FORVM, No. 448-450
Mai
1991

Kritische Politologie und politische Triebtheorie

Zwei wiederaufgelegte Grundlagentexte der ersten APO* in der Bundesrepublik Deutschland

1987 brachte der Freiburger Ça ira-Verlag ein Reprint von Frank Böckelmanns im März 1966 erstmals veröffentlichtem Essay über „Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit“, [1] im Frühjahr 1990, beinahe auf den Tag seiner Emeritierung, Johannes Agnolis 1967 im Rahmen eines gemeinsamen Projekts mit Peter Brückner veröffentlichte Habilschrift über „Die Transformation der Demokratie“ zusammen mit anderen Schriften zur „Kritik der Politik“ heraus. [2]

Damals, 1966, bedeutete Böckelmanns in Anknüpfung an Herbert Marcuse vollzogene „Aufhebung der autoritären Persönlichkeit“ nicht mehr und nicht weniger als den theoretischen Schlußstrich unter jene autoritäre Struktur, gegen die die antiautoritäre Bewegung soeben erst Front zu machen begann. Was „Die Transformation der Demokratie“ betrifft, so avançierte sie sehr bald — woran ich mich noch gut erinnern kann — zur „Bibel der APO“, [3] der die letztere nicht nur die Kategorien zur Einordnung und Benennung ihrer Erfahrungen mit dem Staat entnahm; diese Kategorien trafen vielmehr so sehr den Punkt des von den Studenten erst durch endlose Provokationen und erhebliches Nachdenken zutage geförderten staatlichen Verhaltens, daß Agnolis Buch in einer Rezension als ein „wichtiges Produkt der Studentenbewegung“ [4] bezeichnet wurde — durchaus logisch, wenn auch unzutreffend, zumal Agnoli sich, seiner eigenen Darstellung zufolge, bereits „Ende Februar 1965“ mit den Vorarbeiten zu seinem Buch beschäftigt und noch im selben Jahr den „Rohentwurf“ [5] veröffentlicht hatte.

Man kann sich über den futuristischen Charakter dieser theoretischen Entwürfe nur wundern, die bereits wesentliche Erkenntnisse der Studentenbewegung vorweggenommen haben und mehr als zwanzig Jahre später noch nicht veraltet sind. Gleichwohl wird man heute eher den Webfehler suchen, stehen mit der Sozialpsychologie, wie sie die Frankfurter Schule elaboriert hat, und der marxistischen Politologie Agnolis doch zwei Säulenheilige der ersten linksradikalen Bewegung im nachfaschistischen Deutschland zur Debatte, der Linksradikalismus aber ist tot.

Wer etwa den Verdacht hegt, daß die Studentenbewegung sich der europaweiten Liquidierung des Sozialismus trotz des von ihr entfesselten Klamauks nicht nur nicht entgegenstemmen konnte, sondern an dieser Entwicklung möglicherweise sogar einen erheblichen Anteil hatte, wird sich mit diesen beiden Werken, welche die Errungenschaften und Irrtümer der APO spiegeln, gerne auseinandersetzen müssen.

1.

Böckelmann knüpft an die im letzten Jahr vom Klampen Verlag neu herausgegebenen „Studien zur autoritären Persönlikkeit“ von Adorno u.a. an, [6] die als der entscheidende Beitrag der Sozialpsychologie in die Geschichte der Faschismusforschung eingegangen sind. In empirischen Untersuchungen arbeiteten die Mitglieder des in die USA emigrierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung das Bild der autoritären, vorurteilsvollen, „faschistoiden“ Persönlichkeit heraus, wie sie in der „kleinbürgerlichen Familie von Lohnabhängigen“, [7] den von Agnoli später sogenannten „Zwischenschichten“, [8] gedeiht. So groß war in der Folge die Begeisterung über die unerwartete politische „Fruchtbarkeit“ des sozialpsychologischen „Ansatzes“, [9] daß das Befremden angesichts der psychologischen Eloquenz gegenüber einem Phänomen, das doch alle psychische Verhältnismäßigkeit sprengt, ausblieb. Dabei spiegelt diese Eloquenz sicherlich eine höchst fragwürdige Entwicklung der Theorie, die keineswegs damit zureichend charakterisiert ist, daß man sie als „Aufhebung der wissenschaftlichen Arbeitsteilung“ [10] durch die kritische Sozialpsychologie feiert. Immerhin wird seit der bahnbrechenden Untersuchung über die „Authoritarian Personality“ unter dem „klassischen faschistoiden Syndrom“ [11] ein psychologisches Syndrom verstanden, und selbst wenn dieses Syndrom lediglich über die Tatsache Auskunft geben sollte, warum im Faschismus Menschen in großer Zahl für Zwecke gewonnen wurden, die nicht in ihrem Interesse liegen konnten, so interpretiert es diese Tatsache eben doch in einer Weise, die das politische Subjekt eindeutig psychologisch definiert. Damit wird das letztere nicht nur in seiner politischen Ohnmacht, sondern auch in seiner wissenschaftlichen Fremdbestimmung fixiert. Aus dieser Sackgasse — nicht nur für das so deklassierte und klassifizierte Subjekt, sondern auch für die unversehens um ihren politischen Zweck gebrachte Theorie — führt nichts heraus.

2.

Von da an ging der Weg nur immer weiter auseinander. Als Freud an der Schnittstelle zwischen dem 19. und dem 20.Jahrhundert den ödipalen Charakter schuf, zeichnete er einen ebenso unbändig triebhaften wie zu unerhörten Verzichtleistungen befähigten Typus nach, der sowohl die sprunghafte ökonomische Entwicklung des 19. Jahrhunderts als auch die durch diese Entwicklung bewirkte radikale Entfremdung psychologisch nachvollziehbar machen konnte. Als die Psychoanalytiker in größerem Umfang Patienten am Leitfaden des ödipalen Modells zu analysieren begannen, hatte sich das Blatt bereits gewendet. Nicht nur hatte die Beherrschbarkeit des Kapitals sich als eine krankmachende Fiktion erwiesen. Mehr und mehr kehrte das Kapital auch seine eigene Therapieseite, das heißt seine Konsum- und Schauseite, seine Vergesellschaftungs- und Kommunikationsseite heraus, die die Beherrschten mit ihrem Leiden auf ganz eigene Weise fertig werden ließ: indem sie es zugleich radikalisierten und vergaßen. Die Menschen, die heute in die Praxen der Therapeuten strömen, lassen den unbändigen Trieb ganz ebenso wie die Fähigkeit zum Verzicht vermissen. Sie sind nicht eigentlich krank, sondern traurig, und sie wollen auch nicht kritisiert, sondern getröstet werden. In einer unheimlichen Weise hat sich alles „zum Guten“ gewendet.

1965 sieht Böckelmann bereits, daß das Modell der autoritären Persönlichkeit historisch abgewirtschaftet hat. Schließlich, wie soll man sich auf Triebunterdrückung beziehen, wenn es offensichtlich keine ernstzunehmende Triebunterdrückung mehr gibt? Und wie soll mit Ichschwäche, in der kritischen Theorie die Voraussetzung für den hypertrophierten Staat, argumentiert werden, wenn diese Ichschwäche nicht mehr verheimlicht, verleugnet, kompensiert und „überkompensiert“ werden muß, sondern zur förmlichen Voraussetzung, zum regelrechten Kitt der Gesellschaft avançiert ist?

Diese Entwicklung, zeigt Böckelmann, hat mit Befreiung nichts zu tun. Nur leider hat sie auch mit der Befreiung der Theorie nichts zu tun. In einer genialen Formulierung definiert er die Psychoanalyse zwar als die „Lehre von den Konsequenzen des Triebverzichts“, [12] zieht aber keineswegs den Schluß, daß das Ende des Triebverzichts auch eine grundlegende Revision der Psychoanalyse, im Grunde ihre Rückübersetzung in Gesellschaftstheorie nach sich ziehen müsse. Vielmehr tritt bei ihm lediglich ein neuer Persönlichkeitstypus auf den Plan, der in der Literatur allgemein als „narzißtischer Typus“ Karriere gemacht hat: ein ichschwacher, warenhungriger, selber warenförmiger Typus, der, nur oberflächlich strukturiert — dafür in der „Tiefe“ gestört —, wenig triebhaft im Grunde (so daß es wenig zu verzichten gibt), von einer ständigen Frustration als sozialem Antrieb lebt und allenfalls durch einen aufgezwungenen Konsumverzicht, vergleichbar früherem Triebverzicht, ernsthaft in die Klemme käme bzw. zur Revolte getrieben werden könnte, Böckelmann hat diesen Typus, der sich in den letzten zwanzig Jahren noch gewaltig vervollkommnet hat, bereits 1965 eindringlich beschrieben: „Wie wir sehen, führt die Aufhebung der Triebkontrolle und Verdrängung in einer narkotisierten Gesellschaft nicht zur glückhaften Emanzipierung der Sexualität“, konstatiert er. „Auf Kosten der Identität, auf Kosten einer bewußten, kritischen und aktiven Haltung gegenüber der Realität, auf Kosten einer zu sich selbst kommenden Sexualität werden uneingeschränkte Triebbefriedigung gewährt und die lähmenden Kontrollen des Gewissens und der Gesellschaft entfernt. Dies meint die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit.“ [13]

3.

Von hier führen tausend Wege zu Agnolis „Transformation der Demokratie“. Wollte man den naheliegendsten beschreiten und zugleich die Sackgasse der Psychologisierung vermeiden, dann könnte man sich an die Analogie halten und sagen: Böckelmann handelt von der „schlechten Aufhebung der autoritären Persönlichkeit“, Agnoli von der schlechten Aufhebung des autoritären Staats. Tatsächlich gibt es wohl kaum eine knappere und zugleich einleuchtendere Umschreibung dessen, was Agnoli unter der Staatsform der pluralistischen Gesellschaft, der parlamentariıschen Demokratie, versteht: einen Staat, in dem das Befehlen, aber nicht das Gehorchen aufgehört hat, der zwar die Hierarchie ab-, aber die Gleichschaltung durchgesetzt hat und der — dies gleichsam der Tribut an die Wahrheit der Nichtveränderung — nicht einmal die formalen Errungenschaften des Verfassungsstaats zu erhalten geschweige denn fortzuentwickeln vermag, vielmehr das alte Elend, man könnte auch sagen: die alte Wahrheit sich wiederherstellen läßt: Involution, sagt Agnoli, aktive Rückentwicklung, hat statt.

Man könnte jetzt APO spielen und die Befunde Böckelmanns und Agnolis ins System zu bringen suchen: hie autoritärer Staat, hie ödipaler Charakter, hie pluralistische Gesellschaft, hie narzißtischer Typus. Greift eins nicht nahtlos in das andere? Und ist als vermittelnder Dritter, zugleich objektiver und subjektiver Ausdruck der Gesellschaft, die Zirkulationssphäre nicht längst ausgemacht? Agnoli selbst sagt, wenn die „Proletarietät“ (Barzel) abgeschafft sei und die „Massen ... von der Befreiung auf die Befriedung und Befriedigung ... zurückgebracht“ wären, dann sei der „Kapitalismus stabilisiert und gesichert“. [14] Die „Orientierung des gesellschaftlichen Bewußtseins an der Distribution“, [15] „Konsumlusterweckung und optimale Lustbefriedigung“ gehörten gleichsam als Ausgleich für die ungeheuerliche Entmachtung auf der politischen Ebene „zum Programm“. [16]

Ich will das System hier nicht weiter ausspinnen, zumal in der Nachfolge der Kritischen Theorie tatsächlich jahrelang nichts anderes getan worden ist; der Begriff des Verblendungszusammenhangs bringt auch noch die vergleichsweise späten Versuche Böckelmanns und Agnolis auf den Punkt. Dabei geht selbst bei Agnolis eher anarchistisch eingefärbten Analysen, die — dies sein „italienisches“ Moment — wie immer ephemer noch ein revolutionäres Subjekt in petto haben, die Entlarvung der pluralistischen Gesellschaft mit der Herstellung eines nur noch zu entlarvenden, nicht mehr aufzubrechenden Verblendungszusammenhangs Hand in Hand.

Offensichtlich droht der politologischen eine vergleichbare Gefahr wie der sozialpsychologischen Analyse. Das mag auf den ersten Blick befremden, scheint die Politologie, wenn sie den Staat kritisiert, doch unmittelbar bei ihrem Thema, das Thema wiederum unmittelbar bei seiner Theorie zu sein. Woher die Kalamität rührt, darüber belehrt uns ausgerechnet die als Konvergenzpunkt psychologischer und politologischer Tatbestände ausgemachte Zirkulation. Einerseits beantwortet sie die Frage, warum Menschen sich ohne Gewalt beherrschen lassen, in einer geradezu selbstgenügsamen, die Triebstruktur des einzelnen mit der ökonomischen Struktur der Gesellschaft hermetisch verklammernden Form. Andererseits bringt sie natürlich die Frage nach ihrer eigenen ökonomischen Verankerung aufs Tapet, ist sie dem von ihr erzeugten „Verblendungszusammenhang“ zum Trotz ja keineswegs ein pars pro toto, ein zureichender Repräsentant, der Ökonomie. Die Ökonomie aber auszuklammern, die Reproduktion — zum Beispiel, weil sie als der Angelpunkt marxistischer Theorie in den ehemaligen Ostblockländern sich hoffnungslos diskreditiert oder weil sie in den hochkapitalistischen Ländern ihre bewußtseinsbildende Funktion verloren oder weil sie in der Politologie, der Analyse der politischen Institutionen, nichts zu suchen habe —, führt einerseits zur Überschätzung der herrschaftsverwaltenden Institutionen und andererseits zur Entmächtigung und Entmündigung der Menschen, die ihren unveräußerlichen Subjektstatus ja nicht allerlei Kommunikations- oder politischen Absichten verdanken, sondern der Notwendigkeit ihrer Reproduktion. Der Effekt ist paradox:

Je deutlicher die Analyse, desto mysteriöser ihr Resultat, führt sie doch Objekte, die um ihre wesentliche Reproduktionsseite und damit um ihren natürlichen Subjektausdruck gebracht sind, im Bannkreis von Herrschaftsapparaten vor, die ihrerseits wiederum um ihre ökonomische Motivation gekürzt sind. In seinem zwanzig Jahre später formulierten Vorwort zum Reprint gesteht Böckelmann denn auch halb ironisch ein, daß in der Folgezeit ihm „und anderen der Begriff der einen, ganzen Gesellschaft und damit das Großobjekt der Revolutionierung ... abhanden kam“. [17]

Agnolis politologische Analyse rückt den Menschen zwar nicht so dicht auf den Leib, daß sie sie quasi von innen heraus zum Objekt machen könnte. Zudem ist, wie gesagt, der anarchistische Gedanke, daß die bestehende Ordnung keineswegs nur zu analysieren, sondern zu stören sei, bei ihm ganz unzweideutig präsent. Dennoch ist der Unterschied nicht so groß, wie man erwarten könnte. Ein auch noch so emphatischer Begriff des Nichtmitmachens — Synonym der modernen radikalen Verweigerungsstrategie — kann einen zureichenden Begriff des Machens nicht ersetzen. Daß Menschen die Kooperation mit den staatlichen Institutionen ablehnen müssen, und zwar aus Gründen, die in ihrer Konstitution als sich Reproduzierende liegen, das macht sie zu revolutionären Subjekten, und nicht eine ihnen — sei’s auf dem Wege der Erkenntnis, sei’s irgend spontan, als Lebensgefühl — vermittelte Motivation. Letztere tendiert denn auch unvermeidlich dazu, sich zu verselbständigen. Das „Leitmotiv aller Überlegungen“ damals, 1965, sagt Böckelmann im Rückblick, sei die „Frage gewesen, ob der praktische Begriff der Totalität der Gesellschaft noch zu retten sei“. [18] Wenn erst die Theorie über die Wirklichkeit zu entscheiden hat, ist der Kampf schon verloren. 1965 hatte Böckelmann denn auch ehrlicherweise zugegeben, daß die Theorie nicht mehr der Bündnispartner, sondern bestenfalls der Platzhalter, realistischer-, um nicht zu unterstellen: wünschenswerterweise der Nachfolger der revolutionären Praxis sei. „Die kritische Theorie hat vor allem die Aufgabe zu überleben.“ [19] Derweil die Praxis sich reorganisieren soll? Gewiß. Aber worauf könnte die Theorie unterdessen Bezug nehmen? Auf das elitäre Bewußtsein derer, die es besser wissen?

4.

Agnoli, der sowohl die italienischen Anarchisten als auch die Kapitalinteressen im Kopf hat, weiß natürlich, daß „selbst das Wohlergehen der Bürger, das Gemeinwohl, nicht Zweck ist, sondern Mittel: zum Behufe der Reproduktion der Produktionsweise, der Herrschaftsstrukturen und der Verteilungsmodalitäten und -quantitäten ... Gemeinwohl, Sozialstaat und ‚paritätische Verhältnisse‘ hören auf, wenn ihre Kosten die Akkumulationsrate gefährden. Da reißt der Geduldsfaden des Kapitals.“ [20] Um so erstaunlicher und aufklärungsbedürftiger ist, daß — so wie bei Böckelmann die Sozialpsychologie — bei Agnoli die Politologie dazu tendiert, die Ökonomie zu substituieren. Krankt die erstere wie alle aus der Psychoanalyse herkommenden Theorien daran, daß sie als eine Theorie des wesentlichen (Trieb-) Grunds eine eminente Konkurrenz gerade zur Ökonomie darstellt, so die Politologie eher am Problem ihrer Eigenständigkeit, deutlicher, am Verdacht ihrer Überflüssigkeit. In seinem nicht nur einen Kongreß der Politologen, sondern auch sein Buch einleitenden Vortrag „Von der politischen Wissenschaft zur Kritik der Politik“, [21] den man zum Grundlagentext für jeden Politologiestudenten erklären könnte, zeigt Agnoli das praktische Dilemma der Politologie auf: daß sie im besten Fall, als „kritische Politologie“, sich „in das bekannte Spiel von pro und contra ein(klemmt) und ... sich also — ihrem Anspruch gemäß — auf die Suche nach den guten und schlechen Seiten der bürgerlichen Staatsinstitutionen (begibt)“ [22] und von diesem Ausgangspunkt aus zwangsläufig in der Sackgasse jeder liberalen Theorie endet, daß ihr nämlich der „Schutz der Norm“ wichtiger wird als die „Veränderung der Wirklichkeit“. [23] Leider wird die Darstellung des praktischen Dilemmas, in dem die Politologie sich befindet, nicht durch die ihres theoretischen Dilemmas komplettiert. Und dies nicht ohne guten Grund, könnte der Verzicht auf das gewohnte „Pro und Contra“ doch nur bedeuten, daß die Politik zugunsten der dialektisch verfaßten Ökonomie tatsächlich verlassen, die Politikwissenschaft also durch politische Ökonomie ersetzt würde. Das klingt so, als würde der Politologie die Existenzberechtigung abgesprochen. Und genauso ist es auch. Dabei gilt für sie nur, was für alle bürgerliche Wissenschaft gilt: daß sie, will sie nicht bloß interessierte, partikulare Äußerung sein, sich anders zentrieren und anstatt auf den ständig von untergründiger Panik begleiteten Nachweis ihrer Existenzberechtigung auf den ebenso geduldig zu führenden Nachweis des Gegenteils sich verlegen, das heißt von der „Kritik der Politik“ zu einer den Gegenstand der Politologie samt ihrer selbst in Frage stellenden Kritik des Politischen übergehen muß.

Zeichnung von O.R. Schatz, Buchdeckel zu Upton Sinclair, Co-op
Zürich-Prag-Wien, Büchergilde Gutenberg o.J. (1937). Farbprägung auf Leinwand. Vgl. Daim, vorne S. 13 f.

Bei Agnoli kann man studieren, was passiert, wenn selbst unter einem bloß taktischen Gesichtspunkt der marxistische Politologe als Politologe operiert. Es ist eben nicht bloß eine Frage des Aspekts, ob man die Funktionalität der politischen Einrichtungen für die Kapitalinteressen oder ihren „Zwangscharakter“ [24] im Hinblick auf ein angenommenes Selbstbestimmungsrecht untersucht. Agnoli hat, wie gesagt, noch ein anarchistisches Subjekt in petto, das als ein zugleich eminent politisches und extrem staatsfeindliches Subjekt eine vollständige Darstellung der gesellschaftlichen Gegensätze suggeriert, wo in Wirklichkeit die Reproduktionsanalyse fehlt. Nicht zufällig hat Agnoli — und das zeigt ja auch die Haltbarkeit seiner Analyse — in den damals noch gar nicht recht existenten Grünen den eigentlichen Gegenstand der Kritik gefunden. Nachzuweisen, daß nicht nur die „Institutionen mächtiger sind als der Wille der Grünen, sie alternativ zu gebrauchen“, [25] sondern daß auch sie, die Grünen selbst, in dem Moment, wo sie ihre Basisorientierung aufgeben und sich in diese Struktur einfügen, zu Kollaborateuren werden, ist eine Tätigkeit, bei der er sozusagen zu Hause ist. Hier ist er souverän. Wo er dagegen kraft seiner Definition als Politologe nicht souverän ist, das ist die transzendentale Bestimmung, die Grenzbestimmung der politischen Institutionen selbst. Diese sind ja allein dadurch, daß sie ihren politischen Anspruch, die Verwaltung des Gemeinwohls, nicht einlösen, noch nicht um allen Bestimmungsgrund gebracht. Darf — aus welchen Gründen auch immer, Gründen der Erhaltung der politologischen Disziplin vermutlich — dieser Bestimmungsgrund nicht in einem fundamental anderen, nämlich ökonomisch begründeten Interesse gesucht werden, so macht eine merkwürdige Dynamik in der Zweck-Mittel-Relation sich bemerkbar. Herrschaft avançiert zu ihrem eigenen Zweck. Nach der Seite des Motivs aber hängt die zum Zweck avançierte Herrschaft in der Luft. Von jeder „Fremdbestimmung“ befreit, erscheint sie dennoch ungreifbar, diffus. In seiner Darstellung des Parlaments verklammert Agnoli denn auch „Fiktion“ mit einer „sehr realen Machtfunktion“. [26] Was das Parlament als Volksvertretungsorgan angehe, so sei es durch einen „fiktiven Stellenwert charakterisiert“, [27] was nicht heiße, daß die eigentlichen Träger der Herrschaft es ohne weiteres entbehren könnten. Im Gegenteil, „eine unmündige Gesellschaft braucht symbolische Einrichtungen, die über keine effektive Macht verfügen, im Machtsystem jedoch spezifische Aufgaben erfüllen — ohne die also ein Machtsystem brüchig werden könnte. In Westdeutschland ist z.B. der Bundespräsident ein Herrschaftsorgan, dessen Integrationswirkung aus der zweifachen Fiktion entsteht, die Spitze des Staates darzustellen und überparteilich zu sein.“ [28]

Böckelmann hebt in seinem Rückblick ohne Umschweife den Realitätsverlust seiner Kategorien hervor. „Diffusion“, „Mehrdeutigkeit“, „Indifferenz“ [29] seien die zentralen Begriffe zur Beschreibung jenes Herrschaftsapparats gewesen, der offensichtlich und gegen alle Prognosen ohne Triebunterdrückung existieren konnte. „Wo bestimmte Herrschaftsverhältnisse (letztlich der ‚späte‘ Kapitalismus insgesamt) und Kontrollstrukturen trotz der Zersetzung ihrer historischen Ursachen und Existenzbedingungen fortdauerten, sprach ich von Verselbständigung. In ihr sah ich aber nur ein retardierendes Moment. Da ist die Rede von einem ‚Trägheitseffekt‘ (aufgrund einer ‚Blindheit gegenüber dem objektiven Prozeß‘), von einer ‚immer gründlicheren Abschleifung der alten Hemmungen, Tabus und ideologisch ethischen Dogmen‘ und von deren ‚zunehmender Unwirksamkeit‘. Nichts Neues tritt an die Stelle des Alten; so kommt es zu einem ‚unendlichen Teilungsprozeß‘.“ [30]

5.

Hier scheint mir ein kritischer Punkt erreicht. Zwar wäre eine Analyse, die den Scheincharakter der parlamentarischen Institutionen nicht zur Kenntnis nähme, zur Ohnmacht, ja zur Lächerlichkeit verurteilt. Aber nicht besser erginge es einer Kritik, die, als „kritische Kritik“, vom Scheincharakter der parlamentarischen Institutionen auf ihre Entbehrlichkeit schlösse. Agnoli ist nicht nur gegen die erstere der beiden Versuchungen gefeit. Er versucht auch die Fallstricke der letzteren zu vermeiden. Aus der Tatsache, daß das Parlament zur Vermittlung des politischen Willens von unten nach oben nicht taugt, folgert er keineswegs, daß es nicht im umgekehrten Prozeß eine hervorragende Stellung einnimmt. Im Gegenteil: „Die parlamentarische Bekundung schließt den von oben nach unten gehenden Willensprozeß ab,“ [31] Ist es das allgemeine Interesse Agnolis, Demokratie, Herrschaft des Volkes, so wie sie in den hochindustrialisierten Ländern real existiert, als die moderne, zeitgemäße Form der Herrschaft über das Volk kenntlich zu machen, so sein besonderes Interesse, die ohnmächtigen Institutionen der Volkssouveränität in ihrer konkreten Machtfunktion als — um das berühmt gewordene Wort einmal zu gebrauchen — „Transmissionsriemen“ zur Durchsetzung des Interesses der herrschenden Vielen gegenüber den beherrschten Wenigen zu rehabilitieren und so die bereits im 19. Jahrhundert aufgeworfene Frage, warum „die zur Teilhabe an der Politik zugelassene Volksmehrheit, die gewiß nicht der Klasse der Besitzenden angehört“, nicht über eine „entsprechende Majorisierung des Parlaments die Regierung ... stellen und auf diesem Wege, wie Engels es erhoffte, die sozialen Machtverhältnisse zu ihren Gunsten ... verkehren“ kann, in einer zeitgemäßen Form zu beantworten.“ [32]

Im Grunde ist also schwer einzusehen, worin trotz allem die oben behauptete Verkürzung von Agnolis Konstruktion besteht. Tatsächlich ist es keine Frage der theoretischen Prämissen. Diese definieren den Staat als durchaus „kein selbständiges, sondern ein heteronomes Institut und gebunden an den Zweck, die Eigentumsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern und mit der kapitalistischen Produktionsweise die soziale Macht der besitzenden Klasse zu garantieren“. [33] Gleichwohl ist es nicht bloß ein praktisches oder taktisches Problem, ob etwa, im Eifer des Bestrebens, „die politische Praxis der herrschenden Klasse zu analysieren“, [34] die ökonomischen Bedingungen im Auge behalten werden oder aber Politik und Herrschaft gelegentlich zu verselbständigten Größen avançieren. Vielmehr ist es eine Frage des Interesses und Verfahrens: Beschäftige ich mich mit der tagtäglich sich ereignenden Verwandlung von Ökonomie in Politik — indem ich entweder die Ökonomie in die Politik hinein „verlängere“ oder die Politik in Ökonomie „zurückübersetze“ —, oder gilt mein Interesse letztendlich doch der Politik? Ist das letztere der Fall, dann ist allein damit, daß ich mich systemkritisch mit dem „Funktionieren der Norm“ und nicht bürgerlich-radikal mit dem jeweiligen „Skandal der ‚Abweichung‘“ [35] befasse, der Verlust an Ökonomie keineswegs kompensiert. Und daran kann auch die aufrechte Absicht, nämlich die „Bedingungen einer auf die Abschaffung des Staats gerichteten Opposition zu formulieren“, [36] nichts ändern. Der Unterschied ist vielmehr prinzipiell: Wird die Rekonstruktion durch die Funktionsanalyse, die Ätiologie durch die strukturelle Analyse ersetzt, dann werden die Begriffe diffus, und zwar nicht, weil die Realität selbst diffus ist — und die Begriffe damit angebracht wären —, sondern weil sie der politischen Verschleierung der ökonomischen Interessen keinen Widerstand entgegensetzen. Dieser Mangel an theoretischem Widerstand — der sich tatsächlich nur in einem zur politischen Ebene insgesamt querliegenden Rekonstruktionsinteresse äußern könnte — aber wird praktisch mit einer Verdoppelung der herrschenden Realität bezahlt.

Dabei geht es natürlich nicht um heimliche Kollaboration oder dergleichen, sondern um den Verlust der theoretischen Verfügung über eine Wirklichkeit, die prompt für praktischen Widerstand kaum mehr als die punktuelle „Sponti“-Aktion, die isolierte Verzweiflungstat übrigläßt. Wenn Agnoli etwa feststellt, es stehe „außer Zweifel“, daß die „staatliche Ordnung sich stabilisiert, wenn die Klassenspaltung aus dem Bewußtsein der Betroffenen schwindet“, [37] dann ist diese Feststellung für die postfaschistische Bundesrepublik zwar fast soviel wie ein Aufruf zur Gewalt; gleichwohl ist es eine resignative Feststellung, die sich der herrschenden Version von der Wirklichkeit mimetisch angleicht und faktisch unterwirft. Prompt nimmt der Leser, beschäftigt mit der manifesten Ketzerei, die die Erwähnung des Wortes „Klassenspaltung“, zumal der politischen Funktion ihrer „Aufhebung“, in der BRD bedeutet, die aufs Aktuelle gemünzte Bestimmung für ein politisches Existential und „vergißt“ beispielsweise, daß der Staat seine Stabilität lange genug gerade der offenen Klassenspaltung verdankt hat und diese Stabilisierungsfunktion bei einem Wiederaufleben des Klassenkampfs jederzeit wieder übernehmen könnte. Womöglich hält er auch das bewußtseinsmäßige Verschwinden der Klassenspaltung für eine zu Angst und Bewunderung Anlaß gebende Leistung der politischen Instanzen und nicht für einen seiner vermeintlichen Ingeniosität zum Trotz gar nicht zu verfehlenden Reflex der relativen Eingliederung des traditionellen Klassenfeinds ins Ausbeutungssystem selbst mit allen bekannten komplementären Mechanismen des Exports der Ausbeutung, neuer Marginalisierungen usw. Schließlich — und da sind wir erneut bei Böckelmann und der politischen Triebtheorie angelangt — steht er ohnmächtig vor der Ohnmacht der „Betroffenen“, zumal er die Klassenspaltung im „Bewußtsein“ hat und sich ihnen daher teils grenzenlos entfremdet, teils von ihrem Schicksal — das, sobald er nur das „Bewußtsein“ verliert, sein eigenes wäre — „diffus“ bedroht fühlen muß. Kurzum, anstatt daß er mit Hilfe des von der kritischen Politologie gelieferten Instrumentariums in die politischen Verhältnisse Ordnung bringen könnte, schlagen diese erneut über ihm zusammen.

* Außerparlamentarische Opposition

[1Frank Böckelmann, Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit. Herausgegeben vom Archiv für soziale Bewegungen in Baden. Mit einem Vorwort des Autors zur Neuauflage. Freiburg 1987

[2Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik. Freiburg 1990

[3Agnoli, S. 193

[4Vgl. Agnoli, S. 169

[5Ebd., S. 171

[6Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse u.a., Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1987

[7Böckelmann, S. 17

[8Agnoli, S. 220

[9Böckelmann, S. 16

[10Ebd.

[11Ebd.

[12Ebd., S. 15

[13Ebd., S. 58

[14Agnoli, S. 35

[15Ebd., S. 37

[16Ebd., S. 36

[17Böckelmann, S. 9

[18Ebd., S. 17

[19Ebd., S. 78

[20Agnoli, S. 199

[21Agnoli, S. 11-20

[22Ebd., S. 15

[23Ebd., S. 16

[24Ebd., S. 20

[25Ebd., S. 192

[26Ebd., S. 77

[27Ebd., S. 66

[28Ebd.

[29Böckelmann, S. 7

[30Ebd., S. 7/8

[31Agnoli, S. 75

[32Gisbert Lepper, Ernüchterndes über den Rechtsstaat. Zu Johannes Agnolis „Die Transformation der Demokratie“. In: diskus, Frankfurter StudentInnenzeitung, Nr. 2, Mai 1990, S. 14/15

[33Ebd.

[34Ebd.

[35Ebd.

[36Ebd.

[37Agnolı, S. 60

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