FORVM, No. 194/I
Februar
1970

Konsumlektoren

Ergebnis einer Umfrage

Die vorliegende Untersuchung will keine weitere zu den bereits zahlreich ersonnenen, oft recht vagen Definitionen der Spezies „Verlagslektor“ hinzufügen. Sie hat sich vielmehr zur Aufgabe gesetzt, den Wurzeln der in der Bundesrepublik so plötzlich aufgebrochenen verlagsinternen Auseinandersetzungen nachzuspüren. Die Initialzündung zu dieser Entwicklung, die deshalb so überrascht, weil sich die Lektorenzunft ihren Dienstherren gegenüber bisher durchwegs des Verhaltens von Untertanen befleißigte und Selbstverleugnung übte, wurde 1968 im Suhrkamp-Verlag gesetzt; ihren Höhepunkt hat sie im „Luftballon-Streit“ bei Rowohlt gefunden. Zum Stichwort der Auseinandersetzungen wurde die „geistige Zwangslage“, in der zu stecken viele Lektoren heute vorgeben. Versuchen wir, den Wahrheitsgehalt dieses Stichworts zu ergründen.

Die zu diesem Zweck veranstaltete Umfrage läßt interessante Rückschlüsse auf die berufliche Situation der Verlagslektoren in der Bundesrepublik zu. Befragt wurde die mittlere Generation (Durchschnittsalter: 33 Jahre). Zwar ist das Resultat nicht als repräsentativ im Sinne einer Strukturanalyse zu werten, denn lediglich zwölf (von fünfundzwanzig angeschriebenen) Lektoren füllten die Fragebogen aus: ein zu geringer Prozentsatz bei rund 3000 Verlagslektoren, die es heute bei uns gibt. Immerhin hat die Umfrage in vielen Punkten eine so starke Übereinstimmung der Antworten ergeben, daß man letztlich zumindest von Annäherungswerten sprechen kann. Dies fällt um so mehr ins Gewicht, als die Teilnehmer an der Umfrage nicht unter Berücksichtigung ihrer weltanschaulichen oder politischen Überzeugung und ihres literarischen Urteils ausgewählt wurden. Vielmehr wurde versucht, hinsichtlich ihrer Arbeitsplätze ein möglichst breites Spektrum zu erhalten: die betreffenden Verlage verteilen sich über die ganze Bundesrepublik und sind nach der Wertungsskala ihrer Buchprogramme (nur Belletristik und Sachbuch) von „konservativ“ über „liberal“ bis zu „linksradikal“ einzuordnen. Betont sei noch, daß es sich durchwegs um sehr bekannte Verlage handelt.

Zunächst einmal: Aus welchen sozialen Verhältnissen stammen die angesprochenen Lektoren? Mit einem heute nur noch ironisch verstandenen Wort könnte man sie als „großbürgerlich“ bezeichnen: sechs der Väter wurden als Akademiker angegeben, vier als Beamte überwiegend der gehobenen Laufbahn und zwei als Angestellte. Und wie steht es mit der eigenen Ausbildung? Sämtliche Lektoren sind Akademiker, acht haben das Studium mit Staatsexamen und (oder) Doktorat abgeschlossen. Die Studienrichtungen verteilen sich auf Germanistik (11), zumeist kombiniert mit Philosophie (6), Sprachen (4), Geschichte (2), Soziologie (2); daneben wurden noch Theologie, Rechtswissenschaft und Geographie genannt. Lediglich drei der Befragten absolvierten nach dem Studium eine Verlags- oder Buchhändlerlehre.

Bemerkenswert ist, daß sieben der Befragten „durch Zufall“ zum Lektorenberuf fanden, während nur fünf dieses Ziel schon immer vor Augen gehabt hatten. Stellvertretend für viele „Zufallslektoren“ dürfte hier der Kommentar eines der Befragten sein, daß für ihn dieser Berufsweg die einzige Alternative zum Staats- (sprich: Schul-)dienst gebildet habe. Nicht nur die Abneigung, als Lehrer beamtet zu sein, mag oft die Entscheidung bestimmen, sondern auch die Hoffnung, im Lektorenberuf produktiv und nicht nur — wie als Lehrer — reproduktiv tätig sein zu können. Ob diese Hoffnung tatsächlich Entsprechung findet, wird weiter unten zu belegen sein.

Nach dieser Ermittlung biographischer Fakten jetzt zum Bereich persönlicher Berufserfahrung. Unsere Frage an die Lektoren, ob ihre augenblickliche Tätigkeit den früher etwa gehabten Vorstellungen vom „schöpferischen Tun“ eines Lektors entspräche, erbrachte folgendes Ergebnis: sechs der Befragten verneinten das absolut, drei stellten eine zumindest annähernde Übereinstimmung fest, und drei notierten, hinsichtlich ihres Berufsziels nie idealistische Vorstellungen gehegt zu haben.

In diesem Zusammenhang liegt die Überlegung nahe, was sich ein Laie, und das ist ja auch ein Schüler oder Student, der einmal in den Verlag möchte, im allgemeinen unter der Tätigkeit eines Lektors vorstellt. Wohl folgendes: ein Lektor prüft Manuskripte, lehnt sie ab oder nimmt sie an, redigiert sie, schlägt Buchprojekte vor und hält mit den Verlagsautoren Kontakt. Sieht nun die Wirklichkeit anders aus? Anscheinend, denn die Hälfte der Befragten verneinte ja eine Übereinstimmung zwischen einmal gehabter Vorstellung und Berufspraxis. Um konkret Aufschluß zu erhalten, ließen wir die Lektoratsarbeit unserer Testpersonen in der Rangfolge ihrer Häufigkeit beziehungsweise Wichtigkeit aufschlüsseln.

An erster Stelle wurde genannt:

  • Redaktion von Manuskripten und Übersetzungen (6)
  • Kontaktpflege zu Autoren (2)
  • Anregung von Buchprojekten (1)
  • Tätigkeit überwiegend organisatorischer Art (1).

An zweiter Stelle:

  • Anregung von Buchprojekten (5)
  • Buchgutachten (4)
  • Redaktion von Manuskripten und Übersetzungen (2).

An dritter Stelle:

  • Kontaktpflege zu Autoren (5)
  • Redaktion von Manuskripten und Übersetzungen (2).

An vierter Stelle:

  • Buchgutachten (3)
  • Anregung von Buchprojekten (2)
  • Kontaktpflege zu Autoren (1).

Dieses Ergebnis, das — wohlgemerkt — keine Wertung über den Gehalt der angeführten Arbeiten ausdrückt, entspricht ziemlich genau der weiter oben skizzierten Vorstellung von Laien über die Lektoratstätigkeit. Auch der durch die Umfrage ermittelte Prozentsatz an Arbeitszeit, die ein Lektor der Realisierung seiner Buchprojekte widmen kann, nimmt sich mit einer Durchschnittsquote von 42 Prozent nicht schlecht aus, wenn man diese Zahl der häufig zu vernehmenden Klage gegenüberstellt, die Lektoren würden heute durch rein organisatorische und kaufmännische Tätigkeit immer mehr von ihrer eigentlichen Aufgabe, dem „Dienst am Wort“, abgehalten. Lediglich einer der Befragten scheint mit einer Quote von 0,5 Prozent seinem Beruf absolut zweckentfremdet zu sein. Allerdings handelt es sich hier um den einzigen „Cheflektor“ unter den Testpersonen; Cheflektoren sind aber bekanntlich jene bedauernswerten Individuen, die sich fast ausschließlich mit ihren eigenen Verlegern und renitenten Lektoren, mit Agenten, Kritikern und Autorenwitwen herumschlagen müssen.

Diese hinsichtlich Schwerpunktbildung und Intensität der eigentlichen Lektoratsarbeit durchaus positive Aufschlüsselung steht, wie schon festgestellt, im Widerspruch zur Antwort von sechs Teilnehmern an unserer Umfrage, daß Vorstellung und Realität nicht übereinstimmten. Eine Zusatzumfrage ergab außerdem, daß fünf Lektoren mit ihrer augenblicklichen beruflichen Situation nicht zufrieden sind (drei sind es nur halbwegs: vier beurteilen sie positiv). Was ist die Ursache für diesen Widerspruch? Sie kann nicht, wie wir eben an Hand der Aufschlüsselung festgestellt haben, in dem nach außen hin sichtbaren Tätigkeitsbereich der Lektoren gesucht werden. Ist es also der Gehalt der Lektoratsarbeit, der enttäuscht?

Überlegen wir folgendes: Ein Germanistikstudent, der kurz vor dem Examen steht, hat ein sehr dezidiertes Urteil über Literatur, das sich aus stilkritischen, ethischen und ideologischen Elementen zusammensetzt. Es ist ein subjektiv gefärbtes Urteil, erworben in Vorlesungen, Seminaren, Diskussionen, wissenschaftlicher Arbeit. Wird dieser Student nun Lektor, so ergeben sich sogleich Reibungsflächen: er muß plötzlich erkennen, daß im Verlag Geist in Geld umgesetzt wird, daß sich das Buch auf dem Weg vom Schreibtisch des Autors zum Regal des Lesers zwangsläufig in eine den Marktgesetzen unterliegende Ware verwandelt. Will er seinen Arbeitsplatz behalten, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sein persönliches Urteil der Literatur mit der Kommerzforderung des Verlegers in Einklang zu bringen, also mit Faktoren wie Publikumswirksamkeit, lohnende Auflagenhöhe, Rücksichtnahme auf bestimmte Lesergruppen und so weiter. „In Einklang bringen“ bedeutet aber zumeist, daß der Lektor seine Wertmaßstäbe über Qualität, Aussagewert und Gehalt der Literatur an sich zurückstecken muß. Diese Metamorphose des idealistisch hochgestimmten Studiosus zum braven Lektor ist hier sehr schematisch dargestellt, zeigt jedoch zumindest stichwortartig die Wurzel des Kernproblems: das Entstehen der geistigen Zwangslage nämlich, in der viele Lektoren zu stecken meinen.

Daß die eben angestellte Überlegung nicht aus der Luft gegriffen ist, erkennt man an den Antworten auf unsere Frage, wodurch sich die Lektoren in ihrem „schöpferischen Tun“, das heißt in der Verwirklichung ihrer Programmvorstellungen, eingeschränkt fühlen. Sechs der Befragten geben als Ursache die Buchmarktsituation an, drei ihre Verleger; einer klagt über zuviel Arbeit, einer über zuviel Bürokratie. Offensichtlich sind also Buchmarktsituation und Verleger die die Unzufriedenheit der Lektoren auslösenden Faktoren. Beide stehen übrigens in ursächlichem Zusammenhang, denn welcher Verleger könnte es sich noch leisten, gegen den reißenden Strom des literarischen Massenkonsums anzuschwimmen! Wie einer der Befragten richtig anmerkt, ist heutzutage der Verleger als Typus das Produkt der Buchmarktsituation. Folge dieser Konstellation ist, daß ein Lektor Buchprojekte verfolgen muß, mit denen er sich aus innerer Überzeugung nicht identifizieren kann, die aber der Verleger zu realisieren heißt, weil sie der Buchmarkt angeblich williger aufnehme als die vom Lektor vorgeschlagenen Titel. Daraus erwächst der Hauptvorwurf der Lektoren: die Verleger beuteten ihre Arbeitnehmer im kapitalistischen Sinne aus, indem sie diese als bloße Handwerkzeuge für ihre rein kommerziellen Interessen mißbrauchten.

Es gibt nur 750 Leser

Ist dieser Vorwurf berechtigt? Um das zu erkennen, muß man kurz die Geschichte des Büchermachens und damit das sich wandelnde Verhältnis Verleger-Lektor verfolgen. Ursprünglich war der Verleger sein eigener Lektor: eine glückliche Konstellation, denn literarische und kommerzielle Interessen vereinigten sich hier in einer Person. Allmählich ergriff der Bildungshunger weitere Kreise, was eine verstärkte literarische Produktivität zur Folge hatte. Dem Verleger kamen immer mehr Manuskripte ins Haus, und so mußte er bald literarisch beschlagene Freunde und Bekannte mit deren Sichtung betrauen. Das war die Geburtsstunde des Verlagslektors. Verleger und Lektor waren damals echte Partner im Geiste; beide meinten das gleiche, wenn sie von Literatur sprachen, denn es gab ja nur einen Publikumskreis, den sie mit ihren Büchern erreichen konnten: den der kleinen gebildeten Schicht.

Dieser „Idealzustand“ dauerte in so manchem namhaften deutschen Verlag bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts an. Peter Suhrkamp zum Beispiel war immer der Meinung gewesen, daß es in Deutschland genau 750 Leute gäbe, die sich für ernsthafte literarische Werke interessierten; selbst noch in den fünfziger Jahren wurden Suhrkamps Titel in der Regel auch nicht in höheren Auflagen verkauft.

Grundlegend änderte sich die Situation nach der Währungsreform, als die Verlage — oft gegen ihren Willen — in den Sog der Massenproduktion gerissen wurden. Um sich gegen die immer mächtiger werdende Konkurrenz zu behaupten, um die steigenden Herstellungskosten auffangen und den immer stärker anschwellenden Personalaufwand verkraften zu können, stand plötzlich die Frage nach der Publikumswirksamkeit eines Buches und damit nach lohnender Auflagenhöhe vor der nach literarischer Qualität an erster Stelle jeder verlegerischen Überlegung. Hinzu kam, daß sich Außenseiter in den Buchmarkt hineindrängten. Mit ihren unkonventionellen Geschäftspraktiken hatten sie sogleich überdurchschnittlichen Erfolg; den Inhalt der von ihnen verlegten Bücher kannten sie nur selten.

So schrieb kürzlich Helmut Heißenbüttel über die deutsche Verlagszunft durchaus zu Recht, daß sich die Besitzer der Verlage heute fast immer mit dem Odium kultureller Bildung umgeben würden; jeder Kaffeeimporteur oder Stahlindustriemanager aber, der so wenig Detailkenntnis von seinen Branchenprodukten hätte wie manche Verlagsbesitzer, würde in kürzester Zeit der Konkurrenz erliegen. Doch als Branchenkenner sei eben der Lektor da, auf den der Verleger mehr angewiesen sei als irgendwo sonst.

Angewiesen? Ja, aber in ganz anderem Sinn als zur „guten alten Verlagszeit“. Heute ist aus dem Gleichklang der Geister nur zu oft ein Subalternverhältnis geworden. Zwar braucht der Verleger den Lektor, weil man das Büchermachen eben noch nicht mechanisieren kann, aber der Lektor ist austauschbar geworden. Paßt er nicht mehr ins Verlagskonzept, so entläßt man ihn ohne negative Auswirkungen fürs Programm, denn ein Lektor prägt heute nur noch in Ausnahmefällen das Gesicht eines Verlages. Wichtig ist vor allem sein handwerkliches Können: seine Fähigkeit, als Redakteur mit dem Wort umzugehen, sein Stilgefühl, seine Genauigkeit, seine Kontaktfreude im Umgang mit potentiellen Autoren, mit der Presse, mit Lizenzerwerbern.

Verfolgt man diese Entwicklung, so erscheint das Wort von der geistigen Zwangslage der Lektorenzunft nicht mehr ganz so abwegig. In jedem anderen Beruf wird vom Arbeitnehmer gefordert, seiner geistigen Einsicht entsprechend das Beste zu geben. Der Lektor hingegen verbringt heute den Großteil seiner Arbeitszeit damit, sich selbst, das heißt, seine innere Überzeugung über Wert und Sinn der Literatur zu verleugnen. Dieses Verhalten — auf der einen Seite die psychische Belastung, Bücher produzieren zu müssen, mit denen man sich nicht identifizieren mag, auf der anderen Seite der Drang zur Verwirklichung eigener Vorstellungen — läßt die Sensibleren unter den Lektoren gleichsam zu Neurotikern werden.

Die geistige Zwangslage spiegelt sich denn auch deutlich in den folgenden Antworten auf unsere Frage, woraus man sich die „branchenüblichen“ Spannungen zwischen den Verlegern und ihren Lektoren erkläre: „Aus der kapitalistischen Struktur der Verlage und des Marktes und dem geistig orientierten ‚Berufsbild‘ des Lektors“ — „Produktionszwang kontra Reflexion“ — „aus der Tatsache, daß nicht wenige Verleger vom Büchermachen nur die ökonomische Seite beherrschen“ — „Verleger überschätzen den Tauschwert, Lektoren den Gebrauchswert eines Buches“ „Widerspruch zwischen ‚Geist‘ und Markt“ — „Verleger erhofft vom Lektor Ermittlung und Anpassung an Marktsituation, Lektoren geben sich der Täuschung hin, nur sie sollten sich individuell betätigen“ — „Geld kontra Vorstellung von Literatur“ „Selbstherrlichkeit und Besserwisserei der Verleger“ — „verschiedene Zielvorstellungen“ — „Kapitalinteresse kontra Programmkonzeption“ — „zu geringe Mitentscheidung des Lektors“.

Bemerkenswert ist, daß nur eine dieser Stellungnahmen emotional gefärbt ist („Selbstherrlichkeit und Besserwisserei der Verleger“), während den anderen durchwegs eine unprätentiöse Beurteilung der Sachlage zugrunde liegt. Das läßt darauf schließen, daß man die Schuld an der eigenen Misere nicht so sehr der Einzelperson des Verlegers, mit dem man gerade zu tun hat, zuschiebt, sondern dem herrschenden, durch die Buchmarktsituation bedingten Verlagssystem. Und trotz dieses kritisch beurteilten Buchmarktes würden fünf der befragten Lektoren gerne in eigener Regie Bücher verlegen, hätten sie nur die erforderlichen Mittel dazu. Vater des Gedankens ist dabei offensichtlich nicht der Wunsch, das verborgene Kämmerlein des Lektors zu verlassen, um endlich die wärmenden Sonnenstrahlen öffentlicher Anerkennung auf die eigene Person zu lenken, denn den überwiegenden Teil der Befragten stört ihre Lektoratsanonymität absolut nicht (nur zwei hielten es für wünschenswert, wenn nicht der Verleger allein die ideellen Früchte seines Lektorats erntete).

Welche Bücher würden nun die Möchtegernverleger herausbringen? Hätte man die gleiche Frage vor ein paar Jahren gestellt, wäre wohl an erster Stelle der Sektor „moderne Literatur“ genannt worden, zeitkritischer Tendenz zwar, jedoch in belletristisch-kulinarischr Verpackung. Die Wunschprogramme der Teilnehmer an unserer Umfrage sehen dagegen folgendermaßen aus: Literatur — Politik — Kritik; gute Belletristik — linke Theorie; Belletristik — dokumentarische Literatur — ideologisch gebundenes Sachbuch; kritische Bücher — und Erotika für die Kasse; Bücher aller Gattungen, soweit sie politisch-gesellschaftlich relevant sind. Belletristik (sprich: schöngeistige Literatur) ist in diesem Sortiment zwar noch enthalten, doch die Schwerpunkte liegen auf Politik, Kritik, Theorie, Dokumentation, Ideologie. Hieran läßt sich ein radikaler Wandel ablesen: die Lektoren, zumindest der für die Zeitströmungen offene Teil von ihnen, denkt heute in anderen Kategorien als noch vor wenigen Jahren. Bester Beweis dafür ist die Tatsache, daß acht der Befragten dem „traditionellen“ Lektor, also dem Entdecker und Förderer schöngeistiger, kulinarischer Literatur, beruflich keine Zukunft mehr einräumen.

An Mao läßt sich verdienen

In jüngster Zeit zeichnet sich eine Entwicklung ab, die den politisch engagierten Lektoren nicht minder Kopfschmerzen bereitet als ihr notgedrungenes Befaßtsein mit der sogenannten Konsumliteratur. Seitdem die junge Generation in der Bundesrepublik revoltiert und sich gegen die herrschende Gesellschaftsordnung auflehnt, hat eine wahre Schwemme von „ideologisch gebundenen“, „politisch-gesellschaftlich relevanten“ Veröffentlichungen eingesetzt. Nach Ansicht der Lektoren ist der Pferdefuß darin zu erblicken, daß gerade die ihrer Struktur nach „konservativ-kapitalistischen“ Verlage die entsprechenden Titel in hohen Auflagen auf den Markt bringen, weil die Verleger inzwischen herausgefunden haben, wie gut man an den Spruchweisheiten Mao Tse-tungs, an einer Biographie Ché Guevaras oder an einem Werk revolutionär-sozialistischer Prägung verdienen kann.

Die geistige Zwangssituation hat sich hier für die betroffenen Lektoren nur verlagert; sie müssen sich jetzt vielfach nicht mehr mit Buchprojekten abgeben, die ihnen wider den Strich gehen, vielmehr dürfen sie ihre eigenen Ideen verwirklichen, doch ihrer Meinung nach nur, um diese in konsumierbare Ware umzuformen. Frank Benseler hat diese Entwicklung folgendermaßen beschrieben: „Man muß festhalten, daß heute alles, was im Medium kapitalistischer Produktion daherkommt, und sei es inhaltlich noch so umstürzend und politisch revolutionär, durch die Deformation zur reinen Konsumware einen wirksamen Entschärfer eingebaut hat. Die Massenmedien reduzieren den Gebrauchswert von Literatur auf ihren reinen Tauschwert.“

Wenn heute also die Presse von der Forderung nach Mitbestimmung in Verlagen berichtet, dann kann es dabei um verschiedene Ziele gehen. Auf der einen Seite fordern die Lektoren, hinsichtlich der Programmkonzeption nicht nur noch nach der Pfeife des Verlegers tanzen zu müssen. Auf der anderen Seite aber, in jenen Fällen also, da clevere Verleger die Wunschvorstellungen ihrer Lektoren bereits überholt haben, indem sie diese Wunschvorstellungen in Gedrucktes umsetzen, geht die Forderung in eine ganz andere Richtung: Wie Frank Benseler formulierte, wollen die jungen Autoren und Lektoren nicht nur noch als Agenten der Kapitalverwerter (sprich: Verleger) mitbestimmen, sondern aus dem theoretischen Inhalt ihrer Produkte (sprich: Bücher) praktische Konsequenzen ziehen, statt des Tauschwertes also den Gebrauchswert ihrer Waren erproben. Auf die Verlagspraxis angewendet heißt das: Wenn schon ein Verleger Literatur revolutionär-sozialistischer Tendenz veröffentlichen will, dann möge er auch zu ihrem Inhalt stehen, also konservativem Kurs und kapitalistischer Struktur seines Verlages abschwören.

Wie stehen die Teilnehmer an unserer Umfrage zu dem Gedanken, neben dem Tauschwert auch den Gebrauchswert ihrer Bücher zu erproben? Sieben der Befragten reagierten zustimmend, drei ablehnend, einer wollte sich nicht festlegen, und der Kommentar des letzten schließlich lautete: „Welcher Wegweiser geht den Weg, den er zeigt?“

Die Zusatzfrage, ob man dieses Bestreben bei den gegenwärtig vorherrschenden Verlagsstrukturen für praktikabel halte, bejahte nur ein Lektor; acht verneinten und zwei glauben an eine Verwirklichung des Bestrebens in Grenzen. Die größte Übereinstimmung im Rahmen der Untersuchung gab es mit elf Neinstimmen auf die Frage, ob man die altüberkommene, patriarchalische Organisationsform der meisten bundesrepublikanischen Verlage heute noch für tragbar halte.

Zweifelhafte Sozialisierung

Dieses klare Nein zum uneingeschränkten Entscheidungsrecht des Verlegers hinsichtlich Verlags- und Personalpolitik, Buchprogramm und Kapitalverteilung führt von selbst zur Überlegung: was dann? Ein Ausweg wurde vor Jahresfrist mit der Gründung des Frankfurter Verlages der Autoren versucht, eines Autoren- und Lektorenkollektivs, bei dem alle Beteiligten gleiches Stimmrecht besitzen und in einen gemeinsamen Topf wirtschaften. Auf die Frage, ob man diese Verlagskonstruktion für lebensfähig halte, gabe es bei den Teilnehmern unserer Untersuchung keinen uneingeschränkten Optimismus: vier Jastimmen und einer Neinstimme stehen sieben zweifelnde Reaktionen gegenüber; letztere halten ein Kollektiv in der Form des Frankfurter Verlags nur für bedingt oder unter bestimmten Voraussetzungen lebensfähig. Die Kommentare lauten: lebensfähig: ja; erfolgversprechend: wenig; — ja, wenn nach dem kapitalistischen Prinzip der Rentabilität geführt — ja, doch bedingt und nicht lange — ja, doch nur in Verbindung mit prominenten Autorennamen und ohne sozialistische Konkurrenz — ja, wenn keine kapitalintensive, das heißt große Buchproduktion.

Unsere letzte Frage an die Lektoren, ob nicht ein Überwechseln in eine freiberufliche Tätigkeit für sie einen Ausweg aus der geistigen Zwangslage darstellen könnte, brachte folgendes Ergebnis: sechs halten eine freiberufliche Tätigkeit für zuwenig sicher (elf der Befragten sind verheiratet, die meisten haben Kinder), drei meinen, auf diesem Weg auch keine geistige Unabhängigkeit zu erlangen („... geistige Unabhängigkeit gibt es erst dann, wenn erhebliche Prominenz sie stützt — vielleicht nicht einmal dann. Prominenz ist ja nicht selten Ergebnis einer nicht unerheblichen Anpassung“), zwei der Befragten nennen als Grund für ihre Seßhaftigkeit als Lektor fehlende Eigenproduktivität, einer rechnet sich keine Marktchance aus, ein weiterer befürchtet zu große Hetze, und der letzte schließlich erklärt ganz offen, ein Wechsel in den Freiberuf würde die Unzufriedenheit nur unter neue Vorzeichen bringen.

Fazit: Einerseits wird das gegenwärtig vorherrschende, kapitalistisch orientierte Verlagssystem fast einstimmig abgelehnt, andererseits bleibt man — wenn auch widerstrebend — verbunden, weil es existenzielle Sicherheit bietet. Was neben der durchaus verständlichen Kritik fehlt, sind konstruktive Vorschläge von seiten der Lektorenschaft, wie man aus der geistigen Zwangslage herauskommen, welche neuen Verlagsstrukturen ein Optimum an erhoffter Effizienz bieten könnten.

Der Kommentar eines der an unserer Umfrage teilnehmenden Lektoren lautete: „Die neuen Inhalte der Literatur provozieren neue Organisationsformen; oder andersherum: erst neue Organisationsformen machen den alten Verlagen die neue Literatur erreichbar.“ An dieser Überlegung wird heute kein Verleger mehr vorbeikommen können, will er sich nicht nur darauf beschränken, „schöngeistige Literatur“ oder „Bestseller fürs Massenpublikum“ herauszubringen.

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