht Staat ist, da er die Grenzen überschreitet.

... zweierlei Staat

Akte eines Scheinstaates, die infolgedessen selbst Scheinakte sind, hat schlechthin niemand zu beachten. Von Staats wegen ist nur dasjenige, was rechtmäßig ist. Die Rechtmäßigkeit aber ist das Verhältnis der Entsprechung, in dem die bedingte, rangniedere Norm zu der sie bedingenden ranghöheren Norm steht — eine Reduktion, die letztlich in der Verfassung und in der Grundnorm endet. Grundsätzlich ist jeder Akt einer Prüfung zugänglich, weil er ja nur in dem Maße existiert, wie er einer Prüfung standhält. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es keine Staatstätigkeit, die „an sich“ rechtlich unkontrollierbar wäre. Auch die sogenannte Privatwirtschaft des Staates fällt der Rechtskontrolle anheim, zumal ja die Normqualität eines „privaten“ Rechtsgeschäftes nicht geringer ist als die Normqualität irgendeines Aktes der hoheitlichen Verwaltung.

Weil der Staat nicht ein Gefüge subjektiver Machtverhältnisse, sondern ein Gefüge objektiver Normen ist, deshalb zeigt immerzu der objektive Sinn einer Norm das Maß des Verhaltens an. Der subjektive Wille des historischen Gesetzgebers ist z.B. von vornherein durch den objektiven Sinn des Gesetzes gebunden. Kelsen bringt auf diesem Weg die Politik unter die Herrschaft des Rechts und gibt dem Wort „politisch“ den ursprünglichen Sinn zurück, der nichts anderes meint als „rechtlich-geordnet“. Das ist der politische Sinn der Identifizierung von Recht und Staat. [9]

Die Reine Rechtslehre und die Institutionen, die Hans Kelsen auf ihrem Grund entworfen hat, haben erst das ermöglicht, wonach die Menschheit seit ihrem Bestehen sich sehnt: die Sicherung der Herrschaft des Rechts. Das Menschengeschlecht steht in Kelsens Schuld.

[1Vgl. den Bericht der „Arbeiter-Zeitung“ vom 19. September 1961, S. 3, und das darin wiedergegebene Gespräch des Berichterstatters mit Kelsen.

[2Vgl. Kelsen: Reine Rechtslehre, 2. Auflage, 143 ff., insbes. 148.

[3Vgl. Heidegger: Nietzsche II, 168 ff. insbes. 171, Pfullingen 1961.

[4So Kunz: Was ist Reine Rechtslehre? „Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht“, Bd. 1, H. 3, 271-290 (1948). Derselbe, „Forum der Rechtsphilosophie“ (hrsg. von Ernst Sauer) S. 21-47, Köln 1950.

[5Reine Rechtslehre, 2. Auflage, S. 204.

[6Näheres bei Marcic: Reine Rechtslehre und klassische Rechtsontologie, „Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht“, Bd. 11, H. 3, (Kelsen-Festschrift 1961), S. 395-411.

[7Maritain: Truth and Human Fellowship, Princeton 1957, (deutsch: Wahrheit und Toleranz, Heidelberg 1960), S. 8 f., S. 14.

[8Vgl. Marcic: Gottesbild — Rechtsbild — Staatsbild, „Salzburger Jahrbuch für Philosophie“, Bd. V/VI (1960/61), S. 423-462 (Auer-Festschrift).

[9Ich hatte weder die Absicht noch die Möglichkeit, im Rahmen dieses Aufsatzes systematisch die Arbeiten des Rechtstheoretikers und Rechtspraktikers Kelsen aufzuzählen. Dies tut in einer ausgezeichneten Zusammenfassung Dr. Rudolf Aladar Metall, wohl der engste und älteste persönliche Mitarbeiter des Meisters, im Aufsatz „Hans Kelsen zum 80. Geburtstag“ in der juristischen Beilage der „Salzburger Nachrichten“ vom 10. Oktober 1961 („Der Staatsbürger“, Folge 20). Eine Aufzählung der Hauptergebnisse Kelsens findet sich bei Marcic: Hans Kelsens Reine Rechtslehre („Der Staatsbürger“, Folge 7 vom 18. März 1961). Vgl. auch die bereits erwähnte Kelsen-Festschrift („Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht“, Bd. 11, H. 3).

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)