FORVM, No. 94
Oktober
1961

Kelsen und der Sozialismus

Jede Würdigung des großen Rechtsgelehrten und Ideologiekritikers Hans Kelsen, die seine in den frühen Zwanzigerjahren — inmitten der Problematik des neugeschaffenen Deutsch-Österreich — entstandenen Beiträge zur Theorie und Praxis des Sozialismus außer acht ließe, müßte sich den Vorwurf der Unvollständigkeit gefallen lassen. Besonders gilt dies mit Bezug auf Kelsens Schriften „Sozialismus und Staat“ (1920, 2. Auflage 1923) sowie „Marx oder Lassalle“ (1924).

Es gibt wenige zur Zeit der Ersten Republik veröffentlichte Untersuchungen über Demokratie und Staat, Sozialismus und Marxismus, die so aktuell anmuten und so wertvolle Hinweise zur Bewältigung der heutigen Wirklichkeit enthalten wie diese beiden Schriften. Ihr Eindruck verstärkt sich noch, wenn man sie mit den Ausführungen des orthodox-marxistischen Diskussionspartners Max Adler vergleicht, welcher sein Werk „Die Staatsauffassung des Marxismus“ (1922) der Widerlegung Kelsens widmete. Bei aller Bewunderung für die scholastische Dialektik Max Adlers und für sein kunstvoll aus Elementen des philosophischen Idealismus und des historischen Materialismus zusammengesetztes Gedankengebäude wird man bei einem kritischen Vergleich nicht um das Urteil herumkommen, daß uns die Gesellschaftsauffassung Max Adlers außer einigen interessanten Anregungen nichts der Fortsetzung Fähiges hinterlassen hat, während die Auffassungen Kelsens der historischen Entwicklung standgehalten haben. Kelsen wird auch unserem — durch die vollständige Veröffentlichung der Marx’schen Frühschriften vertieften — modernen Marx-Verständnis gerecht. Aus der Problemfülle, die in der Debatte zwischen Max Adler und Hans Kelsen behandelt wurde, kann hier nur einiges herausgegriffen werden, was für den modernen Sozialismus relevant erscheint.

Der Staat als Bösewicht

Eine Meinungsverschiedenheit zwischen Max Adler und Hans Kelsen bezog sich auf die Begriffe „Staat“ und „Gesellschaft“ in der Marx’schen Soziologie. Während Max Adler eine Gegensätzlichkeit, ja auch den bloßen Unterschied der beiden Begriffe auf der modernen Entwicklungsstufe leugnet und es als ein Verdienst der Marx’schen Gesellschaftskritik bezeichnet, daß sie den trügerischen Schein solcher Unterschiedlichkeit aufgelöst habe, vertrat Kelsen in Übereinstimmung mit vielen Interpreten des Marxismus (so dem gründlichen Kenner der Marx’schen Gesellschaftslehre, Heinrich Cunow) die Auffassung, daß Marx sehr wohl zwischen Staat und Gesellschaft unterschieden habe. Max Adler zufolge tritt nicht „ein für sich bestehendes Etwas, der Staat, einem elementaren anderen Gefüge, der Gesellschaft entgegen; sondern die Staatsform ist die widerspruchsvolle Ideologie, in welcher die gesellschaftliche Realität erlebt und gestaltet wird“. Demgegenüber konnte Kelsen mit Recht die Frage aufwerfen, was es dann — unter Voraussetzung der Identität von Staat und Gesellschaft — mit dem „Absterben des Staates“ auf sich habe. Sollte das Absterben des Staates etwa gleichbedeutend mit dem Absterben der Gesellschaft sein?

Kelsen konnte mit zahlreichen Zitaten aus Marx und Engels den Nachweis erbringen, daß der Gegensatz, von Staat und Gesellschaft der marxistischen Theorie nicht nur geläufig ist, sondern daß er im Rahmen dieser Theorie auch die Aufgabe hat, als „Gegensatz zweier entgegengesetzter ethisch-politischer Postulate“ zu fungieren. Die von Kelsen beigebrachten Zitate lassen keinen Zweifel, daß die Gesellschaft bei den Klassikern des Marxismus mit dem guten, zukunftsträchtigen und fortschrittlichen, der Staat hingegen mit dem bösen, hemmenden und reaktionären Prinzip der geschichtlichen Entwicklung identifiziert wird. Kelsen bezeichnet die mit dem wertmäßig belasteten Gegensatz von Staat und Gesellschaft operierende Marx’sche Soziologie ebenso wie ihre liberale Vorlage, von welcher der Marxismus seinen verengten Staatsbegriff übernahm, als „verkapptes Naturrecht“.

Allerdings läßt sich der Vorwurf der ideologischen Präsentation politischer Forderungen in Form einer mehr oder minder deklarierten naturrechtlichen Begründung politischer Forderungen und der ihnen zugrunde liegenden Interessen auch an die Adresse des von Kelsen als Kronzeuge seiner Staatsauffassung im Lager des Sozialismus geführten Ferdinand Lassalle richten. Wenn Hans Kelsen seine Schrift „Sozialismus und Staat“ mit dem Aufruf „Zurück zu Lassalle“ schloß, so hatte er dabei sicher nur die Lassalle’sche Staatsbejahung im Gegensatz zur marxistischen Staatsverneinung vor Augen. Die Empfehlung zur Anknüpfung an Lassalle dürfte sich vom Standpunkt des „Wertrelativisten“ Kelsen und der von ihm geschaffenen „Reinen Rechtslehre“ nicht auch auf die naturrechtlichen Tendenzen erstrecken, die im Werk Lassalles verborgen liegen. Denn auch bei Lassalle werden die Begriffe „Staat“ und „Gesellschaft“ einander gegenübergestellt, und auch bei Lassalle sind sie mit Werturteilen verbunden.

Während Marx das erstrebenswerte und als Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung sich aufdrängendeZiel in der Abschüttelung des der Gesellschaft fremden und feindlichen Staates, in der Wiederherstellung des rein geselischaftlichen Zustandes des Urkommunismus auf höherer Ebene erblickte, hielt Lassalle es umgekehrt für notwendig, die Arbeiter von der Ausgeliefertheit an die bloß gesellschaftlichen Zustände zu erlösen und den Staat als die vorgegebene Kategorie zur Realisierung der sittlichen Idee, der sittlichen Idee des Arbeiterstandes entprechend, in den Dienst der menschlichen Emanzipationzu stellen.

Die Lassalle’sche Definition der sittlichen Idee des Arbeiterstandes, die im Staat der Arbeiterschaft zum Durchbruch gelangen soll, als „Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und die Gegenseitzkeit in der Entwicklung“ begegnet dem Einwand Kelsens, daß „jede Begriffsbestimmung, die den Staat wesentlich als Organisation eines Gesamtinteresses oder eines Gesamtwillens, kurz irgendwie als Ausdruck der Soldarität aller durch die Organisation zusammengefaßten Individuen darstellt“, als Fiktion zu qualifizieren ist.

Die Reine Rechtslehre mit ihrer eminent ideologiekritischen Komponente ist gerade heute ein wertvolles Instrument für den um sein Selbstverständnis ringenden modernen Sozialismus. Wenn die Reine Rechtslehre den politischen Bewegungen jede Rückendeckung für absolute Werturteile und Forderungen versagt, so zwingt sie hiedurch jene unter ihnen, die einer Selbstkritik fähig sind, ihr Gedankengut und ihre Programmatik neu zu überdenken. Die Relativierung und Entideologisierung politischer Überzeugungen und Willensinhalte wirkt sich nicht notwendig als Schwächung der Schlagkraft einer Bewegung und als Schmälerung ihrer Substanz aus, sondern sie kann geradezu ein Ansporn werden, die eigene Argumentation von den schwindelnden und gefährlichen Höhen absolutistischer Gedankengebäude auf die bescheidene Ebene rationaler Überlegungen zu verlegen.

Die Durchdringung des ideologisch verhüllten Traditionsgutes der sozialistischen Bewegung und die Herausschälung des nach Wegfall aller absoluten Prätention unversehrt bleibenden Kerns ist eine Aufgabe, vor der die Sozialisten nicht zurückschrecken dürfen. Wo anders, wenn nicht in der sozialistischen Bewegung, die das geistige Erbe der Französischen Revolution und der von ihr proklamierten geistigen Freiheit verwaltet, sollte die von Lassalle als Kennzeichen der Wissenschaft beschriebene „Klarheit und Voraussetzungslosigkeit des Denkens“ Geltung beanspruchen?

Der Prozeß der Reduktion historischer Inhalte erscheint vielen als ein gefährliches, den Erfolg der sozialistischen Bemühungen in Frage stellendes Unternehmen. In Wahrheit ist er auf lange Sicht eine Quelle der Stärke. Wie es der Demokratie zur Ehre gereicht, daß sie den Wertrelativismus, den Kelsen ihr zuordnet, zur unausgesprochenen geistigen Voraussetzung hat, kann es dem Sozialismus nur zum Heil ausschlagen, wenn er sich dem gesellschaftlichen Kampf ohne die fragwürdige Berufung auf absolute Grundsätze stellt, welche für die meisten Menschen heute ohnehin jede Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft verloren haben. Wenn alle absolutistischen Staats- und Denkformen längst an der Wirklichkeit zuschanden geworden sind, wird der seiner Grenzen bewußte selbstkritische Geist noch überdauern und weiterwirken. Denn er hat die Wahrheit auf seiner Seite, wenn diese Wahrheit auch in der Erkenntnis besteht, daß die Realisierung und Abbildung absoluter Werte im Rahmen einer Interessen abwägenden menschlichen Organisation nicht zu erreichen ist.

Ökonomie und Ideologie

Die zentralen Größen der Marx’schen Soziologie, „Staat“ und „Gesellschaft“, müssen im Rahmen der Gesamtarchitektur des Marx’schen Systems nach jenem Schema lokalisiert werden, das Marx in seiner Vorrede zur „Kritik der politischen Ökonomie“ entworfen hat:

In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Mensclen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängge Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklung der Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischr Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschftliche Bewußtseinsformen entsprechen.

Es ist klar, daß die mit dem progressiven Moment der historischen Entwicklung gleichgesetzte Gesellschaft im Marx’schen Unterbau ihren Platz hat, während Recht und Staat — wie Kelsen aus den Worten „juristischer und politischer Überbau“ herausliest — dem Überbau zugehören. Das auf den ersten Blick faszinierende Marx’sche Schema gibt aber bei näherem Zusehen Schwierigkeiten auf, die den Wert des ganzen Modells in Frage stellen. Kelsen wendet gegen den Marx’schen Dualismus vor allem ein, daß er das gesellschaftliche Sein der Menschen zerreißt, indem er einen Teil dieses Seins, nämlich die für ökonomisch gehaltenen Verhältnisse als Unterbauelemente registriert, während alle ideologischen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens dem Überbau vorbehalten bleiben. Kelsen macht darauf aufmerksam, daß auch die ökonomische Struktur der Gesellschaft, ja daß alle sozialen Phänomene „ideologischen Charakter“ haben. Daher sei der Marx’sche Dualismus von ökonomischem Unterbau und ideologischem Überbau durch den Dualismus von kausalgesetzlich determinierter Natur und Gesellschaft als Sollens-Ordnung zu ersetzen.

Marx konnte als philosophischer Materialist die Existenz einer Sollens-Sphäre nicht anerkennen. Die Imperative der Arbeiterklasse ergeben sich für ihn nicht aus einem Werturteil und einem Sollen, sondern aus dem Sein selbst. Kelsen bezeichnet die Vermengung von Kausalität und Wertbetrachtung im Marxismus als „geradezu tragischen Methodensynkretismus“, als „radikalste Verwischung der Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wert“.

Dem philosophischen Idealisten Max Adler konnte die Einseitigkeit und Unhaltbarkeit der Marx’schen Konstruktion nicht verborgen bleiben. Er versuchte in seinem „Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung“ das Marx’sche Schema dadurch zu retten, daß er sich um die Vergeistigung der ökonomischen Verhältnisse bemühte. Die materialistische Geschichtsauffassung sollte nicht die Abhängigkeit der geistigen Erscheinungen von rein ökonomischen Grundlagen besagen, sondern lediglich feststellen, daß eine Abhängigkeit zwischen dem geistigen Sein der Gesellschaft und den ideologischen Erscheinungen bestehe. Max Adler behauptete, daß in der materialistischen Geschichtsauffassung das Bewußtsein nicht von etwas „ihm Artfremden“ bestimmt werde, sondern daß Gleichartiges auf Gleichartiges einwirke.

Die Adler’sche Deutung der materialistischen Geschichtsauffassung rettet zwar die marxistische Konstruktion, aber um den Preis des Verlustes ihrer eigentlichen Bedeutung, die Max Weber als „genial-primitiv“ charakterisierte. Wenn sich der Erkenntniswert der materialistischen Geschichtsauffassung in der Aufzeigung der Abhängigkeit qualitativ gleichartiger Prozesse voneinander erschöpft, ist er in der Tat gering. Das Revolutionäre sowie bei aller Einseitigkeit und Widersprüchlichkeit eigentlich Befruchtende der Marx’schen Geschichtsbetrachtung lag gerade darin, daß sie die Produktivkräfte zu treibenden Faktoren des historischen Prozesses macht, den Handwebstuhl zum Erzeuger der feudalen und den Dampfwebstuhl zum Erzeuger der bürgerlichen Gesellschaft.

Die offenkundige Schwäche — und zugleich optische Stärke — der ökonomischen Geschichtsauffassung war es, daß sie die ideologischen Elemente des Unterbaus ignorierte und sie insgesamt dem Überbau einverleibte. Wenngleich sich aus einzelnen Stellen bei Marx und Engels eine Berücksichtigung der geistig-ideologischen Faktoren schon im Unterbau entnehmen läßt, so ist doch daran festzuhalten, daß die Anziehungskraft dieser Geschichtsauffassung — speziell in ihrer vulgärmarxistischen Ausprägung — auf der von Kelsen gerügten und von Adler beseitigten Freihaltung und Verselbständigung des Unterbaus gegenüber dem als Ideologie verstandenen Überbau beruhte.

Das Marx’sche Schema ist nicht nur geschichtsphilosophisch und wissenschaftlich anfechtbar. Es ist auch als methodische Anleitung zur Analyse und Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit von viel geringerem Wert, als man einzuräumen bereit ist. Im allgemeinen machen auch die strengsten Kritiker des Marxismus vor der vielberufenen Marx’schen Methode Halt und erweisen ihr unverbindliche Reverenz. Gewiß wäre es verbohrt, den Fortschritt zu leugnen, der mit der Marx’schen Methode verbunden war. Die Betrachtung des Geschichtsprozesses vom Standpunkt der materiellen Bedingungen und wirtschaftlichen Interessen erlaubt es, idealisierende Hüllen abzuwerfen und ideologische Prätentionen auf ihre Klassen- und Interessenbasis zurückzuführen. Die historische Erfahrung hat jedoch gelehrt, daß die Anwendung der Marxschen Methode und die Berufung auf ihre vorgeblichen Ergebnisse keine Bürgschaft für die Richtigkeit des Weges ist, den man damit legitimieren möchte. Die marxistischen Formeln können dazu dienen, dem bloßen Machtstreben oder der bloßen Taktik die höhere Weihe zu verleihen. Dieser Gebrauch der Marx’schen Analyse ist nicht allein den handelnden Menschen zur Last zu legen. Er ist zum guten Teil eine Wirkung dieser Methode selbst, welche sich jedem Terminologiekundigen willig als Lautsprecher seiner Überzeugungen und Wünsche anbietet und ihm die Begründung für Entscheidungen eingibt, die auf Grund ganz anderer Erwägungen gefällt wurden.

Die marxistische Methode der Geschichtsbetrachtung bietet keine Garantie für die Richtigkeit des von ihr inspirierten Weges. Sie ist nicht einmal eine Garantie für die Schlagkraft der sozialistischen Bewegung. Kelsen weist in einem Vergleich des Marxismus mit der religiösen Ethik darauf hin, daß beide auf Grund ihres Glaubens an die naturnotwendige Verwirklichung des Guten die Gefahr heraufbeschwören, „daß an Stelle höchster Aktivität ein gewisser vertrauensseliger Fatalismus Platz greift“. Das Beispiel des Austromarxismus demonstriert, daß die Pflege der revolutionären Phrase und die ständige Berufung auf Marx mit einem faktischen Zurückweichen in den politischen Bewährungsproben des Alltags verbunden sein kann. Die Tendenz Otto Bauers, jede Niederlage als „unabwendbares Resultat der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung“ zu buchen und ihr damit den Stachel zu nehmen, beweist die von Kelsen aufgezeigte Gefahr.

Im Grund handelt es sich um dieselbe Geisteshaltung des Fatalismus, wenn die Orthodoxen und Linken von heute — wie z.B. der englische Sozialist Richard Crossman in seinem Traktat „Labour in the Affluent Society“ — der Arbeiterbewegung keinen anderen Rat wissen, als sich mit der bestehenden Gesellschaft nicht gemein zu machen, sondern auf eine erlösende Katastrophe und Krise zu warten. Die feierliche Beschwörung des Marx’schen Endzieles wird solcherart zu einem Zeichen dafür, daß jede wirkliche Bewegung zum Stillstand gekommen ist.

Einladung zum Terror

Die politische Theorie des Marxismus und der politisch handelnden Marxisten steht im engsten Zusammenhang mit dem von Kelsen kritisierten Unterbau-Überbau-Schema. Sie betrifft vor allem die Frage, „deren praktische Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann“, nämlich die Frage nach dem „Verhältnis des Sozialismus zum Staat“. Da sich die sozialistische Bewegung in der gesellschaftlichen Realität zu erproben hat, sind alle Probleme von wesentlicher Bedeutung für sie, die mit der Erlangung, dem Gebrauch und der künftigen Natur der Macht zusammenhängen. Kelsen stellt fest: wer die Eroberung der Macht durch das Proletariat von der Voraussetzung unabhängig macht, daß dieses Proletariat die überwiegende Majorität der Bevölkerung darstellt, der „gerät nicht nur in einer taktischen, sondern in einer prinzipiellen Frage zur Marx-Engels’schen Theorie in Widerspruch“. Ohne Zweifel ist diese Auffassung Kelsens richtig. Dennoch gibt es in der politischen Theorie und Praxis des Marxismus genügend Anknüpfungspunkte, die den Schluß erlauben, daß von dieser Voraussetzung im konkreten Fall abgesehen und ihr Vorhandensein fingiert werden könne. Der Marx’sche Glaube an die naturnotwendige Entwicklung zum Sozialismus wirkt für jede Minderheit, die sich im Besitze der richtigen Erkenntnis glaubt, als Ansporn zur Forçierung dieser Entwicklung durch ein zielbewußtes, den Leidensweg des Proletariats verkürzendes Handeln. Der Marx’sche Zwangsläufigkeitsglaube kann nicht nur die oben skizzierte fatalistische Wirkung haben, er wirkt — insbesondere im Bolschewismus — auch als Einladung und Ermächtigung zum Putsch und zum Terror der Minderheit. Der Vergleich Kelsens mit der religiösen Ethik, die aus dem Vertrauen in die Naturnotwendigkeit einer Entwicklung zum Fatalismus führen kann, läßt sich nach dieser Richtung ergänzen. Es kann ohne weiteres belegt werden, daß die Überzeugung vom absoluten Besitz der Wahrheit in Form geoffenbarter Religion — trotz der theoretisch stets eingeräumten Verabscheuung des Zwanges — doch zur Versuchung geführt hat, das Heil des Nächsten durch Zwangsbekehrung und Überlistung herbeizuführen.

Jeder Glaube an den Besitz absoluter Wahrheit erzeugt im gesellschaftlichen Bereich die fanatische Tendenz, den außerhalb dieser Wahrheit Stehenden als Ärgernis zu empfinden, ihn durch Einreihung in die Schar der Geretteten selbst zu retten und die im Besitz der Wahrheit befindliche Gemeinschaft davor zu befreien, daß sie durch die Existenz von Ungläubigen in Frage gestellt erscheint. Ähnlich verhält es sich mit dem Marxismus als Lehre vom Heil der Gesellschaft. Auch er wirkt als psychologischer Zwang, jede sich bietende Gelegenheit zu benützen, um jenen Zustand, der zuletzt ohnehin eintreten muß, um jeden Preis herbeizuführen. Diesem Vorprellen einer bewußt handelnden Minderheit — die im Bolschewismus mit seiner „Kadertheorie“ vollendete historische Gestalt angenommen hat — kommt jedoch nicht nur der immanente Druck der marxistischen Geschichtsschau zugute. Vielmehr gibt es hiefür genügend Vorbilder in der Geschichte des Marxismus als politischer Bewegung selbst. Eduard Bernstein machte Marx und Engels mit Recht den Vorwurf, daß sie den bei anderen gerügten Fehler, „den bloßen Willen zur Triebkraft der Revolution“ zu machen, selbst begingen. So erblickt Bernstein in der Marx’schen Parteinahme für Blanqui den Beweis für eine Einstellung, die er als „Blanquismus“ bezeichnete:

Der Blanquismus ist mehr als die Theorie einer Methode, seine Methode ist viel mehr bloß der Ausfluß, das Produkt seiner tiefer liegenden politischen Theorie. Diese nun ist ganz einfach die Theorie von der unermeßlichen schöpferischen Kraft der revolutionären politischen Gewalt und ihrer Außerung, der revolutionären Expropriation.

Engels sagte in bezug auf die Situation 1848 in seiner Einleitung zu den „Klassenkämpfen in Frankreich“:

Die proletarischen Massen selbst waren sogar in Paris noch nach dem Siege absolut im unklaren über den einzuschlagenden Weg. Und doch war die Bewegung da, instinktiv, spontan, ununterdrückbar. War das nicht gerade die Lage, worin eine Revolution gelingen mußte, geleitet zwar von einer Minorität, aber diesmal nicht im Interesse der Minorität, sondern im eigentlichen Interesse der Majorität?

Die nachträgliche Einsicht „Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben“ vermag nichts an der Tatsache zu ändern, daß die von Engels geschilderte politische Situation von Marx und ihm selbst ursprünglich, trotz dem Fehlen der theoretisch festgehaltenen Voraussetzung der Mehrheit, im später verleugneten Sinne beurteilt wurde und daß im Marxismus die Möglichkeit angelegt ist, das von Marx selbst ausgesprochene Verbot, wonach „Entwicklungsstufen weder übersprungen“ noch „hinwegdekretiert“ werden dürfen, zu ignorieren und die Machtergreifung durch eine Minderheit zu bejahen. Aus einer „Bewegung der ungeheuren Mehrzahl“ wird dann eine Bewegung im vorgeblichen „Interesse der ungeheuren Mehrzahl“; dieser zweite Teil der Definition der proletarischen Bewegung im Kommunistischen Manifest wird unter stillschweigendem Fallenlassen jenes ersten Teiles überbetont.

Lenin bezieht sich in seinem polemischen Werk „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ (in ähnlichem Zusammenhang) auf eine Stelle der Engels’schen Schrift „Von der Autorität“, die beweist, daß die marxistische Theorie keinen kleinlichen Maßstab an die zahlenmäßigen Voraussetzungen der proletarischen Herrschaft anlegt. Gerade dort, wo es auf eine klare Stellungnahme gegen den autoritären Gebrauch der revolutionären Gewalt durch eine Minderheit ankäme, wird ein quantitativ unbestimmter Ausdruck gesetzt, der jede Deutungsmöglichkeit offen läßt:

Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit den denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt ...

Obwohl Max Adler recht hat, wenn er sagt, daß es bei Marx einen weiteren Revolutionsbegriff gibt, der einfach das „In-Freiheit-Setzen der Elemente der neuen Ordnung“ und nicht notwendig ein gewaltsames Vorgehen meint, ist doch mit Kelsen festzuhalten, daß die Revolution im eigentlichen marxistischen Sinne einen „diskontinuierlichen Übergang von einem Wertsystem zum anderen“ bedeutet.

Kelsen betont jedoch, daß die marxistische Theorie später eine Modifikation in Richtung auf ein friedliches Hineinwachsen in den Sozialismus erfahren hat. So schrieb Engels, der für revisionistische Modifikationen anfälligere der beiden Klassiker, im Vorwort zur englischen Ausgabe des „Kapital“ im Jahre 1886 unter Hinweis auf Marx, dieser sei zum Schluß gekommen, „daß, zumindestens in Europa, England das einzige Land ist, wo die unvermeidliche soziale Revolution gänzlich durch friedliche und gesetzliche Mittel durchgeführt werden könnte“. Aber gleich darauf heißt es: „Gewiß hat er nie vergessen, hinzuzufügen, daß er kaum erwarte, die englische herrschende Klasse werde sich ohne proslavery rebellion (Rebellion für die Sklaverei) dieser friedlichen und gesetzlichen Revolution unterwerfen“. Mit dieser Hinzufügung wird selbst dieser nur als Ausnahme von der Regel anerkannten Entwicklung Englands der Charakter einer echten Ausnahme genommen.

Wäre Marx konsequent vom Anwachsen des Proletariats zur Mehrheit der Bevölkerung im Rahmen parlamentarischer Demokratien ausgegangen, so hätte er den selben Schluß gezogen wie Kelsen, daß nämlich „das friedliche Hineinwachsen der alten in die neue Gesellschaft als die Regel angesehen werden“ müßte. Statt dessen erklärte selbst der den bolschewistischen Theorien grundsätzlich abgeneigte Otto Bauer in seinem Werk „Bolschewismus oder Sozialdemokratie?“, es könne sehr wohl geschehen, „daß die Entwicklung der Klassenkämpfe das Proletariat zur vorübergehenden Diktatur schon in einer Phase zwingt, in der es noch nicht mit den Mitteln der Demokratie herrschen kann“.

Demokratie als Diktatur

Es ist gewiß möglich, die bei Marx vorhandenen Ansätze zu einer Modifikation der Revolutionstheorie in Richtung auf eine friedliche Veränderung der Gesellschaft hervorzukehren. In konsequenter Fortsetzung dieser Interpretation kann man jenen Stellen bei Marx und Engels erhöhte Bedeutung beimessen, in denen die Form der Herrschaft des Proletariats als „demokratisch organisierte Staatsgewalt“ charakterisiert wird. Engels bezeichnet tatsächlich in der Kritik zum Erfurter Parteiprogramm die demokratische Republik als „die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats“. Hält man solcherart die bolschewistische Entwicklung für illegitim, weil der Marx’schen Theorie entgegengesetzt, so kommt man zu dem merkwürdigen Schluß, daß der Marxismus als politische Massenbewegung überhaupt keine Fortsetzung in der politischen Realität unserer Zeit findet. Will man nicht zu dieser Auskunft greifen, wird man der bolschewistischen Theorie die Anerkennung als einzig lebensfähige Fortbildung des marxistischen Lehrgebäudes schon deshalb nicht versagen können, weil es nach dem Selbstverständnis des Marxismus ausgeschlossen ist, ihn als bloße Theorie von der wirklichen Bewegung in der politischen Realität zu isolieren. Der Marxismus mit seiner „Einheit von Theorie und Praxis“, mit seiner Selbsteinschätzung als bloßes Mittel zur Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele und zur Veränderung der Wirklichkeit wird in dem Augenblick zu einer seine eigene Natur verleugnenden Sektenlehre, wo er der tatsächlichen Entwicklung entgegengehalten, anstatt beigeordnet wird. Wer dem Bolschewismus als Theorie und Praxis unter Hinweis auf Marx und Engels die Legitimation zur Berufung auf diese Autoritäten abspricht, übersieht, daß die Lehre von Marx und Engels alles andere als eindeutig ist und daß der Erfolg einer politischen Aktion für den konsequent denkenden Marxisten immer das letzte Kriterium für die Beurteilung eines politischen Phänomens sein muß. Es ist also kein Zufall, daß die Lossagung des europäischen Sozialismus vom Bolschewismus mit einer Zurückdrängung orthodox-marxistischer Gedankengänge verbunden war und daß dort, wo solche Orthodoxie noch oder schon wieder existiert, sie ihre Nähe zur politischen Realität des Bolschewismus nicht verleugnen kann.

Um wieder mit einem Vergleich aus der religiösen Sphäre zu operieren: die Abweichung der katholischen Kirche vom Text und Geist der Heiligen Schrift ändert nicht das geringste daran, daß diese Kirche die einzig konsistente und eines soziologischen Zusammenhaltes fähige historische Ausprägung christlichen Gedankengutes ist. Der Protestantismus, welcher die Gültigkeit des verfestigten und mit einer machtvollen soziologischen Realität verbundenen katholischen Dogmas leugnet, hat vergeblich versucht, sich im Bekenntnis eine Form zu erhalten, die gleichzeitig dem Freiheitsbedürfnis des protestantischen Menschen und dem Verlangen nach Wahrung eines Restes von Autorität und Gemeinsamkeit Rechnung trägt. Die Entwicklung der modernen protestantischen Theologie beweist von Bultmann und Tillich bis Albert Schweitzer, daß es kein Halten gibt, wenn man einmal eine Diskrepanz zwischen historischer Autorität und wahrer Lehre für möglich hält, und daß am Ende dieses Weges der radikale religiöse Individualismus steht. Da die Religion ihrer Natur nach Bezogenheit des Menschen auf Gott, also ein personales Verhältnis ist, kann sie diesen Weg einschlagen und die Gefahr des soziologischen Schwundes auf sich nehmen. Der marxistischen Heilslehre bleibt dies versagt, weil das wertbildende Koordinatensystem für den Marxisten die Gesellschaft und nur die Gesellschaft ist.

Das marxistische Staatsdogma

Kelsen weist nach, daß der marxistische Staatsbegriff mit dem liberalen Staatsbegriff die Einengung auf den Aspekt der Legitimation von Klasseninteressen und den rechtlichen Schutz der Ausbeutung gemeinsam hat. Demgegenüber hält Kelsen es für unzulässig, den Staat deshalb mit einem Instrument der Klassenunterdrückung zu identifizieren, weil er historisch auch diese Funktion erfüllt hat.

Otto Bauer bemühte sich in seinem Werk „Die österreichische Revolution“ unter Berufung auf die Engels’sche These vom „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ um den Nachweis, daß die Teilnahme der Sozialdemokratie an der Nachkriegsregierung sich im Einklang mit der marxistischen Theorie befunden habe. Kelsen machte geltend, daß diese Modifikation der Marx’schen Theorie in Wahrheit bereits eine „Aufhebung der Regel“ darstellte und daß der Bann der Marx’schen Staatsablehnung grundsätzlich gebrochen sei, wenn man auch nur in einem einzigen Fall die Möglichkeit einer Funktion der staatlichen Macht zugestehe, die nicht in einer Legalisierung der Ausbeutung bestehe. Auch machte er Otto Bauer darauf aufmerksam, daß er durch seine Qualifizierung der Nachkriegssituation als Vorherrschaft des Proletariats, bzw. als Volksherrschaft der Marx’schen Theorie untreu geworden sei und die Realität verkannt habe, da sich ja nur die äußeren politischen Formen, nicht aber die ökonomischen Tatsachen geändert hätten.

Eine weitere Kritik Kelsens bezog sich auf Otto Bauers Rechtfertigung der in der Nachkriegssituation geübten Selbstbeschränkung des Proletariats. Wenn Otto Bauer in diesem Zusammenhang von der Gefahr „zügelloser Gewalttätigkeit“ oder „verrohten Massen“ sprach, konnte sich Hans Kelsen die Bemerkung nicht versagen, daß „so die Revolution von der Regierungsbank aussieht, wenn Revolutionäre auf ihr sitzen“. Mit dieser Kritik traf Kelsen den wundesten Punkt des Austromarxismus, der sich als eine Position „gegen Reformismus und Bolschewismus“ verstand. Während der Bolschewismus aus dem Marxismus die Theorie des konsequenten Machtgebrauches herauslas und der Reformismus Karl Renners — der in seiner Staatsauffassung nach Kelsen sich zu Unrecht auf Marx berief — sich zur Verheißung „Der Staat wird zum Hebel des Sozialismus werden“ bekannte, konnte sich der Austromarxismus weder zur einen noch zur anderen Lösung durchringen. Er blieb als lebensunfähige Zwischenform auf der Strecke des historischen Geschehens.

Die sozialistische Bewegung hat nach dem zweiten Weltkrieg nicht die Traditionen Otto Bauers und schon gar nicht Max Adlers, sondern die Traditionen Karl Renners und Gleichgesinnter fortgesetzt. Die in der Ersten Republik geschriebenen Worte Kelsens haben auch heute Gültigkeit:

Sobald das Proletariat — nicht zuletzt gestützt auf eine demokratische Verfassung — zu einer politischen Macht geworden ist, die seine Partei unmittelbar vor die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit stellt — sei es allein, sei es in Verbindung mit bürgerlichen Parteien — die Regierung jenes Staates zu übernehmen, den seine Theorie als eine nur zum Absterben bestimmte Ausbeutungsorganisation ablehnt, sobald die Führer der proletarischen Parteien im wohlverstandenen Lebensinteresse des Proletariats den Steuerhebel jener Staatsmaschine in die Hand nehmen müssen, die nur zu zerbrechen ihr politischer Katechismus sie gelehrt hat, muß sich dieser als unzulänglich erweisen. Denn davon, daß der Staatsapparat möglichst unversehrt in ihre Hände komme, hängt das Wohl und Wehe eben jener Klasse ab. ... Das ist der Augenblick, in dem die politische Theorie des Marxismus zusammenbrechen muß. Und dieser Zusammenbruch vollzieht sich vor unseren Augen.

Hans Kelsen sagt in der Vorrede zur zweiten Auflage seines Werkes „Sozialismus und Staat“, daß sich seine Schrift nicht gegen den Sozialismus richte und daß nicht das sozialistische Ideal, sondern nur die vom Marxismus behauptete staatslose Verwirklichung zur Diskussion stehe. Die Beiträge Kelsens zur internen Diskussion des Sozialismus zeigen, daß er nicht gegen den Sozialismus wirken, sondern ihm im Gegenteil Förderung angedeihen lassen wollte. Als Kämpfer für Demokratie und Menschenwürde, als Verteidiger geistiger Freiheit und als Gegner des Dogmatismus und der Intoleranz steht er jener politischen Bewegung nahe, die als einzige der österreichischen Geschichte — wenn auch vielleicht auf einem falschen Weg — alle von Kelsen hochgehaltenen Werte bewahrt und niemals verraten hat. Die Anregungen Kelsens sind für die sozialistische Bewegung ein Ansporn, zu einem Selbstverständnis zu gelangen, das seiner Kritik standhält. Sie könnte sich dann das gute Zeugnis ausstellen, den höchsten Anforderungen der Gegenwart gewachsen zu sein.

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