FORVM, No. 159
März
1967

Kritik einer Marx-Kritik

Dr. Theodor Prager studierte Nationalökonomie an der London School of Economics, die lange Jahre als „hotbed of Communism“ galt. In der Tat ist Prager derzeit Mitglied des ZK der KPÖ, wo er dem progressivsten Flügel — in etwa: Antistalinismus und Revisionismus nach Muster der KPI — zugerechnet werden darf. Prager ist seit 1947 in der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Wiener Arbeiterkammer tätig und Verfasser zahlreicher wirtschaftspolitischer Schriften, darunter „Wirtschaftswunder oder keines?“ im Europa-Verlag, Wien 1963, unterdessen in mehrere Sprachen übersetzt (vgl. Erwin Weissel: Wirtschaftswunder oder Keynes?, FORVM, März 1965). Pragers Revision des altgläubigen Marxismus geht, wie man diesem Buch und auch nachfolgendem Text entnehmen kann, weit über das hinaus, was die „alte Linke“ der SPÖ noch konserviert.

Die akademische Nationalökonomie beschäftigt sich in Österreich nur selten mit Marx. Prof. Gottfried Haberler, früher Wien, derzeit Harvard, ist ein hervorragender Vertreter der akademischen Nationalökonomie. Wenn Prof. Haberler in der „Zeitschrift für Nationalökonomie“ über die Marx’sche Ökonomie schreibt, [1] so ist das ein bemerkenswertes Ereignis.

Sein Ton ist sachlich, seine Kritik rührt an zentrale Probleme. Wenn diese Kritik hier kritisiert wird, dann nicht, um zu beweisen, daß Marx über Kritik erhaben ist und unbedingt Recht haben muß. Große Geister dürfen auch irren. Marx durfte nicht nur, er hat auch geirrt. Zum Beispiel in seinem Revolutionsmodell. Die Pariser Commune ereignete sich zwar in einem relativ hochentwickelten kapitalistischen Land, aber sie wurde niedergeschlagen. Die Oktoberrevolution war zwar siegreich, aber sie erfolgte in einem relativ schwach entwickelten kapitalistischen Land.

Werttheorie

Prof. Haberler beschränkt sich auf eine Auseinandersetzung mit Marx’ ökonomischer „Doktrin“. Seine erste Kritik gilt der Wertlehre.

Nach Marx (wie Ricardo) sind die Werte der Waren durch ihren in Arbeitszeit ausgedrückten Kostenaufwand bestimmt. [2] Im Kapitalismus ist auch die menschliche Arbeitskraft Ware und daher den Spielregeln des Systems — dem Wertgesetz — unterworfen. Die Arbeitskraft hat aber die besondere Fähigkeit, mehr Wert herzustellen, als sich in den zu ihrer Reproduktion erforderlichen Existenzmitteln verkörpert. Darin liegt bei Marx (deutlicher als bei Ricardo) die Quelle jenes ökonomischen Überschusses, den sich die Kapitalisten kraft ihres Eigentums an den Produktionsmitteln als Mehrwert aneignen und aus dem sowohl der kapitalistische Konsum als auch die kapitalistische Akkumulation stammen.

Prof. Haberler hat keine formalen Einwände gegen diese Darstellung. Er hält sie jedoch mit dem Hinweis darauf, daß die relativen Marktpreise keineswegs dem relativen Gehalt der Waren an direkter Arbeitszeit entsprechen, daß also Preise und Werte durchaus nicht übereinstimmen, [3] für völlig steril. Er konzediert zwar, daß Marx sich dieses Widerspruchs bewußt war, ihn schon bei Abfassung des I. Bandes des „Kapitals“ [4] im Auge hatte und sich die Lösung des Rätsels, wie das Postulat gleicher Mehrwertraten angesichts der unterschiedlichen „organischen Zusammensetzung“ des Kapitals mit der Tendenz zum Ausgleich der Profitraten in Einklang zu bringen sei, für später vorbehielt. Aber Haberler meint, mit Eugen Böhm-Bawerk, daß auch die „verwickelten und gewundenen Erörterungen“ des III. Bandes des „Kapitals“ den Widerspruch zwischen dem ursprünglichen Wertgesetz und der später entwickelten Produktionspreistheorie nicht lösen: „Ich kann mir nicht helfen, ich sehe keine Erklärung und Versöhnung des Widerspruchs, ich sehe nur den Widerspruch.“

Daß die Lösung des Widerspruchs bei Marx nicht völlig geglückt oder zumindest nicht bis in die letzten Verästelungen durchdacht ist, finden auch manche marxistische Ökonomen. Einige von ihnen, vor allem der Amerikaner Paul Sweezy, haben den verwickelten Faden noch weiter gesponnen und schließlich eine formal befriedigende Lösung gefunden. [5] Man könnte allerdings fragen, was man davon hat, wenn man am Ende bestenfalls nur sagen kann, daß individuelle Warenwerte und Preise in einem „organischen Zusammenhang“ miteinander stehen, die Preise um die Werte schwanken wie die Wellen um den Wasserspiegel usw. Ist der ganze aufgebotene analytische Apparat nicht ein etwas großer Aufwand im Verhältnis zu dem bescheidenen Resultat, läßt sich die Frage der Preisbildung nicht direkter und konkreter angehen?

Aber Marx war eben nicht in erster Linie am Problem der Preisbildung interessiert. Ihm ging es vielmehr darum, das Bewegungsgesetz des Systems als Ganzes aufzuspüren, ihn beschäftigten vor allem die makro-ökonomischen, [6] nicht die mikro-ökonomischen Fragen (womit nicht gesagt ist, daß die letzteren leicht zu lösen sind). Er ging daher bewußt von der Produktionssphäre aus, von den Grundgegebenheiten der gesellschaftlichen Struktur und den durch sie bestimmten gesellschaftlichen Beziehungen, aus denen die Marktbeziehungen erst abzuleiten sind.

Was, so fragt Marx, sind überhaupt die Voraussetzungen und der historische Werdegang dieser spezifischen sozialökonomischen Formation, des Kapitalismus; was sind seine Funktionsbedingungen; welches die Bestimmungsfaktoren der Einkommen der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten; wie funktioniert der Mechanismus der kapitalistischen Konkurrenz; wie wirkt er sich auf die Entwicklung der Produktivkräfte aus; wie beeinflußt er die Eigentumsstruktur; in welchen Wechselbeziehungen stehen Akkumulation des Kapitals, „Arbeitsmarkt“ und Lohn; wie verläuft der Prozeß des Wirtschaftswachstums (wie wir heute sagen würden); wie entfalten sich die Widersprüchlichkeiten des Systems als Triebkraft seiner Dynamik, usw.

Lauter „klassische“ Fragestellungen, auf die sich neuerdings auch die akademische Nationalökonomie wieder besonnen hat. Und immerhin dient die Entwicklung des Wertgesetzes bereits im I. Band des „Kapitals“ zur Aufrollung dieser Grundfragen. Die Beantwortung, die hier in erster Approximation erfolgt, wird im weiteren verfeinert und vertieft, und wenn dazu allerhand verschlungene Wege und Umwege erforderlich sind, so liegt das an der Komplexität der Wirklichkeit und daran, daß Schein und Sein eben nicht immer zusammenfallen.

Daß dem so ist, ist auch der modernen nicht-marxistischen Ökonomie wohlbekannt; z.B., daß in einer Situation der Unterbeschäftigung nicht die Spartätigkeit die Investitionstätigkeit bestimmt, sondern umgekehrt; daß Einschränkungen im Staatshaushalt eher eine Vergrößerung der Defizite als eine Verminderung herbeiführen; daß Lohnsenkungen eher zu Gewinnminderung und Stagnation als zur Belebung führen; daß kostspielige Kriegsvorbereitungen ein Land unter Umständen eher bereichern als seine Verarmung bewirken usw. — lauter Fälle, wo Schein und Sein auseinanderklaffen und der „gesunde Menschenverstand“ in die Irre führen kann.

Daß die Marktpreise nicht direkt aus dem Marx’schen Wertsystem ableitbar und ablesbar sind, genügt Prof. Haberler bereits, um dieses System als völlig unbrauchbar für die Formulierung irgendwelcher Diagnosen oder Leitlinien für die Wirtschaftspolitik zu verwerfen. „Marxian economics has proved operationally completely sterile in capitalist and communist countries.“

Es hat nicht viel Sinn, hier über diese Behauptung, soweit sie die kapitalistischen Länder betrifft, zu streiten, da sie nicht weiter begründet wird. Was die „kommunistischen“ Länder betrifft, so begnügt sich Prof. Haberler mit dem Hinweis darauf, daß die langjährige Weigerung der sowjetischen „Wirtschaftsmanager“, der Knappheit des Kapitals durch Berechnung eines angemessenen Zinssatzes Rechnung zu tragen, zu schweren Fehlleitungen von Ressourcen geführt habe; eine Unterlassungssünde, die direkt auf die Marx’sche Konzeption von der Arbeitskraft als einzige Quelle der Wertschöpfung zurückzuführen sei.

Das ist ungefähr so, wie wenn man die „Fünfer“ eines schlechten Lateinschülers auf das Konto seines Klassenvorstands, der Deutsch unterrichtet, buchen wollte. Irgendwo mag es auch da einen entfernten Zusammenhang geben.

Im übrigen, findet Prof. Haberler, braucht man bloß die jüngeren Leistungsergebnisse der westdeutschen und ostdeutschen, der österreichischen und tschechoslowakischen, der griechischen und der jugoslawischen Wirtschaft vergleichen, um die Sterilität der Marx’schen Ökonomie „mit nacktem Auge zu sehen.“ Das ist nicht einfach „begging the question“, sondern begging all the questions.

Verelendungstheorie

Im nächsten Teil seiner Abhandlung wendet sich Prof. Haberler den „ökonomischen Prophezeiungen“ Marx’ zu. Nicht allen: so läßt er die Darstellung der Konzentrationstendenz sang- und klanglos unter den Tisch fallen. Dafür beschäftigt er sich mehr oder weniger eingehend mit der sogenannten „Verelendungstheorie“ und mit der „Theorie der Verschärfung der Wirtschaftskrisen“.

An diesem Punkt ist man geneigt zu sagen, Prof. Haberler schreibe zwar sine ira aber auch sine studio, zumindest ohne Marx selber konsultiert zu haben — was doch eigentlich naheliegend wäre. [7] „Ebensowenig, wie die Worte ‚Zusammenbruchstheorie‘ und ‚Katastrophentheorie‘, stammt das Wort ‚Verelendungstheorie‘ von Marx oder Engels her, sondern von Kritikern ihrer Anschauungen“, stellte schon Karl Kautsky in seiner Polemik mit Eduard Bernstein fest. [8]

Im „Kapital“ spricht Marx zwar von der „Masse des Elends“, von der „Akkumulation des Elends“ usw., [9] aber niemals von „Verelendung“, absolut, relativ oder sonstwie. Der Passus, der gewöhnlich zu solchen Auslegungen Anlaß gibt, lautet wörtlich:

Aber alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation, und jede Ausdehnung der Akkumulation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung jener Methoden. Es folgt daraus, daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Bezahlung, sich verschlechtert. Das Gesetz endlich, welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Vergewaltigung und moralischer Erniedrigung auf dem Gegenpol, d.h. auf seiten der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert. [10]

Akkumulation des Kapitals auf der einen Seite, des Elends auf der anderen, als Folge jenes Prozesses der Entfaltung der Produktivkräfte, der mit (periodischer) Überflüssigmachung von Arbeitskräften verbunden ist und damit nicht nur auf die Lage der unmittelbar Betroffenen, sondern auch der im Produktionsprozeß Verbleibenden drückt. Gewiß eine drastische Darstellung, aber doch weit eher als solche eines Kausalzusammenhangs zu verstehen denn als „Prophezeiung“ einer langfristigen „ehernen Gesetzmäßigkeit“. [11]

Natürlich dramatisierte Marx, unter dem Eindruck der wahrlich erschütternden Zustände inner- und außerhalb der zeitgenössischen Fabriken, jener „düster-satanischen Mühlen“, [12] und doppelt gereizt durch die beschauliche Dickhäutigkeit der zeitgenössischen bürgerlichen Moral. Aber ganz so unrealistisch war dieses Bild schließlich nicht, und selbst heute finden wir oft die krassesten Widersprüche, nicht bloß in den Textilzentren Bombays, in so mancher Großstadt Lateinamerikas oder auch Italiens; man denke bloß an die Negerghettos in Chicago mit ihrem Elend und ihren Verzweiflungsausbrüchen.

Allerdings, wenn man aus Marx’ Darstellung die „Theorie“ eines unabwendbaren Gesetzes der sozusagen permanenten Verelendung herauslesen will, ist leicht darzutun, daß der Verlauf der kapitalistischen Akkumulation keineswegs immer „so arg“ war und daß ein „so arger“ Verlauf heute zumindest in den entwickelten Industrieländern die Ausnahme, nicht die Regel darstellt, Marx’ „Prophezeiung“ also danebenging.

Aber wenn Marx auch gern dramatisierte, er war doch viel zu sehr Sozialwissenschafter und Dialektiker, um ein Freund „eherner Gesetze“ zu sein. Sagt er doch selbst, wenige Zeilen vor dem zitierten Passus, das von ihm entwickelte „absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation wird gleich allen andern Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände abgewandelt, deren Analyse nicht hierher gehört.“

Wir würden hinzufügen, nicht nur abgewandelt, sondern in seiner Wirkung modifiziert und sogar reversiert durch jenen Widerstand der Getretenen, den gerade Marx mitinspiriert und beflügelt hat. [13]

Daß Prof. Haberler von einer Marx’schen „Verelendungstheorie“ spricht, ist immerhin verständlich; das haben schließlich auch viele getan, die sich als Marxisten betrachten — und manche tun es noch heute. Unverständlich ist hingegen, daß Haberler diese „Theorie“ hinauflizitiert zur „Behauptung, daß die Reallöhne in den kapitalistischen Ländern eine fallende säkuläre Tendenz haben“; dies ist eine „Behauptung“, von der er dann leicht erklären kann, daß sie „dem ins Gesicht schlägt, was jedermann von der Wirtschaftgeschichte weiß“.

Mit ungefähr dem gleichen Recht könnte man die These, wonach die Motorisierung die Verbreitung gewisser Krankheiten wie Herzinfarkt und Krebs fördert, zu einer „Sterblichkeitstheorie“ ernennen und sie dann zur „Behauptung“ hinauflizitieren, wonach „die Lebenserwartung in den motorisierten Ländern eine sinkende säkuläre Tendenz hat — was dem ins Gesicht schlägt, was jedermann von der Volksgesundheit weiß“.

Wenn Marx vom Elend sprach, von der Masse oder Akkumulation des Elends, von der „Lazarusschicht der Arbeiterklasse“ usw., dann meinte er die gesamte gesellschaftliche Lage dieser Schicht (von Unterbezahlten, Arbeitslosen, Ruinierten usw.), nicht einmal die Arbeiterklasse insgesamt und schon gar nicht die langfristige Entwicklung der Reallöhne. Auch sein Hinweis, in dem oben zitierten Absatz, wonach sich die (gesellschaftliche) Lage des Arbeiters angesichts der stürmischen Akkumulation des Reichtums der Kapitalistenklasse verschlechtere, „welches immer seine Bezahlung“, zeigt, daß es ihm um die relative gesellschaftliche (materielle, kulturelle usw.) Lage geht, nicht um die Reallöhne; so spricht er in einer seiner populären Schriften [14] davon, daß das Heim des Arbeiters „zur Hütte zusammenschrumpft“, wenn gleichzeitig der Palast des Reichen nebenan in die Höhe schießt.

Der anschließend von Prof. Haberler erbrachte Nachweis, daß fallende Reallöhne unvereinbar mit der (tatsächlich) von Marx postulierten tendenziellen Senkung der Profitrate seien, geht daher ins Leere. (Nebenbei widmet Marx den dieser Tendenz „entgegenwirkenden Ursachen“ ein ganzes Kapitel. [15] Auch hier behält die Dialektik die Oberhand gegenüber allfälligen „ehernen Gesetzen“.)

Theorie des Imperialismus

Es folgt ein kleiner Exkurs über die „Marxistische Theorie des ökonomischen Imperialismus“, wobei Prof. Haberler (diesmal verständlicherweise) nicht Marx selber, der ja das Problem gerade nur angetippt hatte, sondern Marxisten, wie Rudolf Hilferding, Rosa Luxemburg und W. I. Lenin, apostrophiert. Die von ihm gebotene Version ist allerdings bestenfalls die Luxemburg’sche: „Der Imperialismus, die Ausbeutung und Unterwerfung rückständiger Gebiete — Kolonien — durch die kapitalistischen Mächte, verleiht dem Kapitalismus eine neue — die letzte — Lebensfrist. Hätte der Kapitalismus nicht in ‚nicht-kapitalistische Räume‘ einzudringen vermocht, so wäre er längst zusammengebrochen ... Hiezu genügt es zu bemerken, daß Kolonialismus und Imperialismus verschwunden sind, daß es aber den früheren Kolonialmächten besser geht als je zuvor.“

Hiezu genügt es zu bemerken, daß nicht einmal die in dieser Sache extreme Rosa Luxemburg einer so grobschlächtigen „Zusammenbruchstheorie“ huldigte. Wir wollen zu dieser Travestie der marxistischen Imperialismustheorien nur bemerken, daß diese Theorien durchaus nicht an den Bestand von Kolonien gebunden sind (diese sind tatsächlich zum größten Teil verschwunden); imperialistische (darunter neo-kolonialistische) Herrschaftsformen und Ausbeutungsbeziehungen gibt es jedoch nach wie vor und sie bilden noch immer eine Quelle von vielfältigen Vorteilen und Privilegien für die einen, von Benachteiligungen und Substanzverlusten für die andern.

Kein vernünftiger Mensch wird deswegen behaupten, daß der Wohlstand Hollands, Frankreichs oder Englands primär auf der Ausbeutung auswärtiger Zinngruben und Erdölquellen beruht, oder der Reichtum Amerikas auf den Superprofiten der United Fruit.

Anderseits wird kein Wirtschaftshistoriker bestreiten, daß die Ausplünderung der Bodenschätze der unterentwickelten Gebiete den „take-off to self-sustained growth“ für die Kolonialmächte erleichtert und für die Kolonien wesentlich erschwert hat — diesen um so mehr, als damit die Forçierung einer höchst ungesunden Monokultur-Struktur sowie die künstliche und oft gewaltsame Konservierung halb-feudaler Institutionen usw. Hand in Hand ging und geht. [16]

Katastrophentheorie

Den letzten Teil seiner Kritik widmet Haberler der Marx’schen Krisentheorie. Marx „verkündete die Theorie, daß die Krisen im Kapitalismus zwangsläufig eine Tendenz ständiger Verschärfung aufweisen“. Einmütig seien heute alle Autoren in ihrer „Verwerfung der Marx’schen Theorie der Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus dank der immanenten Tendenz zur ständigen Verschärfung endogener zyklischer Depressionen“.

Es wäre interessant, von Prof. Haberler zu erfahren, wo Marx diese verwerfliche Theorie entwickelt hat. Im dritten Band des „Kapital“ lesen wir:

... periodisch macht sich der Konflikt der widerstreitenden Agentien in Krisen Luft. Die Krisen sind immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandnen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wieder herstellen ...

Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerm Maßstab entgegenstellen. Die wahre Schranke des Kapitals ist das Kapital selbst. Das Mittel — unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte — gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals.

Drei Haupttatsachen der kapitalistischen Produktion:

  1. Konzentration der Produktionsmittel in wenigen Händen.
  2. Organisation der Arbeit selbst, als gesellschaftlicher: durch Kooperation, Teilung der Arbeit und Verbindung der Arbeit mit der Naturwissenschaft.
    Nach beiden Seiten hebt die kapitalistische Produktionsweise das Privateigentum und die Privatarbeit auf, wenn auch in gegensätzlichen Formen.
  3. Herstellung des Weltmarkts.
    Die ungeheure Produktionskraft, im Verhältnis der Bevölkerung, die innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise sich entwickelt und ... der Kapitalwerte ..., die viel rascher wachsen als die Bevölkerung, widerspricht der, relativ zum wachsenden Reichtum, immer schmaler werdenden Basis, für die diese ungeheure Produktivkraft wirkt, und den Verwertungsverhältnissen dieses schwellenden Kapitals. Daher die Krisen. [17]

Im Bemühen, Prof. Haberler Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, haben wir ausnahmsweise etwas mehr zitiert, und zwar jene Schlüsselstellen im „Kapital“, die noch am ehesten seiner Behauptung entsprechen. Aber beim besten Willen läßt sich hier nur eine entfernte Ähnlichkeit feststellen.

Gewiß, alles in allem hatte Marx eine Vision von sich häufenden und konfliktschwangeren Widersprüchen, die sich in Krisen entladen würden. Aber das ist etwas ganz anderes als das pedantisch-fatalistische Bild von ständig sich verschärfenden Krisen, die unvermeidlich zum Zusammenbruch des Systems führen. Marx, Lenin und andere einigermaßen maßgebliche Vertreter des Marxismus haben eine solche mechanische Betrachtungsweise stets ironisiert und oft (wenn auch offenbar nicht oft genug) betont, daß es eine an sich ausweglose Situation für den Kapitalismus niemals geben, daß alles letztlich vom Kampf der Klassen usw. abhängen würde.

Als mildernden Umstand für Prof. Haberlers Mißverständnis könnte man ins Treffen führen, daß auch andere, vor allem auch Leute, die sich als Marxisten betrachten, einem solchen Mißverständnis aufgesessen sind. Aber dafür Marx die Schuld zu geben, wäre ebenso gerechtfertigt, wie etwa Sigmund Freud anzulasten, was in seinem Namen an Popularisierung und Vulgarisierung der Psychoanalyse angerichtet wird.

Offene Fragen

Natürlich bleiben eine Reihe wichtiger Fragen völlig offen. Nicht nur Teilfragen, wie die nach dem faktischen Verlauf der Profitraten oder der — auch bei weitherziger Auslegung — bemerkenswerten Steigerung der Reallöhne in weiten Bereichen der hochentwickelten kapitalistischen Industrieländer, sondern vor allem die Frage, wieso der Kapitalismus der jetzigen Nachkriegsära geradezu eine Phase der Regeneration und Expansion erleben konnte.

Die Marxisten haben in den letzten zehn Jahren versucht, sich darüber Rechenschaft zu geben. Elemente wie die neue wissenschaftlich-technische Revolution; das nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene neue Kräfteverhältnis der Klassen; der Wettbewerb der Systeme; der Aufbruch der ehemaligen Kolonialvölker; das Wettrüsten; der massive staatliche Interventionismus usw. wurden dabei in ihren vielfältigen und widerspruchsvollen Wirkungen und Wechselwirkungen in die konventionelle marxistische Analyse einbezogen — oft auch unter dem Einfluß jener „bürgerlichen“ Nationalökonomie, die von den Marxisten zu Unrecht, und allzu buchstabentreu einem Urteil von Marx folgend, als bloße Apologetik abgetan worden waren. [18]

Umgekehrt hat auch die akademische Nationalökonomie nicht wenige Inspirationen von Marx empfangen. Das gilt für die Ausarbeitung mancher Teilanalysen: die Keynesschen „wage units“ entstammen der Gedankenwelt der Klassiker der Arbeitswerttheorie; die modernen mehrsektoralen Wachstums- und Kreislaufanalysen ebenso wie die Harrod’sche Wachstumstheorie sind bereits weitgehend im zweiten Band des „Kapitals“ vorweggenommen; [19] viele Elemente moderner Beschäftigungs-, Krisen- und Stagnationstheorien gehen auf Marx zurück. Das gilt vor allem auch für den ganzen makro-ökonomischen „approach“, den Versuch zur Erfassung der Dynamik (der „Bewegungsgesetze“) des Systems, für die Betrachtung des gesellschaftlichen Lebensprozesses in seiner Gesamtheit und in der Wechselwirkung seiner Komponenten — ein wertvolles aber lang vernachlässigtes Marx’sches Erbe.

„Wäre Marx als ernstzunehmender Nationalökonom studiert worden“, meint Professor Joan Robinson, „statt einerseits als unfehlbares Orakel und anderseits als Zielscheibe billiger Epigramme behandelt zu werden, so würde das uns allen eine Menge Zeit erspart haben.“ [20]

[1„Marxian Economics in Retrospect and Prospect“, Zeitschrift für Nationalökonomie, Wien 1966, S. 69-82. Dem einleitenden Vermerk ist zu entnehmen, daß es sich um die revidierte Fassung eines Beitrags zu einer Konferenz der Stanford University vom Oktober 1964 handelt, der zusammen mit anderen Beiträgen in einem Sammelband unter dem Titel „Appeals and Paradoxes of Marxism“ bei Praeger, New York, erscheinen soll.

[2Natürlich dient als Grundeinheit eine Arbeitsstunde von durchschnittlicher Qualität und Intensität; es geht daher um „gesellschaftlich notwendige“ Arbeitszeit. Gesellschaftlich notwendig auch in dem Sinn, daß der Gebrauchswert bzw. der gesellschaftliche Bedarf (oder besser: der mit Kaufkraft ausgestattete Bedarf, die wirksame Nachfrage) als gegeben vorausgesetzt sind; Nachfragestruktur und -schwankungen bestimmen im klassischen, also auch im Marx’schen Schema die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit (den „input of labour“) auf die verschiedenen Produktionssphären, nicht aber den Wert.

[3Das eingesetzte Kapital ist nämlich von Firma zu Firma und Branche zu Branche verschieden „gemischt“, hat eine unterschiedliche „organische Zusammensetzung“, kombiniert lebendige Arbeitskraft und in Maschinen, Rohstoffen usw. kristallisierte Arbeitszeit in unterschiedlichen Proportionen.

[4Brief an Engels vom 2. August 1862; Band I des „Kapitals“ erschien 1867.

[5Paul M. Sweezy, The Theory of Capitalist Development, London, 1964, 2. Teil, Kap. VII. Vgl. auch Eduard März, Die Marx’sche Wirtschaftslehre im Widerstreit der Meinungen, Wien 1959, S. 83-94.

[6Hierzu siehe u.a. Sweezy, a.a.O., Maurice Dobb, Political Economy and Capitalism, London 1937, Kap. I-III, und Erich Roll, A History of Economic Thought, London 1938, Kap. VI.

[7Von 27 Fußnoten und Quellenangaben nehmen nur zwei auf Marx selbst Bezug: das eine Mal ist es ein Hinweis auf die „Ausgewählte Korrespondenz“, das andere Mal auf das „Manifest“.

[8„Bernstein und das Sozialdemokratische Programm“, Stuttgart 1899, S. 114.

[91. Band, 23. und 24. Kap.

[101. Band, 23. Kap.

[11Übrigens waren auch die gewiß tristen Zustände in Rußland um die Jahrhundertwende kein Anlaß für Lenin, sich einer Theorie der „absoluten Verelendung“ zu verschreiben. Zwar „halte ich es für unbedingt notwendig, auf ‚Armut und Elend der Massen‘ unter dem Kapitalismus hinzuweisen“, schrieb er in seinen „Bemerkungen zum zweiten Programmentwurf Plechanows“ für ein Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (1902); aber „ich schlage nicht vor, von einem absoluten Wachstum der Armut und des Elends zu sprechen“. Allerdings „teile ich durchaus Kautskys Ansicht, der sagt, ... ein ausführliches sozialdemokratisches Programm, welches nicht erkennen läßt, daß der Kapitalismus naturnotwendig Massenarmut und Massenelend erzeugt, das nicht als den Inhalt des Strebens der Sozialdemokratie den Kampf gegen diese Armut und dieses Elend bezeichnet, verschweigt die entscheidende Seite unserer Bewegung und enthält also eine empfindliche Lücke.“ W. I. Lenin, Werke, Band 6, Berlin 1956, S. 34.

[12Nicht von Marx stammt dieses Wort von den „dark satanic mills“, sondern von William Blake.

[13Zur „Verelendungstheorie“ siehe auch Eduard März, a.a.O., und Oskar Lange, Entwicklungstendenzen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft, Wien 1964, S. 110 ff.

[14„Lohnarbeit und Kapital“, IV. Abschnitt.

[15„Das Kapital“, 3. Band, 14. Kap.

[16Zum Imperialismus aus der Sicht zeitgenössischer marxistischer Ökonomen siehe u.a. Paul A. Baran, The Political Economy of Growth, New York 1957, und Michael Barratt Brown, After Imperialism, London 1963.

[173. Band, 15. Kapitel. Aber vielleicht hatte Prof. Haberler jene Stelle im 1. Band, 24. Kapitel, im Auge, wo es heißt: „Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Konzentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ Offenbar handelt es sich aber hier um einen andern Kontext. „Die Stunde schlägt“ nicht in einer zyklischen Krise oder Depression, sondern in einer Situation der allgemeinen Zuspitzung aller Widersprüche, deren Ausgangspunkt die Konzentration des Kapitals, die fortschreitende „Vergesellschaftung der Arbeit“ ist — ein säkularer Prozeß also, von dem die Depressionen nur ein Element sind. Anlaß zur revolutionären Transformation ist eine solche allgemeine Erschütterung, daß alle herkömmlichen Beziehungen in Frage gestellt sind; eine alle gesellschaftlichen Bereiche erfassende Krise des Systems, von dem die zyklische Krise ein Element sein kann, aber nicht sein muß.

[18Dazu gehört natürlich auch der Autor dieser Zeilen. „Die Marxisten“, sagt Joan Robinson mit Recht, „waren in ihrer Weigerung, von jenen zu lernen, deren politische Ansichten sie nicht mochten, genau so schlimm wie die orthodoxen Nationalökonomen.“ („Über Keynes hinaus“, Wien 1962, S. 18.)

[19„Mr. Harrod war etwas frappiert, als ich ihn auf die Tatsache aufmerksam machte, daß seine Theorie im 2. Band des ‚Kapitals‘ zu finden ist ... Aber nach dem ersten Schock sah er ein, wie recht ich hatte.“ (Joan Robinson, On Re-reading Marx, Cambridge 1953, S. 17.)

[20Joan Robinson, Über Keynes hinaus, S. 17 f.

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