Grundrisse, Nummer 40
Dezember
2011
Buchbesprechungen

Krise, Proteste, Arbeitskämpfe

Leo Kühberger / Samuel Stuhlpfarrer (Hg.): Angekommen: Krise & Proteste in der Steiermark, Graz: Forum Stadtpark Verlag 2011, 102 Seiten, Euro 12
Anna Leder (Hg.): Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung. Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien, Wien: Promedia 2011, 224 Seiten, Euro 17,90

Im Schatten der internationalen Ereignisse – vom arabischen Frühling bis zu Occupy Wall Street – passierte dieses Frühjahr in der Steiermark ganz erstaunliches. Zehntausende protestierten gegen ein angekündigtes Sparpaket. Dabei handelt es sich um den schwersten Angriff auf die sozialen Lebensbedingungen unterer Einkommensschichten, aber auch die stärkste Bewegung in der Steiermark seit Jahrzehnten. Organisiert wurde sie von der Plattform 25, einem Zusammenschluss von 600 Organisationen, die sich gegen die angekündigten Einsparungen von 25% richtete. Am 25. März 2011 demonstrierten erstaunliche 10.000, während der ÖGB eine Woche zuvor nur 600 Betriebsrät_innen mobilisieren konnte. Am 11. April protestierten noch einmal tTusende, die größte Demonstration am 26. April 2011 mit Unterstützung der Gewerkschaften wurde schon auf eine brave Ebene gelenkt. Wieder einmal – wie so oft – ist es den Gewerkschaften gelungen, einen „faulen Kompromiss“ (S. 7) zu „erzielen“ (Einsparungen von 67 Mio statt 72 Mio Euro).

Aus dem Umfeld der Plattform 25 wurde jetzt eine Broschüre erstellt. Sie beginnt mit der Einschätzung der aktuellen Krise und der speziellen Situation in der Steiermark (Leo Kühberger, S. 10f) und wird durch ein Gespräch mit Vertreterinnen der KPÖ und den Grünen ergänzt, die die Bewegung als parlamentarische Gruppierungen unterstützten (Claudia Klimt-Weithaler, Ingrid Lechner Sonnek, S. 15f). Sie zeigen auf, dass das Geld nicht unbedingt im Sozial- und Bildungsbereich geholt werden muss, sondern bei einer Reihe teurer Prestigeprojekte und bei der privatisierten Pflege (S. 17), die unverschämt hoch finanziert werden. Neben der Beschreibung der Ereignisse, insbesondere einer Chronologie, sind im Kernteil unterschiedliche Beiträge abgedruckt, die das Spektrum repräsentieren, das sich an dieser Bewegung beteiligte. Er beginnt mit der Entwicklung der Bewegung (Georg Fuchs, Anita Hofer, S. 20f), in einem zweiten Teil geht es um den Widerstand gegen das Bettelverbot (im Februar demonstrierten bereits an die tausend Menschen in Graz gegen diese Einschränkung des öffentlichen Raumes (Anton Lederer, Margarethe Makovec, Thomas Wolkinger, S. 25f). In verschiedenen Aufrufen werden die Positionen der Betroffenen aus dem Blickwinkel sozialer und feministischer Projekte beschrieben (Steiermärkische Frühförderstellen, S. 30f, Grazer Frauenrat, S. 32f). Neben einem ersten Aufruf der Plattform (S. 28) wird auch eine „alternative Budgetrede“ dokumentiert (Yvonne Seidler und Gerhard Zückert sind die Sprecher_innen der Plattform 25, S. 38f). An letzterer zeigt sich auch, dass nicht allein dem ÖGB die Schuld am Abwürgen der Bewegung zugeschrieben werden kann. Diese Budgetrede bietet Alternativen an, die ein gegenseitiges Ausspielen von Interessen erlauben, allerdings in einem nachfolgenden Beitrag kritisiert werden (Samuel Stuhlpfarrer, S. 43f).

Ergänzt wird die Dokumentation durch eine Analyse der Sozialwirtschaft als notwendigen und wertvollen Teil des Kapitalismus (Nausner & Nausner, S. 60f). Ein wichtiger Beitrag von Leo Kühberger (S. 68f) erklärt die Problematik der zunehmend bezahlt geleisteten Care-Arbeit im Kapitalismus: diese Arbeit ist nicht „produktiv“ ist im Sinne der Mehrwertproduktion, zugleich ist sie zentral, weil sie die (Wieder)Herstellung der Arbeitskraft bedeutet. Sie soll in Zukunft als (meist weibliche) Arbeit wieder unbezahlt für das Kapital geleistet werden.

In weiteren Beiträgen wird gewagt, einen Blick über den Tellerrand zu werfen, indem neben anderen Widerstandsaktionen Streiks propagiert werden (Andreas Exner, S. 46f). Eine solche Perspektive wird am Streik bei Sozial Arbeitenden in Oberösterreich („pro mente“, Exit Sozial“, „Arcus-Sozialnetzwerk“) im Herbst 2010 aufgezeigt, der mit Unterstützung der Klient_innen weitgehend erfolgreich war – ein Großteil der geplanten Entlassungen wurde zurückgenommen (Selma Schacht, S. 78f).

Nach der Niederlage der Bewegung bleibt die Frage, ob das Doppelbudget 2013 neuerlich auf so großen Widerstand stößt oder ob es gelingt, wieder tiefe Einschnitte bei sozialen Absicherungen zu machen (S. 29). Bei der Bewegung im Frühling 2011 handelte es sich um ein Aufbäumen von Teilen der Bevölkerung im Zeichen der Selbstermächtigung. Diese Selbstermächtigung neben und gegen die Gewerkschaften und die Rolle der Disziplinierung durch letztere – auch durch die Übernahme der Führung von Widerstandaktionen – ist das Thema des zweiten hier zu besprechenden Buches.

Ausgehend von einer Rundreise durch die Schweiz, Deutschland und Österreich zur Unterstützung von Streikenden in Serbien entstand eine Koordination von Aktivist_innen, die selbst ermächtigende Streik international unterstützen wollen. Dieses Buch ist ein erstes Ergebnis. Der Beitrag von Christian Frings (Autonome Klassenkämpfe in Deutschland – mit Blick auf Frankreich, S.15f) beschreibt den Aufschwung der teilweise autonomen Arbeiter_innenkämpfe zwischen 2004 und 2008, beginnend mit einem dreitägigen wilden Streik bei Opel-Bochum. Ergänzt wird dieser Beitrag durch einen und Rückblick auf die Geschichte der Sozialpartner_innenschaft in Deutschland seit 1945. Im zweiten Beitrag wird der Kampf gegen die Schließung eines Reifenwerkes in Frankreich beschrieben (Rainer Thomann: „Continental: Die Löwen von Clairox“). Entscheidend ist dabei der Satz: „Wenn die Angst die Seite wechselt“. Die Arbeiter_innen haben aufgehört, sich zu fürchten und zu kämpfen begonnen.

Die österreichische Geschichte ist eine der überraschenden Ausbrüche, besonders aber eine der Befriedung (Peter Haumer: „Selbstermächtigung in Österreich: Zwischen Befriedung und Revolte). Gerade in den letzten Jahren ist es gewerkschaftlichen Funktionär_innen gelungen, jeden Hauch von Selbstermächtigung abzuwürgen (mit Ausnahme der Kindergartenpädagog_innen im „Kindergartenaufstand“). Hervorheben möchte ich die versuchte Selbstorganisation des Pflegepersonals in der zweiten Hälfte der 1980er, die eine erstaunliche Dynamik entwickelte, teilweise der gewerkschaftlichen Kontrolle entglitt und dadurch bessere Arbeitsbedingungen erkämpfen konnte. Auch die Schweizer Geschichte der Arbeitskämpfe ist eine des Arbeitsfriedens mit Ausbrüchen (Rainer Thomann: Schweiz Arbeiterwiderstand im „Land des Arbeitsfriedens“). Besonders hervorzuheben ist der Widerstand in den Eisenbahnwerkstätten in Bellinzona im Jahr 2008, wo sich die Arbeiter_innen von den Gewerkschaften emanzipierten und mit Unterstützung der Bevölkerung im Tessin erfolgreich die Schließung verhindern konnten. Ganz anders ein neueres Beispiel: In der Kartonfabrik in Deisswil verhinderte die Gewerkschaft Streiks und Besetzungen und machte dadurch einen Erfolg unmöglich. Das Resümee der bisherigen Beiträge ist, dass das Abwürgen von Kämpfen durch beamtete Funktionär_innen verhindert werden kann, wenn eine Kerngruppe von Aktivist_innen die Gewerkschaft dazu zwingt, kämpferischer aufzutreten, weil sie sonst Angst haben müssen, ihren Führungsanspruch zu verlieren. Wenn sich eine solche informelle Struktur erst während der Auseinandersetzungen bildet – was praktisch immer passiert – ist die Niederlage meist vorprogrammiert.

Dabei handelt es sich allerdings nicht nur um ein Problem des „Verrats“ durch die sozialpartnerschaftlich agierenden Gewerkschaften, sondern es ist auch die abwartende Haltung der Belegschaften, die zu einem wenig kämpferischen Verhalten führt und dadurch schon die Niederlage vorweg nimmt. „Wer sein Leben lang Entscheide anderen überlassen und auf Anweisungen gewartet hat, kann auch im Fall einer Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz nicht plötzlich ganz anders reagieren.“ (S. 191)

Im Beitrag zu Serbien (Milenko Sreckovic, Ivan Zlatic: Deindustrialisierung und ArbeiterInnenwiderstand in Serbien) wird klar, dass die Situation dort eine andere ist: Einerseits existiert zwar die Geschichte der Arbeiter_innenselbstverwaltung im ehemaligen Jugoslawien, andererseits haben aber die kapitalistischen Angriffe durch Kriege und Deindustrialisierung eine noch ungünstigere Situation geschaffen: Die Angst braucht erst gar nicht die Seite wechseln, weil es bei den entsprechenden Lebensumständen ohnehin nichts mehr zu verlieren gibt. So fanden und finden immer wieder militante und radikale Kämpfe und Widerstandsaktionen statt, die in ihren Versuchen, Selbstorganisationsformen trotz widriger Bedingungen zu konstituieren, weiter gehen als die meisten Kämpfe in Westeuropa.

Eines ist aber klar, das gilt für die Schweiz, Österreich und Deutschland wie für Serbien und Frankreich: die Organisationsform im 21. Jahrhundert muss eine andere sein als jene der Parteien und Gewerkschaften. In unterschiedlichen sozialen Sektoren haben in den letzten Jahren die Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe zugenommen. Diese beiden Bücher bedeuten eine Reflexionen darüber und sind ein wichtiger Ansatz einer notwendigen Internationalisierung der Diskussion im Widerstand gegen den kapitalistischen Krisenangriff.

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