FORVM, No. 309/310
September
1979

Klapp off, Rom!

Diskussion bei der Anti-UNO

Während sich bei der offiziellen UNO-Veranstaltung die Militärdiktatoren der Dritten Welt um ein paar Brosamen vom Tisch der Multis balgten, während auf der zugehörigen Fachleutekonferenz im Wiener Eisenbahnerheim die Konsulenten der Weltbank Wissenschaft markierten, fand die einzig bemerkenswerte Veranstaltung des UNO/Anti-UNO-Zirkus bei den jungen Oppositionellen des „Forums alternativ“ statt. Im Saal der Wiener Volkshochschule Margareten diskutierten am 23. August 1979 vier Stars der Alternativszene miteinander und mit dem Publikum.

Ökodorf im Wiener Prater Ende August 1979,
Alternative zur UNO-Konferenz über Techniktransfer in die Dritte Welt

Behält Marx recht?

ILLICH: Ich bin im Augenblick auf ein paar Tage hier und bin sehr, sehr froh, daß ich die Gelegenheit hab, euch kennenzulernen.

WEISH: Mein Name ist Peter Weish, ich bin seit einigen Jahren tätig in einem Institut für Umweltwissenschaften und Naturschutz und befasse mich ganz allgemein mit Problemen der Ökologie, mit gesellschaftlichen Aspekten der lebensfeindlichen Technik im allgemeinen.

Vielleicht sollten wir mit der Frage beginnen, wozu eine Produktivkraftentwicklung überhaupt sein soll. Vielleicht Herr Harich, wenn ihm diese Frage gefällt.

HARICH: Ja, ich habe ja viele Jahre lang, seit früher Jugend, Vorträge und Vorlesungen gehalten darüber, daß die Revolution dafür da ist, die Produktivkräfte recht zur Entfaltung zu bringen. Und ich hab selber in meinem Heimatland, der DDR, von Anfang an eine Umwälzung, eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung miterlebt und habe in deren Zuge festgestellt, daß das, was ich den Studenten in den Vorlesungen erzählte, als klassischen Marxismus, überhaupt gar nicht stimmte. Und das, was an der DDR sympathisch war und ist, steht der Entwicklung der Produktivkräfte im Wege, nämlich die Sorge für den Menschen, und was an ihr unsympathisch ist, resultiert aus der Konkurrenzsituation der mit höchsten Produktivkräften ausgestatteten Bundesrepublik. Und das hat mich mit der Zeit immer mehr irritiert. Und diese Probleme der Ökologie, die mich dann vom Anfang der siebziger Jahre ergriffen haben, zeigten, daß gerade Höherentwicklung von Produktivkräften auch unsere Lebensgrundlagen untergraben kann und untergraben wird, wenn zum Beispiel Produktivität der Arbeit durch hohen Verbrauch fossiler Energie einerseits die Gesundheit derer, die mit diesen Maschinen, Traktoren usw. zu tun haben, untergräbt, andererseits die Luft verpestet, abscheulichen Lärm verursacht usw., daß das also eines der Dinge ist, die wir in Frage stellen müssen. Ich glaube, diese Grundthese von Marx, aus dem berühmten Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“: Die Produktionsverhältnisse schlagen um von Entwicklungsbedingungen der Produktivkräfte in deren Hemmschunh, daraus entsteht die soziale Revolution, und deren Ergebnis ist dann eine Höherentwicklung der Produktivkräfte ..., daß wir die heute mit ’nem großen Fragezeichen versehen müssen, daß aber vielleicht doch daran etwas wahr ist, nur eben anders verstanden werden muß.

Technik verschärft Krise

HERBIG: Wir befinden uns zur Zeit an einem Ausgangspunkt einer Krise, einer Wirtschaftskrise, und am Anfang wahrscheinlich einer neuen Wirtschaftskrise. Wenn wir uns fragen, wodurch diese Krise hervorgerufen wurde, so sind die Ursachen dieser Krise ganz bestimmt nicht in dem zu suchen, wovor der Club of Rome vor einigen Jahren so eindringlich gewarnt hat. Es waren also bisher, in den Krisen der Vergangenheit, weder übermäßige Rohstoffverknappungen oder Verteuerungen noch ökologische Probleme, Umweltprobleme schuld, sondern schuld war wohl ein verändertes Konsumverhalten des Käufers. Das heißt, es wurden Waren produziert, die nicht mehr abgesetzt wurden. Aber sie wurden nicht abgesetzt, weil kein Bedarf für diese Waren dagewesen wäre innerhalb der traditionellen Konsumstruktur, sondern weil diejenigen Bevölkerungsschichten, die diese Waren auch gebraucht hätten, einfach die Mittel nicht zur Verfügung hatten.

Eine zweite Ursache der Arbeitslosigkeit seh ich darin, was Fröbel, Heinrichs und Kreye „die neue internationale Arbeitsteilung“ genannt haben, nämlich, daß ganze Industrien aus technisch reifen Sektoren verlagert werden, das sind also überwiegend nicht mal arbeitsintensive Industrien, sondern einfach belastende Industrien, beispielsweise das Verlöten von irgendwelchen Elementen der Mikroelektronik, die verlagert wurden aus Industrieländern in Staaten der Dritten Welt. Das hat ganz entscheidend auch zur Arbeitslosigkeit beigetragen.

Die Lösung, und darauf kommt es mir jetzt an, die von den Forschungsministerien unserer Gesellschaft, wie jetzt in der Bundesrepublik, vorgeschlagen wird, das ist forçierte technologische Innovation. Wenn man jetzt weiterfragt, wozu diese technologische Innovation, so wird nicht gesagt, ganz einfach um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen und den Wachstumimperativ der kapitalistischen Industriegesellschaft zu befriedigen, sondern es werden konkrete Ziele genannt, nämlich einen Konsumnachholbedarf ärmerer Bevölkerungsschichten, zweitens Wirtschaftshilfen für die unterentwickelte Welt, drittens die Lösung der Ressourcen- und Umweltprobleme, die nur auf dem Rücken einer wachsenden Volkswirtschaft möglich sei, und viertens die Humanisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Jetzt müßte man untersuchen, ob die Technologien, die gefördert werden und die den Schwerpunkt dieses Innovationsstrebens bilden, tatsächlich diese vier wichtigsten Faktoren überhaupt befriedigen können, oder ob sie nicht die gleichen Schwierigkeiten, die wir zur Zeit haben, auf einem höheren Niveau reproduzieren und in Wirklichkeit gar nichts lösen, sondern die ökologischen, die sozialen und die wirtschaftlichen Probleme, Erste und Dritte Welt, weiter verschärfen würden. Ich behaupte: Ja.

Bedürfnisanstalt Politik

ILLICH: Ich komm gerade jetzt aus Indien zurück, wo ich mit einer Gruppe von Freunden versuche, ein Wörterbuch, ein volkstümliches Wörterbuch der dominierenden Neologismen, Neuschaffung von Wörtern, zusammenzustellen, so hundert Wörter maximal, die alle über das Englische in die verschiedenen indischen Sprachen und ins indische Englisch hineingedrungen sind, Wörter wie „need“ (Bedürfnis). Den Wiener brauch ich gar nicht darauf aufmerksam zu machen, daß Bedürfnis sich — in meiner Jugend wenigstens — auf Bedürfnisanstalten bezogen hat. Bedürfnis als Hauptwort hat man nicht gehabt, wenn man nicht aufs Klo mußte. Entwicklung — das Wort, kann ich Ihnen nachweisen, kommt (außer bei Schumpeter) in bezug auf das, worauf wir es heute anwenden, nicht vor vor dem 10. Jänner ’49, als es Truman angewendet hat. Bis dahin hat man nicht Länder entwickelt, sondern „real estate“, Grundstücke, hat man von Spezies, von Arten gesprochen, die sich entwickeln, und nicht von Menschen. Diejenigen, die alt genug sind, sollten mir bitte da helfen, denn für euch hat Entwicklung schon immer etwas Gütiges, eine Hilfe, eine Last des weißen Menschen bedeutet. Wörter wie Problem — soziale Probleme hat es erst gegeben, als ich schon 30 Jahre alt war. Lösungen hat es schon früher gegeben, Hitler war ganz wesentlich mit der „Endlösung“ ein Pionier. Planung — es hat schon sozialistische Republiken gegeben, bevor das Wort Planung nur gedacht werden konnte, im wesentlichen kommt es von Stalin, Roosevelt und Hitler mehr oder weniger gleichzeitig in Gebrauch. Diese Wörter und viele andere zu beschreiben, damit man wiederum einmal mit vernünftigen traditionellen Wörtern an das tägliche Leben herangehen kann, war dort meine Aufgabe. Etwas Ähnliches, glaub ich, müssen wir tun, wenn wir von der Entwicklung der Produktivkräfte sprechen.

Denn unser heutiges Weltbild und Menschenbild ist durch eine ganz eigenartige Philosophie bestimmt, die kürzlich Louis Dumont in einem interessanten Buch „Von Mandeville bis Marx“ beschrieben hat. Der Begriff, daß der Mensch ein Lohnarbeiter ist, zur Lohnarbeit oder zur Fabriksarbeit, zur sozialisierten Arbeit geschaffen ist, und daß er in dieser sozialisierten, überwachten, bürokratisch verwalteten und im allgemeinen bezahlten Arbeit für all jene Bedürfnisse Produkte schafft, von denen dann das Leben abhängt. Es ist höchste Zeit, daß wir mit ein bißchen Witz und Humor uns überlegen, wie es möglich war, daß wir an den Menschen als Arbeiter so lange glauben konnten, der Bedürfnisse hat, die im wesentlichen sich auf Ware beziehen. Nur innerhalb dieser eigenartigen Herausformung einer Denkstruktur, die vor hundert Jahren nicht nachvollziehbar war, die für die meisten Menschen heute noch, außerhalb Europas, nur sehr schwer nachvollziehbar ist, können wir die Frage nach der Produktivkraft, was das eigentlich bedeutet, stellen, können wir herausfinden, wie sehr tief philosophisch Marx von Mandeville, von Quesnay, von Adam Smith, von Ricardo abhängig war, als er von der Entwicklung der Produktivkräfte sprach. Und ganz besonders: Nur wenn wir versuchen, uns wieder mit gesunden Worten zu verständigen, werden wir verstehen, wie gleichzeitig mit der Herausbildung der Idee vom Homo economicus dem Menschen, der wesentlich als Individuum durch marginale Entscheidungen in seinen Tätigkeiten bestimmt wird, sich eine andere, im allgemeinen verdrängte Vorstellung von der zweiten Hälfte, der nebensächlichen, der schwachen Hälfte der Menschheit entwickelt hat, nämlich der domestizierten Frau im häuslichen Bereich.

Daß also der Begriff, die Anschauung, das Menschenbild vom Homo industrialis zweigeschlechtlich auftritt, als Vir economicus, Vir (der Mann) laborans und die Femina domestica. Und daß sich nicht nur eine, sondern zwei ganz radikal neue Tätigkeitsarten entwickelt haben durch die Kapitalisation der Technik im Dienst der Warenproduktion, nämlich die Lohnarbeit und die standardisierte, auf Produktivität hingerichtete unbezahlte Tätigkeit, die bisher hauptsächlich liebenswürdigerweise für das sogenannte schwächere Geschlecht reserviert worden ist — und nur dann werden wir verstehen, daß in den Diskussionen, von denen ich einige Dokumente gelesen habe, hier in der UNCSTD-Versammlung (Sie können das im Hauptdokument finden), im wesentlichen vorgeschlagen wird, erlauben Sie mir diese Karikatur, immer mehr Arbeitslosen im Lauf der nächsten Jahre, hauptsächlich Männern, in Zukunft auch das Privileg zu geben, so wie Frauen bisher, als Leibeigene unbezahlt an der Produktivität teilnehmen zu können, ohne aber Subsistenztätigkeiten verrichten zu können. Das sind die Probleme, mit denen ich mich befasse, über die ich irgendwie beitragen kann zu dieser Diskussion.

Ivan Illich

Wachstum ist tödlich, Einigkeit langweilig

WEISH: Vor vielen Jahren noch wurde Japan immer als das Musterbeispiel für richtiges Wirtschaften hingestellt, denn in Japan wurde sehr viel in Industrie investiert, und die Lohnentwicklung blieb weit zurück. Und sehr viele hatten damals die Ansicht, das sei doch der bessere Weg als zum Beispiel sehr viel mehr Gewinn für Löhne auszugeben und eine weniger sicher gestützte Industrie zu haben, die nicht so schnell wachsen kann. Aber nun die ökologischen Folgen dieser Produktivkraftentwicklung, dieses Wirtschaftswachstums, die sind nirgends so deutlich zu sehen wie in Japan, wie ein bekannter Titel sagt: Japans ökologisches Harakiri, die tödlichen Grenzen des Wachstums. Also gerade dort hat man verfolgen können, daß dieser Typ der Produktion, der ohne Rücksicht auf die Lebensgrundlagen abläuft, Katastrophen nach sich zieht, Spätwirkungen hervorruft, Vergiftungskatastrophen usw.

Etwas anderes sehen wir vielleicht, wenn wir in die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs blicken: Dort, wo nicht die Profiinteressen den Ton angeben, haben wir im Prinzip die gleichen Probleme, sogar in vielen Regionen noch verschärft. Ich habe mit Polen, mit Ostdeutschen gesprochen, und dort sind die Umweltschützer noch viel ärmer dran, weil hier steht eben nicht die Gewinnmaximierung an der Spitze des Überlegens, sondern die Produktionsmaximierung. Im Prinzip laufen die gleichen Zerstörungsprozesse völlig rücksichtslos dahin. Das hat ja Ivan Illich schon vor Jahren auch dargestellt, indem er gesagt hat, es kommt nicht auf die Aneignung des Werkzeugs, der Struktur an, sondern auf die Struktur selbst. Und es kommt daher meiner Ansicht auch drauf an, sich anzusehen: Ja ist denn das, was wir heute, sagen wir, als Produktivkraftentwicklung bezeichnen, überhaupt menschengerecht, ist das überhaupt geeignet, im Einklang mit der Natur zu funktionieren?

HARICH: Ja also, ich fürchte, daß nach den bisherigen Ausführungen der Eindruck entstehen könnte, wir wären uns alle ein bißchen zu einig. Und deshalb möchte ich jetzt um des lieben guten Pluralismus willen mal ein paar polemische Einwände gegen meine verehrten Vorredner und Freunde hier einbringen. Zunächst einmal zu Jost Herbig. Er hat gesagt, der Club of Rome hätte im Grunde genommen gegen eine gesellschaftliche Krise eine ökonomische Krise refeltieren wollen, und das sei mißverstanden worden, also dieses Buch: Grenzen des Wachstums sei mißverstanden worden als eine Reflexion der Krise zwischen Mensch und Natur. Tatsächlich ist dieses Buch ja aber nicht nur konzipiert worden, sondern auch im Jahre 1972 erschienen und berühmt geworden noch im Zeichen einer Hochkonjunktur. Und die Krise hat dann erst später eingesetzt, die ökonomische Krise, in der wir heute noch drinstehen in der westlichen Welt, und unter dem Eindruck dieser Krise ist dann der Club of Rome gewissermaßen zurückgepfiffen worden Stück für Stück und hat seine Kritik am Wirtschaftswachstum aufgeben müssen, am stärksten unter Druck gesetzt 1976 im Frühjahr, bei seiner Tagung in Philadelphia, durch den damaligen Vizepräsidenten Nelson Rockefeller, der sagte, es ginge nicht darum, einen immer kleiner werdenden Kuchen gerechter zu verteilen, sondern Vertrauen dazu zu haben, daß der Kuchen wächst und wächst und wächst.

Und kurz danach erklärten die Inspiratoren des Club of Rome: Ja, wir haben eigentlich nie behauptet, daß wir gegen Wirtschaftswachstum seien, das waren ja keine Berichte des Club of Rome, sondern an den Club of Rome. Und haben da also einen Schritt zurück gemacht und sind jetzt immer weiter zurückgegangen bis zu dieser neuesten Studie: „Das menschliche Dilemma“, in der sich die Ungeheuerlichkeit findet, wir wollen nicht nur das Überleben der Menschheit, sondern wir wollen das Überleben in Menschenwürde, und die Menschenwürde ist uns wichtiger als das Überleben überhaupt. Jetzt versuch ich mir vorzustellen, wie der Untergang der Menschheit die Menschenwürde ...

Meiner Meinung nach ist der historische Ort des Club of Rome doch etwas anders anzusiedeln in bezug auf die Krisen in der Welt, als es hier nach Jost Herbigs Ausführungen klang. Bei Ivan Illich muß ich sagen: Du sprachst nur von der Einführung europäischer Wörter und englischer Wörter in Indien und nicht allgemein von dem Alter der Begriffe Entwicklung, Bedürfnis, Planung usw. Nur in dem Sinn?

ILLICH: Nein, nein!

3 Bände Marx, aber nie onaniert

HARICH: Oder überhaupt? Na also, bei Marx kommt das Wort Bedürfnis nicht nur im Zusammenhang mit Bedürfnisanstalt vor. Da heißt es zum Beispiel, die Produktion bringt nicht nur ein Objekt für das Bedürfnis hervor, sondern sie produziert auch ein Bedürfnis für das Objekt — und nicht nur für die Bedürfnisanstalt. Und auch das Wort Planung, Wirtschaftsplanung, ist auch in dem Kapital von Marx angelegt, vielleicht nicht mit diesem Terminus, aber doch in der Sache: Das planvolle Regeln der Produktion kommt ganz gewiß schon im ersten Band des Kapitals vor, mindestens in dem dritten Band. Ich weiß jetzt nicht so genau ... es gibt ja den berühmten Ehrlichkeitstest, man soll einen Menschen erst einmal fragen, ob er jemals in seinem Leben onaniert hat, und dann die zweite Frage stellen, ob er alle drei Bände des Kapitals gelesen hat, und dann wird man feststellen, alle, die in ihrem Leben nie onaniert haben, haben immer alle drei Bände gelesen (Lachen, Beifall), auf die kann man sich dann überhaupt nicht verlassen. Aber im dritten Band steht bestimmt: die planvolle Regelung der Produktion, die dadurch durchsichtigen Verhältnisse.

Marx, abhängig von Mandeville, von Adam Smith, von Ricardo, völlig klar, hat Illich recht, aber es ist nichtsdestoweniger oder gerade deshalb eine große Sache, daß der größte Ökonom des 19. Jahrhunderts, der damals unter diesen Einflüssen stehen mußte und für den damals die Rücksicht auf die Naturgegebenheiten, die Naturvoraussetzungen der Produktion im 19. Jahrhundert eine relative Quantité négligeable, eine relative Größe sein mußte, daß gerade der ganz scharf unterschieden hat zwischen Gebrauchswert und Tauschwert und den Tauschwert als etwas interpretiert hat, was dem Gebrauchswert aufliegt, was den Gebrauchswert voraussetzt, infolgedessen für unsere Zeit, in der wir die Akzente anders setzen müssen, im Zusammenhang mit der Verwirklichung des Kommunismus, den Übergang von einer Tauschwertökonomie zu einer Gebrauchswertökonomie von ferne inauguriert hat, und es gibt breite Stellen im Kapital von Marx und in Stellen von Engels, wo sie Wert legen auf die Naturgrundlage der menschlichen Produktion und des menschlichen Lebens und für deren Schutz vor Zerstörung eintreten. Und denken wir doch mal an folgendes: Die Sozialdemokraten der Eisenacher und der Lassalleaner Richtung haben auf ihrem Vereinigungsparteitag in Gotha ein Programm ausgearbeitet, das beginnt mit den Worten: Die Arbeit ist Quelle allen Reichtums. Marx schrieb gegen dieses Programm seine „Kritik des Gothaer Programms“, und der erste Punkt, den er darin kritisierte, war diese Aussage des Gothaer Programms, und Marx schrieb: Nein, die Arbeit ist nicht die Quelle allen Reichtums schlechthin, sondern die Natur ist die Quelle der Gebrauchswerte, und in ihnen besteht ja der sachliche Reichtum neben der Arbeit, die selber nur die Äußerung einer Naturkraft, nämlich der menschlichen Arbeitskraft, ist. Da haben wir die Natur bei Marx im Unterschied zu den bürgerlichen Ökonomen seiner Zeit ganz klar und deutlich akzentuiert.

Nur, diese Dinge sind von der realen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts und von vielen marxistischen Epigonen als unwesentlich beiseite geschoben worden, als Selbstverständlichkeit überlesen worden, und heute sind wir wegen der Bedrohung der Natur in Gestalt der Natur, die unser Leben trägt, aber auch in der Gestalt der Natur und Gesundheit des Arbeiters genötigt, unter den heutigen Verhältnissen der Umweltzerstörung, der Zerstörung der Gesundheit, der Zerstörung der menschlichen Psyche, auf diese Dinge im Marxismus als die Tradition, die uns heute mehr zu sagen hat als das Erbe von Mandeville bis Ricardo, nicht wahr, größeren Wert zu legen. Das ist aber eine Verschiebung der Akzente, die sich unter dem Begriff Dialektik durchaus unterbringen läßt und mit der wir durchaus mit dem Anspruch auftreten können, orthodoxe Marxisten zu bleiben. Denn daß man in anderen Zeiten andere Dinge in den Vordergrund schieben muß, unter neuen Bedingungen, das ist ein Grundsatz der Dialektik des Marxismus.

Das gegen Ivan Illich. Und damit glaub ich meinen Beitrag zur Überwindung von Uniformität zwischen uns und zum Pluralismus geleistet zu haben.

Wolfgang Harich

Zurück zur Hausarbeit?

ILLICH: Ich hab halt eine Sorge, daß wir 1980 am Übergang zu einer Gebrauchswertökonomie stehen. Davor habe ich furchtbare Angst. Ökonomisches Wachstum, Wachstum, das Ökonomen feststellen und berechnen können, ist sehr schwer bedroht, in reichen und in armen Ländern. Die beste Art, um nachzuweisen, daß wir ’85 mehr Wachstum haben werden als ’80, besteht darin, ökonomische Mittel zu entwickeln, Methoden zu entwickeln, um immer mehr Tätigkeiten, die derzeit von Ökonomen in den informalen Sektor abgeschoben werden, ökonomisch zu bemessen. Das kann sowohl in einer linksmarxistischen — ich will nicht sagen, im richtigen Marxismus oder falschen Marxismus, aber in einer marxistischen — Art geschehen, zum Beispiel nachzuweisen, daß schließlich und endlich in China in den Kommunen viele Leistungen geschaffen werden, die eigentlich in das Nationalprodukt eingerechnet werden sollten, oder von Herrn Milton Friedman und seinen Schülern, der extremen Rechten der Schule von Chicago, die Form annehmen, die es bei Gary Becker annimmt, in seiner „Economics of Marriage“, wo er nachweist, daß das Sexualbenehmen der Amerikaner mit 17 Variablen vollständig ökonomisiert werden kann (Lachen) ... Eine Studie, um das ein bißchen lächerlich zu machen, läuft einstweilen unter dem provisorischen Titel: Sur l’économie de la masturbation. Wennschon — dennschon!

Nun, ich sehe deshalb die Ökonomisation des informalen Sektors, die staatliche Administration, Verwaltung unbezahlter Tätigkeiten als den wichtigsten Vorschlag, um das Wachstumsethos aufrechterhalten zu können. Und im Namen angeblich eines Anwachsens der Lebensqualität anstatt der Warenmasse weiter an dem Bild des Homo economicus festzuhalten, der eben Marx und Adam Smith, der heute Leontieff und Milton Friedman gemeinsam ist. Ich glaube deshalb, daß nichts wichtiger ist in diesem Augenblick, als in dem sogenannten informalen Sektor, den nicht im Augenblick mit formellen ökonomischen Begriffen beschreibbaren Tätigkeiten, die zum Überleben notwendig sind, wenigstens zwei extreme Tätigkeitsformen zu unterscheiden, für die eben auf der einen Seite die domestizierte Leibeigenschaft hauptsächlich der Frau im Industriesystem symbolisch ist, während auf der anderen Seite die Subsistenztätigkeiten durch Kultur bestimmt traditionell typisch sind. Das beste Wort hiefür find ich im Lateinischen: Die alten römischen Juristen hatten noch ein Wort, mit dem das Gegenteil der Ware bezeichnet werden konnte, das Wort war Vernaculum, im Englischen, Französischen, Spanischen haben wir es noch als „vernacular language“, „le vernaculaire“, „idioma vernacular“. Im Deutschen ist dieses lateinische Fremdwort nie eingegangen, um jene Sprache zu bezeichnen, die man von Menschen lernt, die etwas zueinander sagen, und die man riechen und spüren kann, im Gegensatz zur vom Lehrer unterrichteten Muttersprache, die man in der Schule lernt.

Ich will jetzt lieber von Vernaculartätigkeiten und industrialisierter Domestizität, von domestizierter Industrialität sprechen. Meine Angst ist, wenn ich auf einen wichtigen Punkt heute aufmerksam machen möchte, so wie vor 15 Jahren auf das Erziehungs- und Schulproblem, die Gefahr, daß das Wort „Übergang zu einer Gebrauchswertgesellschaft“ nicht unterscheidet zwischen der Reproduktions-, der Regenerations- und Motivationstätigkeit der Frau im häuslichen Bereich einerseits oder dem Pflichtpendeln ihres angestellten Mannes jeden Tag zwei Stunden oder zweieinhalb Stunden zwischen Wohnung und Fabrik, und dann in der Fabrik zu arbeiten weitere zwei Stunden, um das Geld zu verdienen, das in das Pflichtpendeln investiert werden muß, das ist auch eine unbezahlte, domestizierte, industriebezogene, produktionsorientierte Tätigkeit. Wir müssen lernen, diese Art von Tätigkeiten zu unterscheiden von wirklicher Produktion der Subsistenz. Und deshalb scheint mir heute die Geschichte der Entwicklung der weiblichen Hausarbeit, seit die Frauen eben als schwächeres Geschlecht bestimmt wurden und biologisch als Frauen beschrieben wurden in den ersten 20, 30 Jahren des 19. Jahrhunderts, so wichtig, weil wir hier klarer sehen können, wie unbezahlte Tätigkeit angebliche Gebrauchswerte schafft, die in Wirklichkeit nichts anderes sind als das notwendige Komplement der Lohnarbeit, die als produktiv dargestellt wird, und gleichzeitig sehen, wie alle uns derzeit zur Verfügung stehenden Ideologien rechts und links uns diese Reproduktionstätigkeiten der Frau als ein Überleben der Subsistenz darstellen, während sie ja genau das Gegenteil davon sind. Ich weiß nicht, ob ich mich damit klar mache (Lachen).

EIN MÄDCHEN: Kannste das nicht einfacher sagen?

Technik und Kreativität

Diplom fürs Kinderkriegen

ILLICH: Moment! Einfacher gesagt (Lachen): Es gibt eine ganze Reihe von unbezahlten Tätigkeiten, die zum Überleben notwendig sind. Die gibt es auch in jenen Gesellschaften, in denen, durch Manipulation von Statistik, einfach vollständige Berufstätigkeit und keine Arbeitslosigkeit existiert. Die gibt es in China, die gibt es in der DDR, und die gibt es in der Bundesrepublik. Die unbezahlte Tätigkeit gibt es auch in Indien, indische unbezahlte Tätigkeit oder die unbezahlte Tätigkeit von Mann und Frau im ganzen Haus im 17. Jahrhundert war im allgemeinen darauf ausgerichtet, mit sehr wenig Verbrauch von Ware und ohne Produktion von Ware unmittelbar Lebensmöglichkeiten zu schaffen. Die heutige unbezahlte Tätigkeit, die als solche einfach bisher nicht klar analysiert wurde, schafft nicht unmittelbare Lebensmöglichkeit, sondern ist im wesentlichen auf die Produktion von mehr Ware ausgerichtet, ist total der Lohnarbeit untergeordnet und wird im Lauf der nächsten Jahre standardisiert werden.

Ganz einfaches Beispiel: Sie sind eine Frau, Sie haben wahrscheinlich die Fähigkeit, wenn Sie sollen, Kinder zu gebären. Das dürfen Sie in Schweden oder in Kalifornien nicht mehr tun, wenn Sie es nicht unter Verbrauch gynäkologischer Dienstleistungen tun. In Schweden werden Sie in eine Zwangsjacke gesteckt, wenn Sie sich mit dieser Tätigkeit befassen wollen und vom Arzt allein gelassen werden wollen, und werden ins Spital abtransportiert. Nun weiß ich von einem Staat in den Vereinigten Staaten, wo sich das Parlament gerade mit der Frage beschäftigt, ob man doch Frauen nicht die Erlaubnis geben soll, Kinder ohne Spitalsverbrauch, ohne Spitalsbettbelegung auf die Welt zu bringen. Und ich kenne einen Vorschlag, der dort dem Gesetzgeber gemacht wurde: Einverstanden, Frauen dürfen wieder zu Hause Kinder haben, aber nur, wenn sie vorher eine Prüfung abgelegt haben, daß sie ausgebildete Gebärerinnen sind (Lachen). Nun, die Tätigkeit einer ausgebildeten Gebärerin, die verantwortlich gemacht werden kann als Subprofessionelle für ihre berufliche Tätigkeit, ist es was anderes als die Tätigkeit, durch die die meisten Generationen in den meisten Kulturen, die wir kennen, auf die Welt gekommen sind. Ist das klar? Ich gebe Ihnen das als Beispiel.

Sie haben ebenso im Erziehungsbereich immer mehr Versuche, nicht weniger Geld für den Unterricht auszugeben, Selbstunterricht, ein zutiefst onanistischer Begriff, Selbstunterricht auszubilden oder Maschinenunterricht. Da würd ich beinah in die Pornoshops gehen dafür, durch Maschinen unterrichtet zu werden und dann Prüfungen abzulegen, also selbst die Ware, im Eigenbetrieb die Ware Erziehung standardisiert zu schaffen. Das ist etwas ganz anderes als lernen, was man lernen möchte. Ich weiß nicht, ob ich mich klar mache. Mir scheint, daß im Augenblick wir nicht vorsichtig genug sein können, von einem Übergang zur Gebrauchswertökonomie zu sprechen.

Krebs & Müll sind keine Fragen der Technik

HERBIG: Wir sollten uns doch einmal vorstellen, daß in den Forschungsministerien der großen Industriestaaten jährlich Milliarden, -zig Milliarden ausgegeben werden für technische Innovationen, die irgendwann mal auf die Gesellschaft zukommen werden. In Form von Atombombe, der größte Teil geht in Rüstung, über den sollten wir vielleicht heute nicht reden, das würde ins Uferlose führen, sondern über den zivilen. Es werden ganz konkrete gesellschaftliche Bedürfnisse festgestellt, beispielsweise das Bedürfnis nach Gesundheit, das Bedürfnis nach einer gesunden Umwelt, und dafür werden eben diese Forschungsgelder ausgegeben. Wenn beispielsweise die USA in einem übereilten Kampf gegen den Krebs Milliarden von Dollar ausgeben, mit dem Ziel Sieg über den Krebs, dann wird das Forschungsprogramm mit kräftiger Unterstützung der Industrie so strukturiert, daß man nach Möglichkeiten sucht, Krebs zu heilen, was weiß Gott wichtig ist, und dafür etwa 90 Prozent der zur Verfügung stehenden Mittel ausgibt. Was sehr viel naheliegender wäre, nämlich zu untersuchen, durch welche Faktoren Krebs entsteht — zu 80 Prozent durch Umweltbedingungen und die Art, wie man lebt und arbeitet. Für diese Untersuchung, wie entsteht Krebs und wie kann er verhindert werden, wird nur formell ein ganz schäbiger Betrag ausgegeben.

WEISH: Heute glauben die meisten Menschen daran, daß alle Probleme auch technisch gelöst werden könnten. Das ist einer der größten Irrtümer der Gegenwart. Man sucht bei jedem Problem gleich nach einer technischen Lösung, und häufig schafft man damit nur neue Probleme. Das beste schlechte Beispiel, das wir keninen, ist die Atomenergie, denn hier wird ein Scheinproblem: Wo nehme ich immer mehr und immer billigere Energie her? beantwortet mit Atomenergie, und dann kommen sehr viele Folgeprobleme: Was mach ich mit dem Atommüll? usw., Fragen, die erst hinterher akut werden. So schafft man dann sehr viele Probleme, die technisch überhaupt nicht mehr lösbar sind, die auf politischer und gesellschaftlicher Ebene liegen.

Vieles, was heute geschaffen wird, ist einfach überflüssig, wenn man die Fragestellung besser anwendet. Also zum Beispiel: die Müllfrage. Es wird immer wieder gesagt: Ja, wir ersticken im Müll, und jetzt müßte man Methoden finden, um den Müll wieder technisch zu bewältigen, kompostieren oder verbrennen, und da gibt’s wieder andere Probleme, oder mit großem Aufwand aus den Abfallhalden wiederum Rohstoffe gewinnen, was sehr viel Energie braucht. Dann haben wieder die Leute recht, wenn sie sagen, rezyklieren kostet sehr viel Energie, gerade wenn man die Abfallhalden als neue Rohstoffquelle nutzen will. Der ökologische Ansatz zu dem Problem des Mülls beispielsweise wäre: Am besten ist die Vermeidung von Müll. Also, der ökologische Ansatz versucht immer, an die Wurzel des Problems zu gehen, und wir sehen dann, daß vieles viel besser, viel einfacher, viel eleganter gemacht werden kann, wenn man nicht sozusagen unter der Hypnose steht, man muß etwas unbedingt technisch lösen.

Vielleicht wenn wir Herrn Harich da haben, schlage ich vor, die Frage anzugehen, weil ich glaube, dort sind unsere größten Differenzen: Wie soll das System dann ausschauen, wenn wir schon ein bissl spintisieren, in dem Produktivkräfte und ökologische Grundlagen nicht im Konflikt miteinander stehen, welche gesellschaftlichen Qualitäten soll dieses System haben?

Tappt der Osten auch in die Wohlstandsfalle?

HARICH: Ja, ich wollte, äh, äh!, es fällt mir jetzt bei den Äußerungen von Peter Weish, den letzten, ein, was ich vorhin vergessen hatte oder aus verkalktem Hirn, also ’n Stück Kalk ist im Moment schnell abgeplatzt, äh, äh!, auf ihn zu erwidern. Ich komm jetzt zurück auf seine Äußerung von vorhin. Er sagte da, es gäbe umweltzerstörende Produktion unter allen Produktionsverhältnissen, unter allen Systemen, in Ost und West gleichermaßen schädlich, ja. Das stimmt so einfach nicht. Und zwar ist interessanterweise der Grad der Umweltzerstörung auch in den industrialisierten Gebieten der Sowjetunion geringer als anderswo in Europa. Ich sage in Europa und schließe damit das außersowjetische Osteuropa mit ein, weil dort kombiniert auftreten strengere Auflagen für Umweltschutz als irgendwo sonst, jawoll, mit einem geringeren Grad an Arbeitsproduktivität, interessanterweise, als woanders in Europa. Mit einem geringeren Grad an Arbeitsproduktivität als, sagen wir mal zum Beispiel, in der DDR oder gar in Westdeutschland. Das ist aber ein Sonderfall, in den nun wieder eingreift das verhältnismäßig dicht besiedelte Territorium der Sowjetunion, die Größe des Landes und die reichen Ressourcen an unberührter Natur, die ja nicht eben dem Sozialismus zuzuschreiben sind.

Aber das ist ein Sonderfall. Wichtig zu beachten ist ein Buch, das viel zuwenig in der Diskussion ist und das jedem hier im Saal (ich werde mir Provision zahlen lassen von den Autoren!) zur Lektüre dringend empfohlen sei: „Wege aus der Wohlstandsfalle“ von den Schweizern Winzwanger und Ginsburg, die sind sehr wichtig. Die unterscheiden in der Umweltschutzfrage zwischen „Durchbrecherstrategie“ und „Begrenzungsstrategie“. Die Durchbrecherstrategie macht einen Umweltschaden wieder gut mit dem Aufbau einer neuen Industrie, die, sagen wir, Filter zum Beispiel herstellt und andere Dinge, die Produkte herstellt zur Umweltschädenbeseitigung. Länder mit einer hochentwickelten Arbeitsproduktivität, mit hochentwickelten Produktivkräften sind zunächst einmal in der Bewältigung der Umweltfragen den Ländern voraus, die verhältnismäßig auf diesen Gebieten zurückgeblieben sind wie die Länder des Ostens oder gar wie die Länder der Dritten Welt. Weshalb zum Beispiel der Gestank in Halle-Merseburg größer ist als im Ruhrgebiet.

Aber das bedeutet nicht, daß die Durchbrecherstrategie an sich vorzuziehen wäre, weil sie nämlich auf weite Sicht gesehen analog zu den bekannten Mitteln kapitalistischer Krisenbewältigung die Probleme durch zusätzlichen Energieverbrauch, durch zusätzliche Umweltverschmutzung in der Zukunft nur hinausschiebt und für die Zukunft nur noch verschärft. Was daher zu empfehlen ist, zur Bewältigung der Umweltprobleme, ist die Einschränkungsstrategie. Und die Einschränkungsstrategie setzt allerdings, und hier widerspreche ich Ivan Illich — nicht ganz, aber teilweise, partiell —, setzt voraus den Übergang zu einer Gebrauchswertökonomie, die Umkehrung dessen also, was wir Marxisten früher bei Aristoteles als fortschrittlich bzw. reaktionär äh, äh!, zu beurteilen pflegten, wenn wir uns mit seiner „Politik“ und den politökonomischen Aspekten darin beschäftigten. Aristoteles unterschied ja die von ihm gerühmte Ökonomik, und damit meinte er die Gebrauchswertökonomie, von der ihm verhaßten Chrematistik, der Tauschwertökonomie. Und alle sagten, er wehrte sich ja aus reaktionären Motiven gegen den Fortschritt, der damals von der einfachen Naturalwirtschaft zur Tauschwirtschaft führte. Die Tauschwirtschaft war damals das Progressive.

Heute, auf dem heutigen Niveau, ist in Form einer dialektischen Spirale, Negation der Negation, die Rückkehr zur Gebrauchswertökonomie auf höherer Stufenleiter geboten, weil die Tauschwertökonomie in sich birgt, immer, den Keil zur Konkurrenz, den Keil zum Hochschaukeln konsumeristischer Bedürfnisse, den Keil zur Schaffung eines Marktes, zur Ausnutzung eines Marktes, und sei es zur Ausnutzung des Marktes Krebserkrankungen für die Schaffung von, für den Absatz von krebsbekämpfenden Medikamenten, wie sie eben Jost Herbig nannte. Also in diesem Sinne möchte ich doch den Übergang zur Gebrauchswertökonomie als Weg, als Voraussetzung zur Einschränkungsstrategie bei der Bewältigung der Umweltprobleme aus ökologischen Gründen ganz entschieden befürworten, bei allem Respekt vor den Bedenken, die Ivan Illich geltend macht, wenn er sich wehrt gegen eine uns, und besonders aber die Völker der Dritten Welt ohnmächtig machenden äh äh äh sagen wir, zum Objekt erniedrigenden Pseudofürsorge, die ihre Aktivitäten der Selbsthilfe sind.

ILLICH: Kolonisation des informellen Sektors.

HARICH: Selbstverständlich, da sind wir einig.

WEISH: Ich muß jetzt sagen, der Herr Harich hat mich sehr enttäuscht. Er hat gesagt, in der Sowjetunion sind die Auflagen ein bißchen strenger als im anderen Europa. Ich kann nur sagen, in Polen oder in der DDR oder in Jugoslawien oder so sind die Auflagen wahrscheinlich noch viel schlechter als bei uns, ich kenn in Jugoslawien Zementwerke und andere Großindustrien, die sind so grauenhaft, wenn sie da in ein Tal hineinkommen, das ist tot. So was gäbe es bei uns nicht.

HARICH: Jaja, vollkommen richtig. Das ist eben die Durchbrecherstrategie, die ist ihnen aufgezwungen worden. Die klappt natürlich im Westen besser! Das heißt nicht, daß die Durchbrecherstrategie an sich gut ist.

Sanfte Technik: Windrad im Wiener Ökodorf

WEISH: Na, sicher nicht, aber ich wollte nur sagen, diese Durchbrecherstrategie findet sich natürlich auch in der Sowjetunion. Die Frage wäre: Wie kommen wir von einer Durchbrecherstrategie zu einer Begrenzungsstrategie. Ich persönlich habe, wenn ich mit Atombefürwortern gesprochen habe, mich immer bemüht, herauszufinden, was ist eigentlich das Motiv hinter ihrem Votum, und ich bin dann immer draufgekommen, um das überspitzt zu sagen, daß die Atombefürworter Leute sind, die an den Endsieg der Technik über die Natur glauben, daß das eben Leute sind, die diese Durchbrecherstrategie bis zum Ende vorantreiben wollen. Und für mich ist eben die Frage, Herr Harich, sehen Sie Chancen, daß zum Beispiel in der DDR diese Begrenzungsstrategie zum Durchbruch kommen könnte? Unter welchen Voraussetzungen ?

Im westlichen System liegt eine Gefahr drin, daß einfach das Geld, das Kapital wachsen muß, es muß immer mehr investiert werden können, und auf dem anderen Sektor, sagen wir dort, wo nicht der Kapitalismus dominiert, dort kopiert man sozusagen die Produktionsmaximierung. Dort sagt man, man will also das gleich haben, man will mehr Energie haben, selbstverständlich, man will mehr Traktoren haben, will mehr Chemie haben, will mehr Bauindustrie, mehr Straßen usw., man will alles genauso haben, nur in einem anderen gesellschaftlichen System. Aber die ökologischen Auswirkungen sind die gleichen, nicht.

ILLICH: Darf ich dazu etwas sagen. Wenn man vor zehn Jahren über wünschenswerte Gesellschaftsorientierung diskutiert hat, dann konnte man irgendwie, mehr oder weniger, die Gegner, die Alternativen in einer Dimension anordnen, so ganz roh von rechts nach links. Irgendwie ist das jetzt gar nicht mehr möglich. Vor zehn Jahren konnte man noch sagen: Sind’s technische Alternativen — die überlassen wir den Experten. Es wäre aber falsch zu glauben, daß nur eine ganz zentrale, neue Dimension in diesen zehn Jahren entstanden ist. Ich glaube, es gibt jetzt drei Dimensionen, auf denen sich Gegner oder Alternativen gegenüber stehen: rechts/links, ums ganz einfach zu machen, würde ich das auf eine X-Achse legen, in ein Koordinatensystem. Auf der Y-Achse würde ich harte Technologie, ökologisch orientierte Technologie anordnen und gleich auch den Dienstleistungssektor, als eine andere Optionsdimension, ökologisch, ich würde besser sagen, weich, sanft ist das Wort, und hart. Und zwar kann hart sowohl bedeuten: ökologisch untragbar als auch psychologisch untragbar, zum Beispiel Schulung, immer mehr Schule, während ich auf der sanften Seite anordnen würde: Windmühle als Beispiel, aber auch alle möglichen Formen falscher Gebrauchswertschaffung, zum Beispiel beruflich überwachte Selbsthilfe beim Lernen, Geburt zu Hause, aber nur von geprüften Gebärerinnen. Rechts/links ist eine ganz andere Gegenüberstellung als sanft/hart, ist das klar? Es wäre nun ein Fehler, auf diese beiden Dimensionen, als die einzigen Feinde, oder Gegner, die sich gegenüberstehen, anzusehen.

Es gibt noch eine dritte, die möchte ich als reich, reichtumsorientiert, in Erich Fromms Sinn habenorientiert und seinsorientiert nennen. Wenn zum Beispiel Amory Lovins, von dem ich unheimlich viel gelernt habe, im wesentlichen deshalb für sanfte Technologie eintritt, weil nur so weiteres ökonomisches Wachstum garantiert werden kann, so spricht er für sanfte, für einen sanften Weg im wesentlichen im Namen weiterer möglicher Bereicherung. Etwas ganz anderes als der Grund, aus dem der sanfte Weg von Leuten gewählt werden würde, denen es in erster Linie auf Subsistenztätigkeit in relativ kleinen Gruppen, Selbstgenügsamkeit, Selbstbegrenzung ankommt. Ist das klar? Ich stell deshalb als Möglichkeit für die Diskussion das Modell her, drei verschiedenen Optionsdimensionen heute in der Öffentlichkeitsarbeit zu unterscheiden: die erste, die auf der traditionellen politischen Ebene liegt, wo man durch Wahlen Abgeordnete wählt, um Programme für die Zukunft zu verwirklichen, und immer aus einer Ideologie heraus entscheidet, im Gegensatz zu — für mich ist das das Musterbeispiel heute in der Welt: Zwentendorf — hart/sanft, wo man im wesentlichen nicht in Wahlen, sondern im Referendum, nicht als konstituierte Gruppe, sondern als Leute, die derzeit, in diesem Augenblick eine gemeinsame Sorge tragen, und die versuchen eine Mehrheit zu bilden, wie mir Paul Blau gesagt hat: „Du, ich hab da mit Leuten zusammenarbeiten müssen, mit denen ich Schwierigkeiten gehabt hab, sie auf der Straße zu grüßen!“ Das kann einem in der Partei viel weniger leicht passieren auf der politischen Ebene, als in der hart/sanften, in der ökologischen Diskussion, die aber weit ausgeweitet werden muß.

Und hier möcht ich noch etwas sagen zu Herbig. Herbig hat vorher davon gesprochen, daß die Renaturalisierung der ökonomisierten Bereiche eine Schwierigkeit darstellt. Ich glaube, daß wir Ökologie nur dann wirklich verstehen werden, wenn wir sie radikalisieren und sehen, daß Produktion, Anwachsen der Produktion nicht nur physische, nicht nur soziale, sondern auch psychologische Folgen hat. Und die wichtigste Folge des Anwachsens der Warenintensität einer Gesellschaft, der Bereicherung einer Gesellschaft ist die Zerstörung von ererbten Subsistenzformen, von Arten und Weisen, ohne Zugang zur formalisierten, ökologisierten Produktion doch überleben zu können. Nun, das ist die zweite Richtung, wo man im Referendum sich gegenübersteht, und die dritte Richtung, da steht man sich nicht kampfmäßig gegenüber, sondern da besteht man auf seinem Recht, sich aus Produktion und Verbrauch ausstöpseln zu können. Und hier, das ist auch wieder eine Diskussion, die unabhängig ist von rechts und links, die unabhängig ist von hart und sanft, zu einem gewissen Grad, im wesentlichen besteht man hier auf dem Recht zur Gewissensfreiheit, zur Bestimmung des eigenen Menschenbildes, solange man andere Menschenbilder ebenso toleriert.

Bürgerinitiative für Atomkraft in DDR?

HARICH: Ich möchte erst einmal noch Peter Weish Rede und Antwort stehen, dem, was er gesagt hat. Es gibt Menschen, politisch bewußte Menschen, besonders organisiert in den kommunistischen Parteien des Westens, auch des Ostens, aber besonders des Westens, ob Eurokommunisten oder andere, die stehen auf dem Standpunkt der Unschuld der Produktivkräfte an sich und sagen: Also diese technische Neuerung hat unter kapitalistischen Verhältnissen katastrophale Folgen, unter sozialistischen Verhältnissen ist sie wunderbar. Ich teile diese Meinung, besonders im Hinblick auf die Kernkraftwerke, die ich unter allen Umständen ablehne, aber auch in bezug auf andere sogenannte Errungenschaften nicht. Die sind unter allen Umständen, meiner Meinung nach, meiner Überzeugung nach, zu bekämpfen. Ich glaube, da sind Peter Weish und ich einig.

Aber, jetzt ist doch zu beachten die Frage des west-östlichen Wohlstandsgefälles und noch mehr die des nord-südlichen Wohlstandsgefälles. Bleiben wir einmal beim west-östlichen Wohlstandsgefälle. Was hat das für eine Ursache? Es ist doch die Tatsache, daß zum Beispiel im deutschen Sprachraum der Teil, der eine tiefgehende soziale Umwälzung im Osten, in der DDR durchmachte, die stellvertretend für den ganzen übrigen deutschen Sprachraum, ich beziehe das jetzt mit Bewußtsein auf den deutschen Sprachraum, und nicht nur auf die Bundesrepublik, die ungeheuren Reparationslasten gegenüber dem von Hitlers Politik der verbrannten Erde heimgesuchten Osten, Sowjetunion und Polen, leisten mußte, während gleichzeitig dem Westen die kapitalistische Wohlstandsgesellschaft aufgepäppelt wurde durch den Marshallplan, durch das Vorenthalten von Reparationsleistungen, während gleichzeitig über die offene Grenze bis 1961 in den Westen Fachkräfte aus dem Osten strömten. Dadurch ist dieses Wohlstandsgefälle entstanden.

Und jetzt existiert unter dem Eindruck zum Beispiel des westlichen Werbefernsehens ein konsumeristischer Druck im Osten von der Bevölkerung auf die Regierung, der es außerordentlich gefährlich macht und der Sache überhaupt nicht dient, dem Osten gegenüber zu sagen, macht ein bissel mehr, oder recht viel mehr pluralistische Demokratie, und dann kann man über die Gefährlichkeit von Kernkraftwerken wenigstens diskutieren. Diese Taktik einzuschlagen, das heißt aus der Ökologie eine neue Variante antikommunistischer Propaganda zu machen, schadet der Sache ungeheuer, weil einesteils dadurch die Ökologie im Osten diskreditiert würde als etwas Feindliches, die Ansätze ökologischen Problembewußtseins in den Parteien erstickt würden, und weil andrerseits Bürgerinitiativen welche Konsequenzen hätten dort? Es finge an mit einer Bürgerinitiative zum Schutz eines alten Baumes, und die nächste Bürgerinitiative wurde angesichts des west-östlichen Wohlstandsgefälles dann fordern: So, nun möchten wir den schönen Glitzerglanz westlicher Einkaufsstraßen auch bei uns haben, also mehr Leuchtenreklamen, die unsere Städte bunter machen, und dann würde die Regierung sagen: Ja dazu brauchen wir mehr Strom, also mehr Atomkraftwerke, und dann würden die dritten Bürgerinitiativen sich bilden für den Bau von mehr Atomkraftwerken! So sieht die reale Situation dort aus.

Was dem Osten helfen kann, von einer falschen Überbewertung und falschen Einschätzung sogenannter technischer Errungenschaften loszukommen, ist eine grüne, eine ökologistische Bewegung im Westen, die dort Erfolge erringt und sich jeglichen Versuchs einer feindlichen oder als feindlich mißzuverstehenden Einwirkung auf den Osten bewußt enthält. Es ist kein Zufall, daß auf mich, als einen loyalen Bürger eines sozialistischen Staates, die ersten beiden Berichte, vor allem der erste Bericht an den Club of Rome, eine revolutionierende Wirkung meines Bewußtseins zur Folge hatten, das lag eben daran, daß dort in diesem Buch „Grenzen des Wachstums“ kein einziges Wort, ah, ah, ah, hm!, von Systemkritik gegen den Osten vorhanden war, deshalb konnten sowjetische Wissenschaftler das aufgreifen, und deshalb konnte ich in meinem Buch, unter Berufung auf sowjetische Wissenschaftler ketzerisch genug, zur Problematisierung von Wirtschaftswachstum motivieren lassen. Das ist der richtige Weg, und nicht der, der hier von Peter Weish angedeutet worden ist.

Müssen Fremdwörter sein?

WEISH: Ich glaube, wir sollten Wortmeldungen aus dem Publikum entgegennehmen.

EIN HERR: Ich platz schon langsam vor Zorn! Ihr seid’s zwar alle furchtbar intelligent, aber ein Faktor ist bei euch bis jetzt nicht vorgekommen, und zwar ist das der Faktor des Menschen.

HARICH: Aber hier bei Illich ganz stark!

EIN ANDERER HERR: Ich möchte hier eine Reflexion anbringen, die sich speziell an den Herrn Illich richtet. Und zwar, schon Ihr erstes Statement war so gut, daß ich es nicht einmal in meinen eigenen Worten wiedergeben kann. Sie haben selbst erklärt, man sollte wieder zu dem zurückgehen, wo man sich was drunter vorstellen kann. Aber Sie selbst verwenden Worte wie Subsistenz, das sagt mir persönlich nix, und keiner versteht was, Sie reden so hochgestochen daher. Nicht besser ist es eigentlich beim Herrn Harich. Ich hab noch immer nicht herausbekommen, was eigentlich genau eine Produktivkraft ist, obwohl Herr Illich gesagt hat, er müsse es erklären, und nicht, was das mit der Ökologie zu tun hat. Ich hab nur erfahren, der Herr Illich hat Angst vor einer Gebrauchswertökonomie auch das weiß ich nicht, was das ist ...

HARICH: Ich möcht ein Wort sagen zu den Fremdwörtern und den schwerverständlichen Wörtern. Also am allerschlimmsten hat sich ja — nein, ich will anders anfangen. Es gibt die bekannte Unterscheidung, glaube, der Lenin hat sie eingeführt, zwischen Agitation und Propaganda. Die Agitation hat an Tagesereignisse anzuknüpfen und in ihrer Sprache für jedermann verständlich zu sein, damit sie von jedermann aufgenommen werden kann. Die Propaganda dagegen verbreitet Theorie, und zur Theorie gehören nun mal Fremdwörter und eine Fachterminologie, und am ärgsten, der ärgste und schlimmste und böseste Theoretiker in der Beziehung, was seine Terminologie betrifft, war kein anderer als Marx. Der sprach von der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ und meinte dabei das Bauernlegen in England am Ausgang des Mittelalters; er sprach vom „tendenziellen Fall“ der Profitrate, das sind alles ganz schreckliche Fremdwörter.

Und der Brecht, Bertolt Brecht, ein Dichter, der sehr eindringlicher, volkstümlicher und allgemeinverständlicher Sprache fähich war, wie jeder, der ihn kennt, zugeben wird, der hat gesagt: Nein, wir wollen die schwerverständlichen Wörter in der Sprache haben, und der, der sie nicht versteht, soll sie sich aufnotieren, und dann soll er in eim Lexikon nachgucken, was die bedeuten, und das ist ein ganz wichtiger Schritt zu seiner eigenen Bildung, zur Bereicherung seines eigenen Wissens und eine große Denkanregung. Find ich richtig, und ich glaube, daß diese Versammlung hier keine Versammlung ist, die der Agitation bedürftig ist, sondern eine Begegnung von Leuten, die bestimmte Kenntnisse mitbringen.

Wo Kinder nicht mehr reden lernen

ILLICH: Mein Bericht ist angeregt durch die absolut verständliche Kritik an der Art, wie das Gespräch hier vor sich gegangen ist. Wie gerade Harich gesagt hat, manchmal windschief, nicht? Vor zwei Jahren hat mich ein ehemaliger Teilnehmer an einem Seminar, der jetzt selbst an einer pädagogischen Hochschule in New York unterrichtet, gebeten, ihn zu besuchen. Der Mann hat an meinem Frühstückstisch die Frau kennengelernt, die er später geheiratet hat, und jetzt hat er schon drei Kinder, fünf, sechs und sieben Jahre alt, und hatte den Mut, mit den Kindern in die South Bronx zu ziehen, das ist ein Gebiet, das man gesehen haben muß, um zu verstehen, wie weit städtischer Verfall fortschreiten kann. Von wo alle Leute flüchten, wo nur jedes vierte oder fünfte Haus steht, die andern sind niedergebrannt. Er hat mich eingeladen, weil er von mir wollte, daß ich mit ihm einen Antrag unterschreibe an die Stadt für Vorkindergartensprachunterricht, für Kinder, die in dieser unbewohnbaren Gegend aufwachsen und deshalb nicht reden lernen. Und ich hab mich geweigert, einen solchen Antrag zu unterschreiben. Also für Vorkindergartenspracherziehung für Kinder, die in einer Welt leben, in der man nicht mehr reden lernen kann, weil sie unbewohnbar und deshalb unaussprechlich ist. Er hat mir dies gezeigt den ganzen Tag, und trotzdem hab ich mich geweigert zu unterschreiben. Und wir konnten uns nicht verstehen.

Am Abend saßen wir um den Tisch beisammen, um den Abendtisch, und ich dachte: Jetz endlich seh ich seine Frau, und wir werden uns menschlich unterhalten, während die drei Kinder auch essen oder gefüttert werden. Anstatt dessen bemerkte ich, daß dieser Mensch nicht mehr mit seinen Kindern spricht, sondern jedesmal, wenn er sie anspricht, ihnen Sprachunterricht gibt. Und er wollte von mir an seinem Abendessentisch, daß ich auch an einem Programm teilnehme, einem Unterrichtsprogramm, einer Unterhaltung zwischen drei Erwachsenen, in Kindersprache geführt, damit die Kinder richtig sprechen lernen und nichts über ihre Köpfe geht. Was ich hier mit Schrecken erlebt habe, war die Idee, daß dieser Mensch sich als Ersatzlehrer seinen Kindern gegenüber fühlt, als jemand, der für den Sprachunterricht seiner Kinder verantwortlich ist, bevor sie in die Schule gehen, weil Sprache für ihn etwas ist, was eigentlich von Lehrern beigebracht werden soll. Das scheint mir sowohl meine Reaktion im Herzen auszudrücken, die ich einigen der Kritiken gegenüber hatte, erstens, und zweitens vielleicht auf das Thema Gebrauchswertökonomie zurückzukommen. Denn was da erzeugt werden sollte, ist in unbezahlter Tätigkeit Sprachunterricht und nicht Sprechen unter Erwachsenen, in das die Kinder langsam mithineinwachsen. Das ist alles, was ich euch mitteilen wollte.

EIN HERR: Es tut weh, wenn jemand sagt, ich versteh’s nicht, was da geredet wird (es ist eine Expertensprache, die Sie sprechen), und es ist ihm wenig hilfreich, wenn er weiß, daß Marx auch Spezialausdrücke gebraucht hat, und Brecht. Mir tut’s sehr weh, wenn Sie so was sagen, Herr Harich.

Harich: Diktatur muß sein

EIN ANDERER HERR: Herr Harich, wie stellen Sie sich denn vor in der Zukunft, wenn die Ressourcen sich erschöpfen, wie soll verteilt werden, wer verteilt und wer kontrolliert, und wie sieht die Herrschaft aus?

HARICH: Ja, da verschieben Sie ja nun das Thema auf etwas, was heute nicht zur Diskussion steht, nicht. Hier geht’s um Produktivkraftentwicklung und Ökologie und nicht um die Frage der Verteilung des zu erwartenden Mangels. Ich glaube, ich bin überzeugt davon — wenn ich darauf jetzt antworten darf —, daß soziale Sicherheit auf materiell anspruchslosem bescheidenem Niveau in Zukunft noch möglich sein wird, unter Verlagerung der Bedürfnisse vom heute dominierenden Konsumerismus zu kulturellen, geistigen Werten, zu Werten glücklicher Liebe, harmonischer zwischenmenschlicher Beziehung usw. Aber das nur unter der Bedingung der Einschränkung des materiellen Konsums, und die wird nun einmal von den Massen des Volkes wenigstens für eine Übergangsperiode nur getragen werden unter den Bedingungen der Gleichheit, der Angleichung von oben nach unten, was voraussetzt, daß die Reichen und Privilegierten von der Bildfläche verschwinden, nicht nur durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel, sondern durch ein Verteilungsprinzip nach dem Grundsatz der Gleichheit, das praktisch nach meiner Meinung nur durchführbar sein wird durch einen Übergang zur Rationierung der materiellen Güter, zur Rationierungskarte, zum Bezugsschein, und durch damit verbundene Abschaffung des Geldes, weil sonst doch nur wieder ein schwarzer Markt entsteht.

Das verstehe ich nicht mehr unter Sozialismus, sondern unter Kommunismus, allerdings nicht mehr einen Kommunismus des Überflusses, sondern einen Kommunismus des Mangels, der meiner Meinung nach nur realisierbar sein wird, wenn man sich die Idee, daß der Staat unter kommunistischen Bedingungen absterben werde, aus dem Kopf schlägt, wobei dann die Frage, wieweit dieser Staat Freiheiten noch ermöglichen wird, davon abhängt, wann die Umkehr erfolgt. Wenn die Umkehr bald erfolgen wird, wird der Freiheitsraum für das Individuum entsprechend weit und breit bleiben können. Je mehr aber mit der Umkehr gezögert wird, wird das nur durch ganz harte, autoritäre Maßnahmen noch zu bewältigen sein. Also: wollen wir die vermeiden, begehen wir den Weg der Umkehr möglichst bald.

WEISH: Wer ist die Autorität, Herr Harich?

EIN HERR: Kann ich doch grad den einen Satz noch sagen, daß mich das verteufelt an 1984 erinnert.

HARICH: Leider, ja.

Sex im Sozialismus, hmmm

BRANCO ANDRIĆ (Dichter, lebt jetzt in Wien): Ich komme aus Jugoslawien. Was fehlt, ist ein Maßstab für das Glück eines Landes. Was eigentlich das Ziel ist der ganzen Revolution, wenn die einmal durchgeführt wird. Ich wollte ... Zum Beispiel über Onanie. Onanie in einer bürgerlichen Gesellschaft mit so einer harten Kirche ist eine schlechte Sache. In einer Gesellschaft, wo die Kirche nicht so stark ist, hat das eine ganz andere Qualität, zum Beispiel in Jugoslawien. Ich bin nie von einer Kirche beeinflußt worden, wenn ich in Pubertät. Ein Österreicher oder ein Deutscher oder in Polen, die ganzen Hippies und so, wie die angefangen haben zu onanieren, die waren irrsinnig von der Kirche beeinflußt, das war eine ganz schlimme Sache. Und noch eine Lösung hab ich zufällig getroffen, in Vojvodina, von wo ich komm. Wir haben so alte Leute getroffen, so ungefähr 80 Jahre alt, die Teilnehmer vom ersten Krieg waren, so alte Helden. Jetzt leben die dort in Häusern, die Frauen sind total „versklavt“, die haben keine Waschmaschinen, die machen das alles mit Hand, kochen. Frage, was meinen die über Sex? Das Sexualleben ist eher so normal. Was heißt normal? Naja, sagt er, ich hab mit meine Frau Verkehr dreimal wöchentlich. 80 Jahre! Wo gibt es das in einem kapitalistischen Land?

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