FORVM, No. 354/355
Juni
1983

Kritik der Kritik der

zynischen Vernunft

Peter Sloterdijk. Kritik der zynischen Vernunft. es NP 99 Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1983. Zwei Bände, 954 Seiten. öS 273,60 / DM 36

Ein zweibändiges Werk solchen Umfangs und dieses Titels — unmöglich, sich anders als in größter Spannung zu nähern. In Zeiten geistigen Verfalls ist allein schon die großspurige Geste anziehend. Und hier holt ja einer — auf den ersten Blick — ziemlich weit aus. Wer so formuliert, der scheut nicht nur die Nähe der ganz Großen nicht, der sucht sie sogar. Oder er macht schlechte Witze.

Ob Peter Sloterdijk nur witzig — klassisch: geistreich — sein will oder ob es ihm — man könnte hinzufügen: (endlich) wieder einmal — ums Große und Ganze geht, ist so schnell gar nicht zu entscheiden. Der äußere Aufbau des Riesenessays kokettiert vorerst einmal mit dem Pathos längst verflossener Systemphilosophie. Von „Vorüberlegungen“ ist da die Rede und von „Hauptstücken“: einem physiognomischen, einem phänomenologischen, einem logischen und einem historischen. Von der „Psychosomatik des Zeitgeistes“ wird zu lesen sein, von „Kardinal- und Sekundärzynismen“, eine „transzendentale Polemik“ wird angekündigt. Die Affinitäten zur Kantischen Terminologie erweisen sich schnell als äußerlich zumindest vordergründig: Das Buch hätte schon 1981 auf dem Markt sein sollen. Damals jährte sich zum zweihundertsten Mal das Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft.

In eine andere, aber nicht minder große Tradition stellt sich Sloterdijk gleich mit dem ersten Satz der Vorrede: „Seit einem Jahrhundert liegt die Philosophie im Sterben und kann es nicht, weil ihre Aufgabe nicht erfüllt ist.“ Bei aller Sympathie für den Inhalt des Satzes, so kann man ein Buch heutzutage einfach nicht beginnen. Das ist keine Anspielung, das ist kein Zitat, das ist schlechte, verkürzte, damit dumme Paraphrase: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ So beginnt bekanntlich ein Buch, das sich nicht so einfach umschreiben läßt: Theodor W. Adornos Negative Dialektik.

Wie mißlungen sie auch sein mag, die Intention dieser einleitenden Geste bleibt gewahrt: Sloterdijik möchte durchaus dort fortsetzen, wo für ihn die Kritische Theorie stehenblieb: „Die Kritik der instrumentellen Vernunft drängt darauf, als Kritik der zynischen Vernunft zuende geführt zu werden“.

Für zukünftige Philosophiehistoriker ist damit der Weg schon vorgezeichnet: Von der Kritik der reinen über die Kritik der instrumentellen zur Kritik der zynischen Vernunft. Letztere, d.h. Sloterdijks Buch, beschreibt sich selbst dann allerdings als eine „Meditation über den Satz: Wissen ist Macht.“

Wissen ist Fluch

Was dahinter nun wieder verräterisch zuckt, ist natürlich der Schnauzbart Friedrich Nietzsches. Wer allerdings glaubt, Sloterdijk begnüge sich mit diesen Ansprüchen, irrt. Im Eigentlichen geht es Sloterdijk darum, „den sterbenden Baum der Philosophie noch einmal blühend zu sehen — und in einer Blüte ohne Enttäuschung“. Nur, Sloterdijk weiß: diesen Baum „kann es eigentlich nicht geben“.

Doch nun zur Sache. Der Satz, der für Sloterdijk zum „Totengräber der Philosophie“ im 19. Jahrhundert wurde, stellt auch Kern und Angelpunkt jenes Zynismus dar, der geistiges Charakteristikum unseres Zeitalters geworden ist. Wer die Macht will, muß wissen, und wer die Macht nicht sucht, braucht auch deren „Wissensrüstungen“ nicht. Das alte Programm der Aufklärung, durch mehr Wissen die Lebensverhältnisse zu verbessern — dem sich ja auch die hiesige Sozialdemokratie noch immer verpflichtet fühlt — schlägt nach Sloterdijk in ihr Gegenteil um: „Die Umkehrung des Verhältnisses von Leben und Lernen liegt in der Luft (...) Im Grunde glaubt kein Mensch mehr, daß heutiges Lernen ‚Probleme von morgen löst‘, fast sicher ist vielmehr, daß es sie auslöst“. Dise notwendig gewordene innere Verschränkung von Wissen und Macht, von Aufklärung und Praxis, verändert das öffentliche Bewußtsein. Es ist ein falsches, weil es offiziell noch immer von den humanen Möglichkeiten des Wissens redet. Gleichzeitig ist es aufgeklärt, weil es (insgeheim) sein eigenes Gerede längst nicht mehr glaubt. Das aufgeklärte falsche Bewußtsein ist das „unglückliche Bewußtsein“ unserer Epoche. Sloterdijks Formel und erste Definition des herrschenden Zynismus: „Handeln wider besseres Wissen ist das globale Überbauverhältnis heute“.

Betrug der Priester

Was sich in der Realität als „Sachlage“, schärfer: Sachzwang darbietet, ist, logisch gesehen, ein Witz. Dafür gilt der Satz: Sie tun es (das Falsche) und sie wissen es. Diesem über sich selbst aufgeklärten falschen Bewußtsein ist nach Sloterdijk mit den üblichen Formen der Ideologiekritik nicht länger beizukommen. Er rekonstruiert deshalb — in einem der wirklich faszinierenden Kapitel des Buches — die Priesterbetrugstheorie des späten 18. Jahrhunderts. Damals war man davon ausgegangen, daß die Priester am besten über die Falschheit der Religion Bescheid wüßten, diese aber dennoch einsetzten, um bewußt das Volk in die Irre zu führen: „Die Betrugstheorie ist reflexiv komplexer als die polit-ökonomische und tiefenpsychologische Entlarvungstheorie. Beide Entlarvungs-Theorien legen den Täuschungsmechanismus hinter das falsche Bewußtsein: es wird getäuscht, es täuscht sich. Die Betrugstheorie hingegen geht davon aus, daß man den Irrtumsmechanismus bipolar betrachten kann. Nicht nur kann man Täuschungen erleiden, man kann sie auch, ungetäuscht, gegen andere benutzen.“ Den Vorteil dieser Theorie sieht Sloterdijk darin, daß sie, ein Vorstoß der Ideologiekritik im Hinblick auf eine „reflexive Ideologie“, das Niveau einer Kritik entwirft, die dem Gegner „eine mindestens ebenbürtige Intelligenz“ zubilligt. Ideologie und Ideologiekritik verhielten sich dann zueinander in zunehmendem Maße wie Spionage und Gegenspionage, deren Mechanismen Sloterdijk in der Tat als Grundformen von Aufklärung beschreibt: Ich weiß, daß der andere weiß, daß ich weiß, was der andere weiß.

Herrenzyniker

Dieses Konzept eröffnete tatsächlich einige Perspektiven. Ideologieproduzenten wären nicht mehr Charaktermasken von Systemverhältnissen, blinde, bewußtlose Agenten des Weltgeistes, sondern im Vollbesitz reflektiven Wissens, das sie benutzen, um andere hinters Licht zu führen. Sie werden dadurch — endlich, ist man versucht hinzuzusetzen — auch wieder moralisch angreifbar. Und sie sind, packt man es geschickt an, auch zu entlarven: „Jede Vormacht, einmal zum Sprechen gebracht, kann es nicht lassen, ihre Schulgeheimnisse auszuplaudern. Ist Diskretion erst einmal gesichert, so kann sie fabelhaft ehrlich sein“.

Es fällt allerdings schwer, in diesen Thesen nicht auch so etwas wie eine noble Affirmation zu sehen: Es wäre auch zu furchtbar, wären die Herrschenden wirklich so dumm, wie sie sich stellen. Das heißt, es ergibt sich die Frage, wer hier dann zynischer agiert: die Herren oder deren Kritiker. Auch den Gegner zu überschätzen kann — und das nicht nur beim Spionieren — ein tödlicher Fehler sein.

Als Prototyp dieses „Herrenzynikers“, der weiß und täuscht, erscheint Sloterdijk des Dostojewskij Großinquisitor. Sein Zynismus, wie der der Machthaber überhaupt, wurzelt in der Einsicht, daß es der „allergrößten Mehrheit der Menschen vor der Freiheit graut und daß sie keinen tieferen Antrieb kennt als den, ihre Freiheit aufzugeben ...“ Unter solchen Umständen erscheint dann die Übernahme von Herrschaft in der Tat „als eine Art Selbstopfer“.

ky versus zynisch

Sloterdijk begnügt sich allerdings nicht mit der Beschreibung des Herrenzynismus. Es geht um (praktische) Kritik daran. Als Wurzel derselben erweist sich — was immerhin eine schöne Pointe abgibt — die Haltung, der der Zynismus — zumindest etymologisch — selbst entsprungen ist: der antike Kynismus. Er wird — ebenfalls prototypisch — dargestellt in der Figur des Diogenes, jenes antiken Philosophen also, der den großen Alexander aus der Sonne scheuchte und die athenische Aristokratenphilosophie mittels öffentlicher Masturbation kritisierte. Kynismus meint subversives Unterlaufen herrschender Theorien, mittels genau derjenigen Momente des Lebens, die durch Theorie abgewertet werden: Sinnlichkeit, Paradoxie, Satire, Kunst. Sloterdijk kennt allerdings auch die inneren Gemeinsamkeiten von Zy und Ky: beide entspringen dem „Motiv der Selbsterhaltung in krisenhaften Zeiten“ und beide sind eine „Art von schamlosen schmutzigen Realismus, der ohne Rücksicht auf konventionelle moralische Hemmungen sich zu dem bekennt, ‚was der Fall ist‘“. Auch der Zy wagt sich manchmal „mit nackten Wahrheiten“ hervor, die jedoch in der Art, „wie sie vorgebracht werden, etwas Unwahres behalten“.

Dennoch entpuppt sich der Ky als die Möglichkeit zur Rückkehr zum ursprünglichen Zweck des Daseins: zum Leben selbst. Der „Zynismus der Mittel“, wie er die instrumentelle Vernunft charakterisiert, muß durch eine Wendung zu einem „Kynismus der Zwecke“ kompensiert werden. Das heißt: „Abschied vom Geist der Fernziele“ und „Einsicht in die ursprüngliche Zwecklosigkeit des Lebens“: „Das Dasein hat auf Erden außer sich selbst nichts zu suchen, aber wo der Zynismus regiert, ist man auf der Suche nach allem, nur nicht nach dem Dasein.“

Zyky’s Ahnen

Sloterdijk führt dann ein Potpourri der verschiedenen Formen des Zynismus vor, wie sie das gesellschaftliche Leben der Moderne in all ihren Erscheinungsweisen durchziehen, als Militär-, Staats- und Sexualzynismen, als Medizin-, Religions- und Wissenszynismen, als Informations- und Tauschzynismen. Dagegen werden fallweise die Kyniker und Kynismen ins Feld geführt, die sich von Diogenes ableiten und die dabei die geistige Ahnengalerie Slotderdijks darstellen sollen: Lukian, Jesus natürlich und das Judentum überhaupt, Körperlichkeit und Feminismus, ein bißchen Adorno und etwas mehr Benjamin, der halbe Marx und der ganze Heine, Erich Kästner und der frühe Brecht, der „junge, böse, nicht der, der geglaubt hat, Schulstunden auf der kommunistischen Galeere halten zu müssen“, Da-Da selbstredend und, man glaubt es kaum, ein von den Füßen auf den Kopf gestellter Heidegger: „Man könnte (die Existentialontologie) lesen wie eine umgekehrte Satire, die nicht das Hohe heruntersetzt, sondern das Niedere hinauf.“ Fürwahr ein hübscher Gedanke. Seine Konsequenz folgt dann auch auf dem Fuß: „Ohne es zu wissen und zum guten Teil sogar ohne es wissen zu wollen, ist die Neue Linke eine existentialistische Linke, eine neo-kynische Linke — eine Heideggersche Linke.“

zy dürr besser Gü Anders

Abgesehen von solchen Einfällen bleibt aber Sloterdijks Streifzug durch die zynischen Formen und kynischen Aktivitäten über weite Strecken eigenartig dürr. Es scheint, als fehlte der angekündigten Systematik dann doch der innere Zusammenhang.

Vieles wirkt beliebig, etliches kennt man schon, hat es woanders mitunter schon besser gelesen, manches wirkt wie eine Pflichtübung, wie das übliche Kapitel über die atomare Apokalypse, dem Sloterdijk sogar hinzufügt, daß das alles Günther Anders vor 25 Jahren auch schon geschrieben hat.

Die essayistische Form gelangt bei Sloterdijk nur selten zur geforderten Einheit von These und Argument, oft bleibt es bei der billigen Anspielung von Titel zu Titel: die „minima amoralia“ haben eben ansonsten mit den minima moralia nichts gemein — sie stellen keineswegs deren Antithese dar.

Die Partien über Sexual- und Staatszynismen wiederum bleiben, trotz provokanter Themenstellung, dünn, materialarm. Wo der Witz der Formulierung nicht mehr trägt, stürzt man mitunter in die Leere des Inhalts. Der Nachteil des großen Zugriffs, der alles umspannt und wenig erfaßt. Auch das „Historische Hauptstück“, die Darstellung der Zynismen der Weimarer Republik als „Bewußtseinsmodelle der Moderne“ bleibt eigenartig beliebig. Es hat zweifellos starke Momente, die Analyse des Kriegsbehindertenwesens etwa, erschöpft sich am Ende aber in seitenlangen Zitaten aus legendären Dokumenten dieser Jahre — von Adolf Hitlers Mein Kampf bis Vicki Baums Menschen im Hotel. Es fehlt da die Kraft des interpretierenden und synthetisierenden (Kant) Gedankens.

Ge- & zylungen

Allerdings tauchen im Essay immer wieder auch geglückte Sätze auf, die Momente von Erkenntnis aufblitzen lassen. Wer etwa fände nicht Gefallen an Formulierungen wie: „Die Religion ist primär nicht das Opium des Volkes, sondern die Erinnerung daran, daß es mehr Leben in uns gibt, als dieses Leben lebt.“ Die Analyse des Informationszynismus der Massenmedien ist gelungen: „Nur weil (die Medien) sich auf dem Nullpunkt gedanklicher Durchdringung festgesetzt haben, können sie alles geben und alles sagen, und dies wiederum alles auf einmal.“ Treffend und witzig auch die Aufdeckung des Tauschzynismus mit Marx: „Im Innersten des kapitalistischen Äquivalenzparadieses findet Marx die Schlange um den Baum der Erkenntnis geringelt und zischend: wenn ihr begriffen habt, wie man systematisch mehr nimmt als gibt, dann werdet ihr sein wie das Kapital und vergessen, was gut und böse ist.“

Nur, es reicht wohl nicht, um dem Anspruch zu genügen.

Gar nicht dem, große Philosophie zu fabrizieren, sondern durch satirisch-aggressive Kynismen den Zynikern der Macht die Masken vom Gesicht zu reißen.

Die abschließende, Hoffnung versprühende, „überschwengliche“ Rede vom „gelungenen Leben“, das die „Rhythmik des Lebendigen spontan“ in sich trägt, hätte sich Sloterdijk sparen können. Am Anfang hatte er mit Recht geschrieben, es gebe, wie die Dinge liegen, „Treue zur Aufklärung nur noch in der Untreue“. Es wird, wie die Dinge liegen, mit der Hinwendung zum „gelungenen Leben“ wohl nicht viel anders sein.

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