FORVM, No. 179-180
November
1968

Krieg als Paradoxon

Die nachfolgenden beiden Texte von Herbert Marcuse und Hans Morgenthau entstammen Referaten des 4. Salzburger Humanismusgespräches (10. bis 13. September). Thema dieses von Dr. Oskar Schatz initiierten und vom Österreichischen Rundfunk mit außerordentlicher Liberalität veranstalteten Symposions war diesmal „Theorie und Strategie des Friedens“. Der dritte Text, von F.-M. Schmölz, entstammt einem Referat auf der Wiener Thomas-Akademie.

Der Konflikt zwischem dem konventionellen Modus des Denkens und Handelns und den tatsächlichen Bedingungen des Atomzeitalters hat nirgends eine verwirrendere und destruktivere Wirkung gehabt als in den Beziehungen der beiden großen Atommächte und ihrer Verbündeten.

Im vornuklearen Zeitalter hatten die Nationen mit gewissen gemeinsamen Interessen versucht, durch Koordinierung oder Zusammenschluß ihres diplomatischen und militärischen Potentials diese Interessen zu verteidigen und zu fördern. So pflegte die Nation A für die Interessen der Nation B in den Krieg zu ziehen, oder umgekehrt, wenn sie dachte, die Verteidigung und Förderung der anderen Nation wären auch in ihrem eigenen Interesse.

Wovor sich eine Nation in ihren Beziehungen zu Verbündeten schützen mußte, waren ein diplomatischer Schnitzer oder eine militärische Fehlkalkulation. In jedem dieser Fälle riskierte man in der Regel schlimmstenfalls die Niederlage im Krieg mit dem nachfolgenden Verlust einer Armee oder eines Territoriums.

Die Verfügbarkeit von Atomwaffen hat diese traditionellen Beziehungen zwischen Verbündeten und die Risken, die ihnen anhaften, radikal verändert. Die Atommacht A, die ein Bündnis mit der Nation B — atomar ausgerüstet oder nicht — schließt, geht ein doppeltes Risiko ein, das sich aber von dem eines Mitglieds einer traditionellen Allianz unterscheidet. Wenn sie zu dem Bündnis steht, könnte sie gegen die Atommacht C einen Atomkrieg führen müssen und dabei ihre eigene Existenz verlieren. Oder aber der Verbündete B könnte um anderer Interessen willen einen Krieg mit der Atommacht C provozieren und dabei A zwingen, sich in einen Atomkrieg um fremde Interessen einzulassen.

Dieses letzte Risiko vergrößerte sich, sofern B selbst eine Atommacht ist, wenn auch in noch so kleinen Dimensionen. Wenn B die Nation C mit Atomwaffen bedrohte oder angriff, könnte C die Militärmacht von B, zu Recht oder Unrecht, als eine Ausdehnung der Macht von A ansehen, und durch einen ersten Angriff auf A der Verpflichtung von A zuvorkommen und dessen Eingreifen verhindern.

Die Atommächte haben versucht, dem Dilemma solcher Risken durch zwei diametral entgegengesetzte politische Verhaltensweisen zu entgehen. Präsident de Gaulle hat in seiner Pressekonferenz vom 14. Jänner 1963 und in späteren Stellungnahmen den praktischen Wert der Allianzen für überholt erklärt und vorgeschlagen, sie durch unabhängige nationale Atomabschreckungsanlagen zu ersetzen. Anderseits suchen sowohl die Vereinigten Staaten wie auch die Sowjetunion die gegenwärtige Kombination eines virtuellen Atommonopols ihrerseits in Verbindung mit einem traditionellen Allianzsystem zu erhalten. Beide politischen Auffassungen stellen auf verschiedene Weise das Überleben der Atommächte, wenn nicht der Zivilisation überhaupt, in Frage.

De Gaulle schlägt vor, Atomwaffen den konventionellen anzugleichen; zumindest sollte ihre abschreckende Funktion durch die nationalen Regierungen im Namen traditioneller nationaler Interessen kontrolliert werden. Frankreich würde, wie es früher seine Armee, seine Marine und Luftwaffe gebraucht hat, auch seine Atomwaflen dazu verwenden, auf den voraussichtlichen Feind einen Druck auszuüben.

Als allgemeines Prinzip der Staatskunst, das von jeder x-beliebigen Nation befolgt werden kann, würde dies zur rücksichtslosen „Proliferation“ der Atomwaffen führen und dadurch die Mechanismen zweiseitiger Abschreckung zerstören.

Diese Mechanismen beruhen auf der Bipolarität der Atomkraft. Abwehrsysteme wie Radar und Sonar können atomare Abschußsysteme in Aktion identifizieren, aber sie können nicht deren nationale Zugehörigkeit feststellen, es sei denn in begrenztem Ausmaß durch Berechnung der Abschußstellen der auf dem Land stationierten Raketen. Folglich verlangen Vergeltungsmaßnahmen a priori die Feststellung der Nationalität.

Eine anonyme Explosion, hervorgerufen durch ein schwimmendes Transportfahrzeug, welche Teile der Ostküste der Vereinigten Staaten zerstörte, würde automatisch der Sowjetunion zugeschrieben werden und atomare Vergeltungsmaßnahmen fordern. Wenn mehrere Nationen solche schwimmende Einrichtungen besäßen würde eine anonyme Eyplosion keiner mit Sicherheit angelastet werden können, soviel Verdacht auch auf eine von ihnen fallen möge. Und eine neue atomare Diplomatie würde alles versuchen, um Verdacht und Vergeltung von der schuldigen auf die unschuldige Nation abzulenken.

Von den drei Aktionsmöglichkeiten, die im Falle eines Atomkrieges in Frage kommen — Vergeltung, Passivität oder Erster Schlag — scheint dann Vergeltung im genauen Sinn technisch unmöglich zu sein. Denn bei der Unmöglichkeit, den ersten Angriff zu identifizieren, wäre Vergeltung Rücksichtslosigkeit entweder im Hinblick auf die geographische Region, aus der wahrscheinlich der erste Angriff gekommen ist, oder im Hinblick auf die politische Gemeinschaft, von der angenommen wird, sie habe den ersten Schlag geführt.

Passivität wäre nur dann vernünftig, wenn man einen atomaren Gegenschlag vorbereitete. Solch ein Gegenschlag wäre technisch ein vorbeugender Erster Schlag gegen eine Nation, von der, wenn sie nicht für den ursprünglichen ersten Angriff verantwortlich war, doch angenommen werden kann, daß sie möglicherweise einmal einen unternehmen wird.

Unter solchen Umständen sind Vergeltung und vorbeugender Erster Schlag nicht ohne weiteres unterscheidbar; der Unterschied zwischen Erstem und Zweitem Schlag wird verwischt. Wenn A tatsächlich den ersten Schlag gegen B ausgeführt hat, dann ist der atomare Rückschlag von B ein vergeltender zweiter Angriff. Aber wenn A des ersten Schlages nur verdächtigt wird, dann ist die Aktion von B ein vorbeugender Erster Schlag.

Da alle Atommächte auf solche Weise rechnen und operieren müssen, würde die „Proliferation“ der Atomwaffen, wie sie in de Gaulles Entwurf mit enthalten ist, in eine politische Anarchie von unvorstellbaren Ausmaßen münden; sie würde eine stückweise atomare Vernichtung zur Folge haben oder durch das Zusammentreffen einer Serie von vorbeugend-vergeltenden Schlägen in einer einzigen Katastrophe enden.

So betrachtet, können die Versuche der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zur Aufrechterhaltung des Status quo nuklearer Bipolarität nur Mitleid erwecken. Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion haben sich auf politische Praktiken eingelassen, die sich darin bemerkenswert ähneln, daß sie das Paradoxon der nuklearen Allianz abzuschwächen suchen, ohne es überwinden zu können. Sie riskieren lieber die Desintegration ihrer Bündnisse, als daß sie mit ihren Alliierten in der nuklearen „Proliferation“ kooperieren. Beide haben ihre Allianzen bis zum Zerreißen angespannt, indem sie sich weigerten, Frankreich beziehungsweise China in deren Versuchen, zu Atomwaffen zu gelangen, zu unterstützen.

Beide haben daran mitgewirkt, ein partielles Testverbot zu erwirken, daß dazu beitragen sollte, den Prozeß nuklearer „Proliferation“ zu verlangsamen. Sie haben auch eine gewisse Anstrengung unternommen, einen „Non-Proliferation“-Vertrag zu entwerfen, der auch von den nichtatomaren Nationen angenommen werden könnte. Überdies schlugen die Vereinigten Staaten den Mitgliedern der NATO die Bildung einer multilateralen schwimmenden Atommacht vor, die den Teilnehmern die Illusion der „Proliferation“ gegeben hätte, während sie die Entscheidung über den Gebrauch dieser Kräfte in den Händen der Amerikaner ließ.

Eine traditonelle, mit Atomwaffen ausgerüstete Allianz ist ein politischer Anachronismus: entweder kann man sich nicht auf sie verlassen, wenn man sie braucht, oder sie gibt einem Mitglied die Macht über Leben und Tod des anderen.

Eine Allianz, die den Status quo tatsächlicher nuklearer Bipolarität bewahrt, kann wiederum von einem ebenso ausgerüsteten anderen Mitglied nicht anerkannt werden, und die „Proliferation“ von Atomwaffen unter isolierten Nationen wird wahrscheinlich in einer universellen Katastrophe enden. So bleibt das Paradoxon ungelöst, und der Modus des Denkens und Handelns, den die Atommächte geltend gemacht haben, kann bestenfalls die destruktive Wirkung dieses Paradoxons aufhalten.

Die Abneigung, Bündnisbeziehungen den Bedingungen anzugleichen, die durch die Verfügbarkeit von Atomwaffen geschaffen worden sind, wird verstärkt durch das Festhalten an einem geographischen Konzept, das nur einem pränuklearen, konventionellen Rahmen angepaßt ist.

Bei der Verwundbarkeit industrieller und ziviler Zentren sowie militärischer Einrichtungen durch atomare Angriffe sind Nationen mit ausgedehnten Territorien in einem, wenn auch noch so begrenzten und vielleicht zweifelhaften Vorteil. Nationen wie die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und China könnten die Chance haben, den tödlichen Schäden durch einen weniger als totalen Angriff zu entkommen, weil ihr kontinentaler oder halbkontinentaler Charakter es ihnen erlaubt, ihre Angriffsziele in Form von Industrie- und Bevölkerungszentren und militärischen Einrichtungen zu verstreuen und dadurch zu vervielfältigen. Nationen mit einer hohen Konzentration solcher Zentren und Einrichtungen auf einem relativ kleinen Territorium wie Frankreich, Großbritannien, Westdeutschland oder Israel würden wahrscheinlich schon durch einen Atomangriff geringen Ausmaßes tödliche Schäden davontragen.

Im vornuklearen Zeitalter war es für eine Nation wünschenswert, über zusätzliche Länder Kontrolle zu bekommen: durch Annexionen, durch Pufferstaaten oder Bündnisse; je näher eine Nation der Grenze des voraussichtlichen Feindes kam, eine desto größere militärische Drohung konnte sie darstellen. Und je weiter weg von ihren Grenzen eine Nation ihren voraussichtlichen Gegner halten konnte, desto vorteilhafter war ihre Verteidigungsposition. Dieser zweifache militärische Vorteil ist durch das Vorhandensein interkontinentaler Atomraketen praktisch ausgelöscht worden. Im Hinblick darauf bietet zusätzliches Territorium nur einen militärischen Vorteil: die Multiplizierung der Ziele, die für das Überstehen eines Atomangriffes geringeren Ausmaßes wichtig sein könnte.

In einem konventionellen militärischen Rahmen hat die Kontrolle über das Territorium ihre offensive und defensive Funktion behalten; dies wurde zum Beispiel in den Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten offenkundig. Aber ein militärischer Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion oder zwischen den Vereinigten Staaten und China wird sich unbedingt in der Art einer totalen nuklearen Feuersbrunst abspielen. Es besteht in der Tat die Beinahegewißheit eines solchen Weltbrandes, wenn eine dieser Mächte die militärischen Demarkationslinien von 1945 beziehungsweise 1949 überschreiten solite.

Die Allianzen, die wir mit Nationen an der Peripherie der sowjetischen und chinesischen Reiche geschlossen haben, die militärischen Einrichtungen, die wir in diesen Ländern etabliert haben, erfüllten eine politische Funktion, indem sie diese Nationen der amerikanischen Unterstützung versicherten; und sie erfüllten eine militärische Funktion, indem sie der Sowjetunion und China Beispiele unserer militärischen Entschlossenheit vor Augen führten. Aber sie besitzen keine direkte militärische Relevanz in einem nuklearen Rahmen, außer daß sie für einen Atomangriff zusätzliche Ziele darstellen.

So hat die Politik der peripheren politischen Eindämmung in einem konventionellen Rahmen die Sowjetunion und China nicht wirklich hingehalten, weil diese Politik in einem nuklearen Rahmen angewandt wurde. Sie hat nur die Drohung einer atomaren Vergeltungsmaßnahme auf einen konventionellen Angriff glaubhafter gemacht. Was die Sowjetunion und China tatsächlich zurückgehalten hat, war die Drohung eines totalen Atomkrieges.

Daher hat die Militärpolitik, die wir gegenüber der Sowjetunion und China verfolgt haben, den Begriff konventioneller und nuklearer Zurückhaltung durcheinandergebracht. Anstatt konventionelle Waffen als Mittel zum Zweck nuklearer Zurückhaltung zu gebrauchen, haben wir sie als Zweck in sich selbst verwendet. Die Politik der peripheren Eindämmung hat als solche nur insofern eine nützliche Funktion ausgeübt, als sie versuchte, lokale expansionistische Tendenzen zu entmutigen oder ihnen entgegenzuwirken; mochten diese Tendenzen auch unabhängig von jenen der Sowjetunion oder Chinas sein, sie standen trotzdem den Interessen der Vereinigten Staaten feindlich gegenüber.

Das Paradoxe der nuklearen Allianz enthüllt vielleicht deutlicher als andere Paradoxa nuklearer Strategie die Art des Dilemmas und den fatalen Fehler in unserem Denken und Handeln. Jeder noch so geniale und weitblickende Versuch, die Atomkraft den Zielen des Nationalstaates nutzbar zu machen, ist durch die Ungeheuerlichkeit atomarer Zerstörungskraft unmöglich.

Wir haben versucht, Atomkräfte zu normalisieren, zu konventionalisieren und zu „nationalisieren“. Indem wir dies taten, haben wir das Pferd vom Schwanze aufgezäumt. Anstatt vergeblich zu versuchen, die Atomkraft für die Ziele des Nationalstaates einzusetzen, hätten wir versuchen sollen, diese Ziele den Möglichkeiten nuklearer Kräfte anzupassen. Wir haben davon Abstand genommen, denn um damit Erfolg zu haben, brauchte man eine radikale Umgebung — psychologisch schmerzhaft und politisch gefährlich — traditioneller moralischer Werte, der Art zu denken und der Gewohnheiten zu handeln. Aber ohne eine solche Umwertung wird man die Paradoxa nuklearer Strategie und die ihr anhaftenden Gefahren nicht bewältigen können.

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